Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Virchow“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 16 (1890), Seite 223224
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Virchow. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 16, Seite 223–224. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Virchow (Version vom 01.10.2021)

[223] Virchow, Rudolf, Mediziner und Anthropolog, geb. 13. Okt. 1821 zu Schivelbein in Pommern, studierte zu Berlin, ward 1843 Unterarzt und 1846 Prosektor an der Charitee und begründete 1847 mit Reinhardt das „Archiv für pathologische Anatomie und Physiologie und für klinische Medizin“, welches er nach Reinhardts Tod (1852) allein fortführte. Gleichzeitig begann er Vorlesungen über pathologische Anatomie, habilitierte sich 1847 an der Universität und wurde 1848 von der Regierung nach Oberschlesien geschickt, um die Hungertyphusepidemie zu beobachten („Mitteilungen über den oberschlesischen Typhus“, Berl. 1848). 1848 und 1849 gab er mit Leubuscher eine Wochenschrift, „Die medizinische Reform“, heraus; auch beteiligte er sich lebhaft an den politischen Bestrebungen der Zeit, ward deshalb 1849 von der Regierung seiner Stelle enthoben und nur auf Widerruf wieder angestellt. In seinen „Einheitsbestrebungen in der wissenschaftlichen Medizin“ (Berl. 1849) legte er seine wissenschaftlichen Tendenzen dar, und als er 1849 einem Ruf als Professor der pathologischen Anatomie nach Würzburg folgte, zählte er bald zu den hervorragendsten Lehrern der sogen. Würzburger Schule. 1856 kehrte er als ordentlicher Professor an die Berliner Universität zurück und schuf in dem damals neu begründeten pathologischen Institut eine Musteranstalt und einen Mittelpunkt für selbständige Forschungen zahlreicher jüngerer Gelehrten. Seine großartigste Leistung ist die Begründung der Cellularpathologie (s. d.); aber so zahlreich sind seine eignen Forschungen und Entdeckungen, daß die heutige pathologische Anatomie in fast allen ihren Teilen ihm wesentlich mit ihre Gestaltung verdankt. Die Lehren von der Entzündung, von den pathologischen Neubildungen (Geschwülsten), von der Embolie und Metastase, von der Tuberkulose, der Pyämie, der Leukämie (Leukocythose), der fettigen und amyloiden Entartung, der Diphtheritis etc. sind von ihm neu begründet oder wesentlich gefördert worden, und sind auch durch spätere Forscher manche seiner Anschauungen modifiziert und neue Gesichtspunkte geschaffen, so basieren sie doch meist auf den von ihm gelegten Fundamenten. Aber nicht nur auf die Pathologie, sondern auf die ganze heutige Medizin hat niemand einen so mächtigen Einfluß ausgeübt wie V., indem er die ursprünglich lokale Natur zahlreicher bis dahin unter die allgemeinen gerechneter Krankheiten zeigte und dadurch auch der Lokalbehandlung die Wege bahnte. Auch als Lehrer erwarb er sich große Verdienste; auf deutschen und ausländischen Universitäten wirken ehemalige Assistenten und Schüler Virchows als Professoren. Neben seiner wissenschaftlichen entfaltete V. eine ungemein rege politische Thätigkeit. Seit 1859 war er Stadtverordneter für Berlin; er zählte zu den eifrigsten Mitgliedern des Nationalvereins und war, 1862 in das preußische Abgeordnetenhaus gewählt, einer der Gründer und Führer der Fortschrittspartei, der er auch 1866 treu blieb, sowie beständiges Mitglied der Budgetkommission und Vorsitzender der Rechnungskommission. V. nimmt an den parlamentarischen Arbeiten bedeutenden Anteil und ergreift oft das Wort zu oratorisch nicht glänzenden, aber durch Sachkunde und Schärfe des Verstandes hervorragenden Reden. Aus einem von ihm verfaßten Wahlaufruf stammt der Ausdruck „Kulturkampf“. In den Kriegen von 1866 und 1870 bis 1871 war er Mitglied des Vorstandes des Berliner Hilfsvereins für die Armee, organisierte die ersten preußischen Sanitätszüge und erbaute das Barackenlazarett auf dem Tempelhofer Feld bei Berlin (vgl. darüber seine Schriften: „Über Lazarette und Baracken“, Berl. 1871; „Der erste Sanitätszug des Berliner Hilfsvereins“, das. 1870). In der Folge wurde er Mitglied des geschäftsführenden Ausschusses der Viktoria-National-Invalidenstiftung und des Vorstandes der Kaiser Wilhelm-Stiftung. 1874 wurde er zum Geheimen Medizinalrat ernannt. Seit fünf Jahren leitet er als erster Vorsitzender die Berliner Medizinische Gesellschaft. Auch übte er als Mitglied der Baukuratorien großen Einfluß auf den Bau des neuen städtischen Krankenhauses im Friedrichshain, des Irrenhauses in Dalldorf und des Barackenlazaretts in Moabit sowie als Mitglied der wissenschaftlichen Deputation für das Medizinalwesen im Kultusministerium und der Stadtverordnetenversammlung auf die Ausführung der Berliner Kanalisation („Kanalisation oder Abfuhr?“, Berl. 1869; „Reinigung und Entwässerung Berlins“, das. 1870–79). Gegenwärtig ist er als Vorsitzender des Komitees mit dem Bau eines größern, hauptsächlich für ansteckende Krankheiten bestimmten Kinderhospitals im Norden Berlins beschäftigt, dessen Protektorat die Kaiserin Friedrich übernommen hat. 1859 studierte er im Auftrag der norwegischen Regierung den Aussatz an der Westküste des Landes. Als Mitglied der technischen Deputation für das Veterinärwesen im landwirtschaftlichen Ministerium wirkte er für die neue Gesetzgebung über die Tierseuchen und im Vorstand des Deutschen Fischereivereins für die neuere Fischereigesetzgebung. Auf der Naturforscherversammlung zu Innsbruck (1869) war er einer der Gründer der Deutschen Anthropologischen Gesellschaft, deren Vorsitzender er 1870 wurde; seit 1869 leitete er außerdem die Berliner Anthropologische Gesellschaft, deren Verhandlungen er bis auf die Gegenwart herausgibt (enthalten in der „Zeitschrift für Ethnologie“). Er unternahm selbst ausgedehnte und erfolgreiche Forschungen, z. B. über die Pfahlbauten Pommerns (Julin) und der Mark und über andre vorhistorische Ansiedelungen. Mit Quatrefages geriet er in einen Streit über die Abstammung des preußischen Volkes. Infolgedessen veranlaßte er eine in ganz Deutschland ausgeführte Untersuchung der Schulkinder zur Feststellung der Verbreitung der blonden und der brünetten Rasse, welche so entscheidende Resultate ergab, [224] daß fast in allen Nachbarländern ähnliche Erhebungen vorgenommen wurden. Er schrieb auch: „Über einige Merkmale niederer Menschenrassen am Schädel“ (Berl. 1875); „Beiträge zur physischen Anthropologie der Deutschen, mit besonderer Berücksichtigung der Friesen“ (das. 1876). 1879 beteiligte er sich an den Ausgrabungen Schliemanns in Hissarlik („Zur Landeskunde der Troas“, Berl. 1880; „Alttrojanische Gräber und Schädel“, das. 1882); 1881 besuchte er den Kaukasus und veranstaltete daselbst ausgedehnte anthropologische Untersuchungen („Das Gräberfeld von Koban im Lande der Osseten“, Berl. 1883). Im Februar bis Mai 1888 bereiste er mit Schliemann Ägypten und Nubien sowie den Peloponnes; bekannt sind seine Untersuchungen der Königsmumien im Museum von Bulak und deren Vergleichung mit den entsprechenden Königsbildern. Im Anschluß an diese anthropologischen und prähistorischen Arbeiten betrieb er die Begründung eines „deutschen Museums der Trachten und des Hausgeräts“ in Berlin. Sehr thätig war V. auch für die Verbreitung naturwissenschaftlicher Kenntnisse im Volk. Er gehörte lange zu der Lehrerschaft des Berliner Handwerkervereins und gibt seit 1866 mit v. Holtzendorff eine „Sammlung gemeinverständlicher wissenschaftlicher Vorträge“ heraus, für welche er selbst über Pfahlbauten und Hünengräber, über Nahrungs- und Genußmittel, über Menschen- und Affenschädel etc. schrieb. Seine „Cellularpathologie“ (4. Aufl., Berl. 1871) ist in die meisten lebenden Sprachen übersetzt worden. Sie bildet den 1. Band der „Vorlesungen über Pathologie“, welchem sich „Die krankhaften Geschwülste“ als 2.–4. Band (1863–67) anschließen. Mit mehreren deutschen Ärzten gab er das „Handbuch der speziellen Pathologie und Therapie“ (Erlang. 1854–62, 3 Bde.) heraus. Außerdem schrieb er: „Gesammelte Abhandlungen zur wissenschaftlichen Medizin“ (Frankf. 1856; 2. Ausg., Berl. 1862); „Vier Reden über Leben und Kranksein“ (das. 1862); „Sektionstechnik“ (3. Aufl., das. 1883); „Untersuchungen über die Entwickelung des Schädelgrundes“ (das. 1857); „Lehre von den Trichinen“ (das. 1865, 3. Aufl. 1866); „Über den Hungertyphus“ (das. 1868); „Gesammelte Abhandlungen aus dem Gebiet der öffentlichen Medizin und der Seuchenlehre“ (das. 1879, 2 Bde.); „Über die nationale Entwickelung und Bedeutung der Naturwissenschaften“ (das. 1865); „Die Aufgabe der Naturwissenschaften in dem neuen nationalen Leben Deutschlands“ (das. 1871); „Die Freiheit der Wissenschaft im modernen Staat“ (das. 1877); „Die Erziehung des Weibes“ (das. 1865); „Gedächtnisrede auf Joh. Müller (das. 1858), auf Schönlein“ (das. 1865); „Goethe als Naturforscher“ (das. 1861); „Über die Weddas von Ceylon“ (das. 1881); „Die Anstalten der Stadt Berlin für die öffentliche Gesundheitspflege“ (mit Guttstadt, das. 1886) etc.