Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Tragisch“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 15 (1889), Seite 792793
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Tragisch. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 15, Seite 792–793. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Tragisch (Version vom 25.05.2024)

[792] Tragisch (griech.) heißt nach Aristoteles ein Ereignis, welches zugleich Mitleid (mit dem von demselben Betroffenen) und Furcht (für uns selbst) erweckt. Dasselbe muß einerseits ein Leiden sein, weil dessen Anblick sonst nicht selbst ein Leid wecken könnte; aber es darf kein verdientes (nicht die gerechte Strafe eines wirklichen Verbrechens) sein, denn ein solches bedauern wir zwar, aber bemitleiden es nicht. Dasselbe muß anderseits furchtbar sein, weil wir es sonst nicht (weder für andre, noch für uns) fürchten, und es muß willkürlich (ohne Rücksicht auf Schuld oder Unschuld) verhängt sein, weil wir es sonst nicht für uns ebensogut wie für den Schuldigen fürchten würden. Nur das mehr oder minder unverdiente Leiden, sei es nun, daß das vermeintliche Verbrechen eine Helden- oder Wohlthat, der rächende Gott oder das launenhafte Fatum der eigentliche Verbrecher sei (der Feuerraub des Prometheus, der dafür von dem neidischen und fürchtenden Zeus an den Felsen geschmiedet wird), sei es, daß der vermeintlich Schuldige nur halb schuldig, [793] die „himmlischen Mächte“, welche „den Armen haben schuldig werden lassen“, die eigentlich Schuldigen seien (Ödipus, den die tyrannischen Götter schon im Mutterleib zum künftigen Vatermörder und Muttergemahl ausersehen haben; Wallenstein, von dessen Schuld „unglückselige Gestirne“ die „größere Hälfte“ tragen), ist wirklich t., das gänzlich unverdiente (das Martyrium der Unschuld, die Passion Christi) nicht t., sondern gräßlich. Das Tragische ruht daher ebenso wie das Komische (s. d.) auf einem Kontrast desjenigen, was wirklich geschieht (des Ungerechten im Tragischen, des Ungereimten im Komischen), mit dem, was (nach der Forderung der sittlichen Vernunft [der Gerechtigkeit] im Tragischen, des Verstandes [der Klugheit] im Komischen) eigentlich geschehen sollte, nur mit dem Unterschied, daß dasjenige, was wirklich geschieht, im Tragischen ein Leiden, also schädlich, im Komischen dagegen nur eine Thorheit, also unschädlich, ist. Da nun der Eindruck des Tragischen, wie jener des Komischen, wesentlich durch die Einsicht in obigen Kontrast entsteht, so muß er, wie bei diesem, als gemischter ausfallen. Das wirklich Geschehende, das unverdiente Leiden und der Untergang der tragischen Person, der Sieg des Fatums oder der „neidischen“ Götter, ist ein Triumph der Ungerechtigkeit und bringt als solcher das „zermalmende“ Gefühl menschlicher Schwäche und Ohnmacht dem „großen, gigantischen Schicksal“ gegenüber hervor. Die Verurteilung dessen, was wirklich geschieht, durch den Richterspruch der Vernunft (in uns oder im Helden), welche sich selbst durch den nahen und sichern Untergang wie durch die Übermacht des feindlichen Schicksals in ihrer Festigkeit nicht erschüttern und nicht dazu zwingen läßt, das Unverdiente für verdient, den ungerechten Gott als gerechten anzusehen, ist der Triumph der Gerechtigkeit und erzeugt als solcher das „erhebende“ Gefühl menschlicher Hoheit und Überlegenheit gegenüber dem grausamen Schicksal, welches „den Leib töten, aber die Seele nicht töten kann“. In ersterer Hinsicht ist der Eindruck des Tragischen (der tragische Affekt) jenem des Grausamen (der blinden Naturnotwendigkeit), welches Verzweiflung, in dieser jenem des (nach Kant: moralisch) Erhabenen (der sittlichen Freiheit) verwandt, welches Bewunderung erzeugt. Werden beide Seiten des (tragischen) Kontrastes an verschiedene Personen verteilt, so daß das (zermalmende) Gefühl des Unterliegens unter das Schicksal in die tragische Person, das (erhebende) der (moralischen) Erhabenheit des Menschen über dasselbe in den Zuschauer verlegt wird, so entsteht das Naiv- oder Objektiv-Tragische; werden beide dagegen in der (tragischen) Person vereinigt, welche sodann, während sie (physisch) dem Schicksal unterliegt, (moralisch) als tragischer „Held“ dasselbe besiegt, so entsteht das Bewußt- oder Subjektiv-Tragische. Jenes, bei welchem die tragische Person sich leidend (passiv) verhält, wirkt vorzugsweise ergreifend, dieses, bei welchem dieselbe, wenigstens moralisch, thätig (aktiv) auftritt, vorzugsweise erhebend. Die Eigentümlichkeit des erstern besteht darin, daß der tragische Held dem Beschauer, die des letztern darin, daß er sich selbst t. erscheint, Mitleid und Furcht nicht bloß andern, sondern sich selbst (für sich) einflößt. Iphigenia, Antigone, Thekla (im „Wallenstein“) beklagen ihr Geschick. Das Subjektiv-Tragische ist durch die Gemütsstimmung des Helden, welche aus Mitleid mit sich, der dem Schicksal unterliegt, und Hohn über den Gegner, der (nur scheinbar) triumphiert, zusammengesetzt ist, dem Humor (s. d.) und zwar, weil der (physische) Untergang unvermeidlich ist, dem bösen Humor (Weltschmerz) verwandt und heißt um dieser Verwandtschaft willen Humoristisch-Tragisches. Je nachdem in dem Eindruck des Tragischen das „zermalmende“ oder das „erhebende“ Element als das stärkere erscheint, wird das Rührend-Tragische vom Pathetisch-Tragischen unterschieden. Durch Kombination beider Einteilungen entstehen als Unterarten des Rührend-Tragischen das Rührende, bei welchem das mitleiderregende, und das Schreckliche, bei welchem das furchterweckende Element des Ergreifenden überwiegt; als Unterarten des Pathetisch-Tragischen das humoristische Pathos, bei welchem die Klage über sein Schicksal, und der tragische Humor, bei welchem der Hohn über dasselbe im Helden die Oberhand gewinnt; jene machen uns weinen, diese „unter Thränen lächeln“. Die Auflösung des Tragischen erfolgt, wie die des Komischen, durch die Aufhebung des Kontrastes, indem entweder das (anscheinend) Ungerechte als gerecht (der anscheinend Schuldlose oder nur halb Schuldige als wirklich Schuldiger) erkannt, oder das vermeintlich durch blinden Willen oder feindselige Absicht herbeigeführte Leiden als das Werk des Zufalls oder eines mechanischen Naturprozesses (natürlicher Tod) anerkannt wird, welche als völlig heterogen, mit der Vernunft nicht vergleichbar, also auch nicht als Kontrast zu derselben betrachtet werden können. Vgl. Bohtz, Die Idee des Tragischen (Götting. 1836); R. Zimmermann, Über das Tragische und die Tragödie (Wien 1856); Baumgart, Aristoteles, Lessing und Goethe. Über das ethische und ästhetische Prinzip der Tragödie (Leipz. 1877); Duboc, Die Tragik vom Standpunkt des Optimismus (Hamb. 1885); Günther, Grundzüge der tragischen Kunst, aus dem Drama der Griechen entwickelt (Leipz. 1885).