MKL1888:Völkerwanderung

Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Völkerwanderung“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 16 (1890), Seite 261262
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Völkerwanderung. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 16, Seite 261–262. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:V%C3%B6lkerwanderung (Version vom 27.10.2022)

[261] Völkerwanderung, Gesamtname jener Züge germanischer und andrer Völker nach dem Westen und Süden Europas im 4.–6. Jahrh. n. Chr., durch welche das römische Weltreich zertrümmert und der Übergang vom Altertum zum Mittelalter angebahnt ward. Durch diese Heerfahrten und Wanderungen erhielt das südwestliche Europa eine neue Bevölkerung, indem sich die Einwanderer, die auf ihren Zügen selbst oder in den neuen Wohnsitzen das Christentum annahmen, mit der alten römischen Einwohnerschaft vermischten und neue soziale und sittliche Zustände sowie neue Sprachformen bildeten. In Mitteleuropa dehnten sich teils die zurückgebliebenen Stämme weiter aus, teils rückten dort andre Völker, namentlich Slawen, ein, bis die allgemeine Völkerflut, in welcher einzelne Stämme völlig untergingen oder in der Vereinigung mit andern verschwanden, allmählich aufhörte und die Völker sich in den gewonnenen Sitzen dauernd festsetzten. Das römische Reich erschien schon seit der Zeit vor Christi Geburt den an seiner Nordgrenze wohnenden Barbaren, sobald dieselben die feinern Genüsse und den Luxus der hoch gesteigerten römischen Kultur kennen gelernt, als ein Land der Sehnsucht, dessen Vorzüge nicht bloß zahlreiche einzelne Germanen, sondern auch ganze Stämme verlockten, in römische Dienste zu treten oder sich mit Bewilligung des Staats friedlich auf römischem Boden niederzulassen, während andre Völker durch Raub- und Kriegszüge sich der ersehnten Reichtümer zu bemächtigen oder hoch kultivierte, fruchtbare Landstriche zu erobern strebten. So verheerten die Goten von der Nordküste des Schwarzen Meers zur See die Küsten Kleinasiens und der Balkanhalbinsel und drangen auch zu Land über die Donau vor; die Sachsen befuhren von den Mündungen der Elbe und Weser aus die westlichen Meere und plünderten die Küsten Britanniens, Galliens u. a. Die Alemannen bemächtigten sich schon im 3. Jahrh. des römischen Zehntlandes, die Franken setzten sich gegen Ende des 3. Jahrh. zwischen Rhein und Schelde fest. Ein allgemeines Vorrücken der Germanen nach Südwesten, eine förmliche Überschwemmung des römischen Reichs durch barbarische Völkermassen, wurde aber erst durch den Einfall der Hunnen veranlaßt. Diese zerstörten 375 das mächtige Gotenreich Hermanrichs. Die Ostgoten wie andre germanische Stämme unterwarfen sich den Hunnen, welche sich in der ungarischen Tiefebene festsetzten. Die Westgoten traten auf römisches Gebiet über; durch den Sieg über Valens bei Adrianopel (378) sicherten sie sich den Besitz von Mösien und Thrakien. Alarich führte sie, nachdem er 396 Griechenland verwüstet hatte, schon 400 nach Italien, ward aber von Stilicho zurückgetrieben, der auch 406 in Toscana ein aus verschiedenen germanischen Stämmen gemischtes Heer unter Radagaisus, das von der mittlern Donau her eingebrochen war, vernichtete. Nach seinem Tod (408) brachen die Westgoten unter Alarich wieder in Italien ein, während zu gleicher Zeit die durch Zusammenziehung der römischen Legionen zum Schutz Italiens entblößten Provinzen Gallien, Spanien, Britannien und Africa von germanischen Völkern überflutet wurden. Die Alemannen nahmen das ganze Oberrheingebiet in Besitz, die Burgunder setzten sich am Mittelrhein fest, die Angeln und Sachsen eroberten Britannien; Alanen, Vandalen und Sueven durchzogen ganz Gallien und schlugen ihre Wohnsitze in Spanien auf, von wo die Vandalen 429–439 auch Afrika und die Inseln des westlichen Mittelmeers eroberten. Die Westgoten, 412 von Athaulf nach Gallien geführt, um diese Provinz dem römischen Reich wiederzuerobern, gründeten 419 unter Wallia in Südgallien und Nordspanien ein selbständiges Reich. Doch gingen die germanischen Eroberer nicht eigentlich auf Vernichtung der römischen Kultur aus, vielmehr wollten sie erst recht an ihren Vorzügen teilnehmen. Mit Ausnahme von Britannien, wo die heidnischen Angelsachsen die romanisierten Briten aus ihrem Reich verdrängten, und den Rheinlanden, wo die dünne romanische Bevölkerung nach dem Westen zurückwich, wurden die Römer in ihren Wohnsitzen, bei ihrem Recht, ihrer Sprache und ihren Sitten belassen und mußten nur ein Drittel, selten mehr, von ihrem Grundbesitz den germanischen Eroberern abtreten, welche in den von germanischen Königen beherrschten Reichen den kriegerischen Adel bildeten. Die überlegene Kultur der weit zahlreichern römischen Bevölkerung übte sehr bald einen assimilierenden Einfluß auf die Germanen aus, deren völlige Verschmelzung mit den Römern hauptsächlich durch ihr arianisches Christentum verzögert wurde. Auch bewiesen die Germanen einen empfänglichen Sinn für die Segnungen eines geordneten Staatswesens und vereinigten sich mit den Römern zur Abwehr des neuen Kriegssturms, welchen der Hunnenkönig Attila, der bereits 437 das Burgunderreich am Mittelrhein zerstört hatte, 451–453 an der Spitze ungeheurer Völkermassen unternahm. Die Trümmer des weströmischen Reichs in Italien und Gallien konnten sich gleichwohl nicht behaupten: das Rhônegebiet nahmen die vom Rhein vertriebenen Burgunder ein, das Seinegebiet 486 die Franken. In Italien machte der germanische Söldnerführer Odoaker 476 dem ohnmächtigen weströmischen Kaisertum ein Ende; seine Herrschaft wurde schon 489 wieder durch die Ostgoten gestürzt, deren König Theoderich in Italien ein wohlgeordnetes, lebenskräftiges Reich gründete und eine schiedsrichterliche [262] Oberhoheit über die germanischen Reiche erlangte. So waren um 500 alle Provinzen des weströmischen Kaiserreichs im Besitz der germanischen Eroberer. Unter dem oströmischen Kaiser Justinian I. (527–565) unternahmen die Römer die Wiedereroberung des Verlornen. Belisar zerstörte 534 das Vandalenreich in Afrika und vereinigte das Land wieder mit dem römischen Reich, er und Narses eroberten 535–553 auch Italien. Indes den größten Teil dieses Landes, nämlich Ober- und Mittelitalien, verloren sie 568 wieder an die Langobarden, welche nach Zerstörung des Gepidenreichs (566) in Italien einfielen. Das Westgotenreich unterlag erst 711 den Arabern. Das Frankenreich endlich dehnte durch glückliche Eroberungen seine Herrschaft über einen großen Teil des alten weströmischen Reichs aus, indem es 507 das westgotische Gallien, 534 das Burgunderreich, 774 das Langobardenreich eroberte, und gewann durch Unterwerfung der Alemannen (496), der Thüringer (530), der Sachsen (785) und der Bayern (788) sämtliche germanische Völker Mitteleuropas für die christliche Kultur, welche es zugleich durch den Sieg bei Tours (732) gegen den Islam verteidigte. Die Wiederaufrichtung des weströmischen Kaiserreichs durch den Frankenkönig Karl d. Gr. 800 gab der Völkerbewegung im Abendland einen gewissen Abschluß. Das Christentum war gerettet und seine weitere Ausbreitung gesichert, von der antiken Kultur bildungsfähige Reste erhalten, der romanischen Welt neue Lebenssäfte zugeführt, endlich dem Germanentum die Entwickelung zu einer höhern Zivilisation ohne Verlust seiner Nationalität ermöglicht. Während nun der europäische Westen zur Ruhe gekommen war, die erst im 8. und 9. Jahrh., als in den skandinavischen Völkern die Wanderlust erwachte (s. Normannen), gestört wurde, dauerte im Osten die Bewegung noch fort. Zwar wurde das Land von der Weichsel bis zur Elbe, Saale und dem Böhmerwald schon im 5. Jahrh. von slawischen Völkerstämmen besetzt (s. Slawen); im innern Rußland aber dauerte das Drängen der Slawen gegen die Finnen noch längere Zeit, und an der untern Donau, wo die tatarischen Avaren (s. d.), denen die Langobarden Pannonien überließen, lange Zeit das mächtigste Volk waren, bis Karl d. Gr. sie 796 vernichtete, trat erst allmählich ein Stillstand der Bewegung ein, nachdem im 7. Jahrh. die finnischen, später aber slawisierten Bulgaren und Serben feste Sitze genommen hatten. Im 9. Jahrh. unterbrach denselben das Eindringen der Magyaren (s. d.) in Ungarn, deren Kriegsfahrten nach Westen hin die sächsischen Könige ein Ziel setzten. Vgl. Wietersheim, Geschichte der V. (Leipz. 1858–64, 4 Bde.; neue Bearbeitung von Dahn, das. 1880–81, 2 Bde.); Pallmann, Geschichte der V. (Gotha u. Weim. 1863–64, 2 Bde.); Dahn, Die Könige der Germanen (Münch. u. Würzb. 1861–70, 6 Tle.); Derselbe, Urgeschichte der germanischen und romanischen Völker (Berl. 1880–85, 3 Bde.); Gaupp, Die germanischen Ansiedelungen und Landteilungen in den Provinzen des römischen Westreichs (Bresl. 1844). H. Lingg hat die V. in einem Epos behandelt.