Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Staël-Holstein“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 15 (1889), Seite 216217
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Staël-Holstein. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 15, Seite 216–217. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Sta%C3%ABl-Holstein (Version vom 03.07.2023)

[216] Staël-Holstein (spr. stāl-), Anne Louise Germaine, Baronin von, berühmte franz. Schriftstellerin, geb. 22. April 1766 zu Paris, Tochter des Ministers Necker, entwickelte sich frühzeitig unter dem Einfluß einer streng protestantischen Mutter und der philosophischen Anschauungen, denen man im Haus ihres Vaters huldigte, verfaßte mit 15 Jahren juristische und politische Abhandlungen und verheiratete sich 1786 auf den Wunsch ihrer Mutter mit dem schwedischen Gesandten, Baron von S. Doch war diese Ehe nicht glücklich; 1796 trennte sie sich von ihrem geistig tief unter ihr stehenden Gemahl, näherte sich ihm aber 1798 wieder, als er krank wurde, um ihn zu pflegen, und blieb bei ihm bis zu seinem Tod (1802). Seit dem ersten Jahr ihrer Ehe entwickelte sie eine eifrige litterarische Thätigkeit. 1786 war ihr Schauspiel „Sophie, ou les sentiments secrets“ erschienen, dem als letzter Versuch dieser Art 1790 die Tragödie „Jane Gray“ folgte; sie sah ein, daß sie für Bühnendichtung nicht geschaffen war. Besser gelangen ihr die überschwenglich lobenden „Lettres sur les écrits et le caractère de J. J. Rousseau“ (1788); doch fehlt die Kritik fast ganz. Das immer reichlicher fließende Blut ließ ihre anfängliche Begeisterung für die Revolution bald schwinden; ein Plan zur Flucht, den sie der königlichen Familie unterbreitete, wurde nicht angenommen; am 2. Sept. 1792 mußte sie selbst flüchten. Auch ihre beredte Schrift zu gunsten der Königin: „Réflexions sur le procès de la reine“ (1793) hatte keine Wirkung. Dagegen erregte sie Aufsehen durch ihre Schriften: „Réflexions sur la paix, adressées à M. Pitt et aux Français“ (Genf 1795) und besonders durch „De l’influence des passions sur le bonheur des individus et des nations“ (Laus. 1796), ein Werk voll tiefer und lichtvoller Gedanken. Nach ihrer Rückkehr verfeindete sie aber ihr energisches Eintreten für konstitutionelle Ideen derart mit Bonaparte, daß sie auf 40 Stunden im Umkreis von Paris verbannt wurde. Sie ging nach Coppet, lebte aber meist auf Reisen. Ihr schriftstellerischer Ruf hatte sich inzwischen in weitern Kreisen verbreitet durch ihre Schrift „De la littérature considérée dans ses rapports avec les institutions sociales“ (1799, 2 Bde.) und durch den Roman „Delphine“ (1802, 6 Bde., u. öfter; hrsg. von Sainte-Beuve, 1868; deutsch, Leipz. 1847, 3 Bde.), eine Schilderung ihrer eignen Jugend in Briefform. 1803 machte sie ihre erste Reise nach Deutschland, wo sie längere Zeit in Weimar und Berlin verweilte; 1805 bereiste sie Italien. Seit dieser Zeit war A. W. v. Schlegel, den sie in Berlin kennen gelernt hatte, ihr Begleiter, und sein Umgang ist nicht ohne Einfluß auf ihre Ansichten, besonders über Kunst und deutsche Litteratur, geblieben. Die Frucht ihrer Reise nach Italien war der Roman „Corinne, ou l’Italie“ (1807, 2 Bde., u. öfter; deutsch von Fr. Schlegel, Berl. 1807; von Bock, Hildburgh. 1868), eine begeisterte Schilderung Italiens und das glänzendste ihrer Werke. 1810 ging sie nach Wien, um Stoff zu ihrem schon lange geplanten Werk „De l’Allemagne“ zu sammeln, einem Gemälde Deutschlands in Beziehung auf Sitten, Litteratur und Philosophie; doch wurde die ganze Auflage auf Befehl des damaligen Polizeiministers Savary sogleich vernichtet und gegen die Verfasserin von Napoleon I. ein neues Verbannungsdekret erlassen, das sich auf ganz Frankreich erstreckte. Erst zu Ende 1813 erschien das Werk (3 Bde.) zu London, darauf 1814 auch zu Paris. So reich es an geistvollen Gedanken ist und so achtungswert durch die Wärme, womit es den Franzosen deutsche Art und Kunst empfiehlt, so enthält es doch auch viele schiefe Ansichten und erhebliche Unrichtigkeiten. Jedenfalls [217] aber hat es den größten und dauerndsten Eindruck gemacht und muß darum als ihr Hauptwerk gelten. S. lebte in der nächsten Zeit wieder zu Coppet, wo sie sich insgeheim mit einem jungen Husarenoffizier, de Rocca, verheiratete. Von der französischen Polizei fort und fort verfolgt, begab sie sich im Frühjahr 1812 nach Moskau und Petersburg und von da nach Stockholm, wo ihr jüngster Sohn, Albert, im Duell blieb. Im Anfang des folgenden Jahrs ging sie nach England; erst nach Napoleons Sturz kehrte sie nach langer Verbannung, deren Ereignisse sie in „Dix années d’exil“ (1821; deutsch, Leipz. 1822) teilweise erzählt, nach Paris zurück. Nach Bonapartes Rückkehr von Elba zog sie sich nach Coppet zurück. Nach der zweiten Restauration erhielt sie Vergütung für die alte Schuld von 2 Mill. Frank, die ihr Vater bei seinem Abschied im öffentlichen Schatze zurückgelassen hatte, und lebte fortan in einem glücklichen häuslichen Kreis und im engen Verkehr mit litterarischen und politischen Freunden in Paris, bis zu ihrer letzten Krankheit mit Ausarbeitung der trefflichen „Considérations sur les principaux événements de la Révolution française“ (1818, 3 Bde.; neue Ausg. 1861; deutsch von A. W. v. Schlegel, Heidelb. 1818, 6 Bde.) beschäftigt. Sie starb 14. Juli 1817. Zu erwähnen sind noch die Werke: „Vie privée de M. Necker“, an der Spitze der Ausgabe der Manuskripte ihres Vaters (1804); „Réflexions sur le suicide“ (1813); „Zulma et trois nouvelles“ (1813); „Essais dramatiques“ (1821), eine Sammlung von 7 Stücken in Prosa, darunter das Drama „Sapho“. Eine Ausgabe ihrer Werke (Par. 1820–21, 17 Bde.) veranstaltete ihr ältester Sohn, Auguste Louis, Baron von S. (geb. 1790), der sich selbst als Schriftsteller bekannt machte und 1827 starb (seine „Œuvres divers“ gab seine Schwester, die Herzogin von Broglie, heraus, 1829, 3 Bde.). Vgl. Baudrillart, Éloge de Mad. de S. (1850); Norris, Life and times of Mad. de S. (Lond. 1853); Gérando, Lettres inédites et souvenirs biographiques de Mad. Récamier et de Mad. S. (Par. 1868); Stevens, Mad. de S. (Lond. 1880, 2 Bde.); Lady Blennerhassett, Frau von S. und ihre Freunde (Berl. 1887–89, 3 Bde.); ferner „Correspondance diplomatique du baron de S., documents inédits“ (hrsg. von Léouzon le Duc, Par. 1881).