Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Stigmatisation“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 15 (1889), Seite 325
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Stigmatisation. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 15, Seite 325. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Stigmatisation (Version vom 07.10.2021)

[325] Stigmatisation, das angebliche freiwillige Auftreten der fünf Wundmale Christi bei Personen, die sich in eine schwärmerische Betrachtung seiner Leiden versenkt hatten. Nachdem der heil. Franz von Assisi (s. Franziskaner) zuerst diese Auszeichnung erhalten haben soll und die heil. Katharina von Siena wenigstens einen Ansatz dazu genommen, hat sich diese Erscheinung im Lauf der Jahrhunderte an sehr zahlreichen Personen, namentlich weiblichen Geschlechts, wiederholt, und zwar sowohl bei Nonnen als bei weiblichen Laien, und bei einigen blieb die S. eine dauernde, indem die Wundmale alle Freitage und am stärksten in der Passionszeit bluteten, was dann häufig zu Schaustellungen Anlaß gegeben hat. Insbesondere wiederholte sich die S. in Zeiten religiöser Aufregung, und in unserm Jahrhundert haben Katharina Emmerich, die Freundin Klemens Brentanos, Maria v. Mörl und insbesondere Louise Lateau in dem belgischen Dörfchen Bois d’Haine in dieser Richtung großes Aufsehen erregt. Diese Personen gaben bestimmten Verehrerkreisen Schaustellungen, indem sie theatralisch die Leiden Christi, während sie dieselben angeblich empfanden, in lebenden Bildern durchführten; daneben bekamen sie kataleptische Zufälle (Verzückungen), in denen sie unempfindlich gegen Schmerzen zu sein vorgaben, und mancherlei andre Wundergaben (vollkommenes Fasten, Empfindung der Nähe heiliger Gegenstände etc.). Das Urteil über diese Fälle hat sich zuerst naturgemäß nur in den beiden Gegensätzen: Wunder oder Betrug! kundgegeben, und in der unendlichen Litteratur, die über Louise Lateau entstand, vertrat der belgische Arzt Professor Lefebvre („Louise Lateau“, Löwen 1873) mit aller Entschiedenheit die Überzeugung, daß hier ein übernatürliches Ereignis vorliege, während Virchow u. a. es einfach als Betrug brandmarkten. In der That sind denn auch nicht wenige Fälle von sogen. S. vor den Gerichten als grober Betrug entlarvt worden. Bei der Bedeutung, welche von manchen Seiten dem Fall der Louise Lateau beigelegt wurde, ernannte die Brüsseler Akademie der Wissenschaften eine Kommission zur Untersuchung desselben, und in dem Bericht, welchen Warlomont über die Arbeiten dieser Kommission erstattet hat, wird nun auf Grund sehr sorgfältiger und den Betrug ausschließender Untersuchungen und in Übereinstimmung mit andern belgischen und französischen Ärzten die schon von Montaigne vertretene Meinung ausgesprochen, daß eine bis zur Krankheit gesteigerte Einbildungskraft das wiederholte freiwillige Bluten der irgendwie erworbenen Wunden hervorbringen könne. Außerdem bieten viele den Stigmatisierten eigentümliche Zufälle, wie die Katalepsie, Unempfindlichkeit, die Nachahmungssucht u. a., eine bedeutende Ähnlichkeit mit den neuerdings genauer untersuchten Zuständen des Hypnotismus (s. d.), welche in ähnlicher Weise durch Konzentration der Gedanken und Sinneseindrücke auf bestimmte eng begrenzte Gebiete hervorgerufen werden. Danach würde sich die S. in den Fällen, wo nicht grober Betrug vorliegt, jenen zahlreichen Erscheinungen anreihen lassen, welche mit hochgradiger Hysterie einhergehen, und bei denen Krankheit und Selbstbetrug so merkwürdig miteinander verbunden sind. Diesen Standpunkt nehmen die Schriften von Warlomont (Brüssel 1875) und Bourneville (Par. 1875) über Louise Lateau und Charbonnier („Maladies des mystiques“, Brüssel 1875) ein; aus der unübersehbaren fernern Litteratur vgl. Schwann, Mein Gutachten über die Versuche etc. (Köln 1875).