Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Verteidigung“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 16 (1890), Seite 163
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Verteidigung. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 16, Seite 163. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Verteidigung (Version vom 18.10.2021)

[163] Verteidigung (Defensive, Defension), die Wahrung und Geltendmachung der dem Angeschuldigten im Strafverfahren zustehenden Rechte durch einen hierzu bestellten Beistand (Defensor, Verteidiger). Die deutsche Strafprozeßordnung unterscheidet zwischen dem sogen. Wahlverteidiger und dem notwendigen Verteidiger. Notwendig ist die V. in denjenigen Sachen, welche in erster Instanz vor das Reichsgericht oder vor das Schwurgericht gehören, ebenso aber auch in denjenigen Untersuchungssachen, welche vor dem Landgericht in erster Instanz zu verhandeln sind, wenn der Angeschuldigte taub oder stumm ist oder das 16. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, oder wenn ein eigentliches Verbrechen den Gegenstand der Untersuchung bildet und der Beschuldigte oder sein gesetzlicher Vertreter die Bestellung eines Verteidigers verlangt. Zu Wahlverteidigern, die in jeder strafrechtlichen Untersuchung zugezogen werden können, sind Rechtsanwalte sowie Rechtslehrer an deutschen Hochschulen, andre Personen dagegen nur mit Genehmigung des Gerichts zuzulassen. Die Auswahl eines notwendigen Verteidigers erfolgt durch den Vorsitzenden des Gerichts aus der Zahl der am Sitz dieses Gerichts wohnhaften Rechtsanwalte; doch können auch Justizbeamte, welche nicht als Richter angestellt sind, sowie solche Rechtskundige, welche die vorschriftsmäßige erste Prüfung für den Justizdienst bestanden haben, als Verteidiger bestellt werden. Abweichend von den bisherigen Vorschriften, gestattet die deutsche Strafprozeßordnung die Zuziehung eines Verteidigers schon im Vorverfahren oder in der Voruntersuchung; doch erfolgt die Vernehmung des Angeschuldigten in der Voruntersuchung in Abwesenheit des Verteidigers wie des Staatsanwalts. Der Verteidiger kann die Untersuchungsakten einsehen, auch mit dem verhafteten Beschuldigten mündlich und schriftlich verkehren. Vor Eröffnung des Hauptverfahrens müssen jedoch schriftliche Mitteilungen dem Richter vorgelegt werden, auch kann der Richter bis zu diesem Zeitpunkt anordnen, daß Unterredungen des verhafteten Beschuldigten mit dem Verteidiger eine Gerichtsperson beiwohne. Der Verteidiger kann die Abhörung neuer Zeugen (Entlastungs-, Schutz-, Defensionalzeugen) und sonstige ergänzende Maßregeln beantragen, um neue Entlastungsmomente beizubringen. Man unterscheidet ferner zwischen Haupt- und Nebenverteidigung. Erstere ist auf das Endurteil selbst gerichtet; sei es, daß sie den Belastungsbeweis zu entkräften oder einen Unschuldsbeweis zu erbringen sucht, daß sie die That als eine straffreie oder als unter ein andres Strafgesetz fallend im Gegensatz zu der Anklage hinzustellen bemüht ist; sei es, daß sie sich auf die Hervorhebung von Strafmilderungsgründen beschränkt. Die Nebenverteidigung bezieht sich auf beschwerende Maßregeln in der Voruntersuchung, Untersuchungshaft z. B.; sie richtet sich gegen die Eröffnung des Hauptverfahrens u. dgl. Auch in der Rechtsmittelinstanz ist die V. zulässig. Dem amtlich zum Verteidiger bestellten Rechtsanwalt sind für die V. die Gebühren aus der Staatskasse zu bezahlen, unter Vorbehalt des Rückgriffs an den in die Kosten verurteilten Angeschuldigten. Vgl. Deutsche Strafprozeßordnung, § 137–150; Jaques, über die Aufgabe der V. (Wien 1873); Frydmann, Handbuch der V. im Strafverfahren (das. 1878); Kosjek, Aus den Papieren eines Verteidigers (Graz 1884). – Über V. im militärischen Sinn s. Defensive und Festungskrieg, S. 199 f.