MKL1888:Sizilien, Königreich beider

Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Sizilien, Königreich beider“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 14 (1889), Seite 10061011
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Sizilien, Königreich beider. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 14, Seite 1006–1011. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Sizilien,_K%C3%B6nigreich_beider (Version vom 30.07.2024)

[1006] Sizilien, Königreich beider (Königreich Neapel), bis 1860 selbständiger Staat, seitdem zum Königreich Italien gehörig, zerfiel in das Gebiet diesseit der Meerenge (Neapel im engern Sinn) und das jenseit der Meerenge (Insel Sizilien), umfaßte die Landschaften (compartimenti) Abruzzen und Molise, Kampanien, Apulien, Kalabrien und Sizilien und hatte einen Flächenraum von 111,900 qkm (2033 QM.) mit 8,703,000 Einw. In ältester Zeit von Iapygiern und Sikulern, dann von Oskern und Sabellern erobert, zugleich von den Griechen kolonisiert und Großgriechenland benannt, teilte Unteritalien seit seiner Eroberung durch die Römer (275–266 v. Chr.) die Geschicke Italiens bis zur Zertrümmerung des weströmischen Reichs. Als Belisar 535 das ostgotische Reich angriff, wurden Sizilien und Unteritalien sofort für das oströmische Reich erobert und blieben mit einer geringen Unterbrechung in dessen Besitz, bis 568 die Langobarden in Italien einbrachen, welche in Benevent, Capua, Neapel, Salerno u. a. O. Fürstentümer errichteten. Sizilien und ein Teil des Festlandes (Apulien und Kalabrien) blieben dem byzantinischen Reich und wurden von einem kaiserlichen Statthalter verwaltet, der den Titel Patricius führte und fast unabhängig von Konstantinopel regierte. 827 landeten die Araber auf Sizilien und eroberten es; auch in Kalabrien drangen sie ein. Die langobardischen Fürstentümer hatten inzwischen die Oberhoheit des Heiligen [1007] römischen Reichs deutscher Nation anerkannt. Als Kaiser Otto I. 968 auch Unteritalien erobern wollte, scheiterte das Unternehmen. Seinen Sohn, Kaiser Otto II., halfen bei einem neuen Eroberungszug 982 die Araber besiegen, womit der Versuch, Unteritalien der direkten Herrschaft der deutschen Kaiser zu unterwerfen, vereitelt war.

Das Normannenreich.

Die der That nach völlig unabhängigen langobardischen Fürsten lagen in fast fortwährendem Hader und Streit miteinander. In einem solchen unterstützten 1027 die Normannen den Herzog Sergius von Neapel gegen Pandulf von Capua und erhielten zum Lohn dafür einen Strich Landes in Apulien, in welchem sie die Stadt Aversa anlegten und eine unabhängige Herrschaft gründeten. Einen neuen Aufschwung erhielten die normännischen Unternehmungen, als von den zwölf Söhnen des Grafen Tankred von Hauteville zehn nacheinander aus der Normandie nach Italien kamen und sowohl die langobardischen Fürsten unterwarfen als Apulien und Kalabrien den Griechen entrissen. Der vierte Sohn Tankreds, Robert Guiscard, der die letzte griechische Stadt, Bari, eroberte, erhielt 1060 vom Papst Nikolaus II. die Belehnung mit den eroberten Ländern. Der jüngste Bruder, Roger, setzte nach Sizilien über, wo sich die Macht der Sarazenen in eine Menge kleiner Herrschaften, mit Palermo als Mittelpunkt, aufgelöst hatte. Mit ganz geringen Streitkräften wurde 1091 die Eroberung der Insel vollendet und die Normannenherrschaft auf derselben begründet. Robert Guiscard überließ dieselbe seinem Bruder als Lehen, der sich Graf von Sizilien nannte. Nach dem Tod Robert Guiscards (1085) teilten seine Söhne Bohemund und Roger das väterliche Erbe in der Art, daß Roger Apulien und die Herzogswürde, Bohemund Tarent und einen Teil von Kalabrien bekam. Bohemund erwarb im ersten Kreuzzug das Fürstentum Antiochia, starb aber schon 1111 in Syrien, und sein Geschlecht erlosch 1130 im Mannesstamm; auch der jüngere Zweig ging 1127 mit Rogers Sohn Wilhelm zu Ende. Sobald Roger II., der Sohn des gleichnamigen Eroberers von Sizilien, davon Kunde erhalten hatte, setzte er nach dem Festland über, brachte die widerspenstigen Großen zur Unterwerfung und ließ sich vom Papst Anaklet II. zum König von Neapel und Sizilien krönen (25. Dez. 1130), welche Würde Papst Innocenz II. 1139 gegen Anerkennung der päpstlichen Lehnshoheit bestätigte.

Unter Rogers II. Regierung (1130–54) erhob sich das Königreich rasch zu großer Blüte: Palermo und Amalfi wetteiferten in Handelsthätigkeit mit Venedig und Pisa; berühmt waren Neapel und Amalfi durch ihre Lehranstalten für Rechtskunde, Salerno durch seine medizinische Schule. Nicht am wenigsten dankte es dies der Toleranz gegen Griechen und Sarazenen, die ebenso wie die Normannen mit Ämtern betraut wurden. Aber Rogers Sohn Wilhelm I., „der Böse“ (1154–66), lebte wie ein orientalischer Fürst in Wollust und Üppigkeit, und mit dessen Sohn Wilhelm II. (1166–89), mit dem Beinamen „der Gute“, unter dem eine kurze Periode des Glücks für das Königreich zurückkehrte, erlosch die rechtmäßige männliche Nachkommenschaft Tankreds von Hauteville. Die reichen, schönen Länder fielen an den Hohenstaufen, Kaiser Heinrich VI., den Gemahl Konstanzes, der Tochter Rogers II. Aber der Wechsel des Herrschergeschlechts war der Anfang neuer Drangsale für das Königreich, denn ein natürlicher Enkel Rogers II., Tankred, und dessen Sohn Wilhelm erhoben ebenfalls Ansprüche auf den Thron. Erst 1194 gelang es Heinrich VI., den Widerstand der Großen gegen seine Herrschaft mit grausamer Strenge zu brechen und das ganze Königreich in Besitz zu nehmen. Nach Heinrichs VI. Tod (1197) folgte sein dreijähriger Sohn Friedrich I. (als Kaiser Friedrich II.) unter der Vormundschaft seiner Mutter Konstanze und des Papstes Innocenz III. als Oberlehnsherrn beider Sizilien. Während seiner Selbstregierung (seit 1209) verlegte er die Residenz von Palermo nach Neapel, wo er 1224 eine Universität gründete, und veröffentlichte im August 1231 eine Gesetzgebung unter dem Namen „Konstitutionen des Königreichs Sizilien“, welche nicht sowohl eine neue Schöpfung als, gleich den Gesetzen Justinians, nur eine Bestätigung derjenigen Verordnungen war, welche von nun an Gesetzeskraft haben sollten. Durch dieselben ging schon ein moderner Hauch, denn an die Stelle der die Macht des Herrschers einschränkenden Lehnsaristokratie trat ein festgeschlossener Beamtenstand, der vom König eingesetzt wurde und mit ihm über Aufrechthaltung der Gesetze zu wachen hatte. Das Land wurde militärisch eingeteilt und ein aus Deutschen und Sarazenen bestehendes Söldnerheer zum Schutz des Königtums errichtet. Auch für die Hebung des materiellen Wohlstandes sorgten die Konstitutionen. Der Handel wurde erleichtert durch die Ermäßigung der Aus- und Eingangszölle, durch Beseitigung der Zollschranken zwischen den einzelnen Provinzen des Reichs und durch Handelsverträge mit fremden Staaten; das Steuerwesen und die Finanzwirtschaft wurden neu geregelt. Friedrichs Nachfolger Konrad IV. (1250–54) hinterließ den unmündigen Konradin, dessen Oheim Manfred die Reichsverwesung übernahm, sich aber 11. Aug. 1258 auf ein falsches Gerücht von Konradins Tod mit Bewilligung der Reichsstände zum König krönen ließ. Die Päpste verfolgten aber auch Kaiser Friedrichs edle Nachkommen mit unversöhnlichem Haß, und Papst Clemens IV. verlieh Sizilien 1265 dem Grafen Karl von Anjou, Bruder Ludwigs IX. von Frankreich, als päpstliches Lehen, gegen den Manfred 26. Febr. 1266 bei Benevent Thron und Leben verlor. Auch Konradin büßte den Versuch, das Erbe seiner Väter wiederzuerringen, nach seiner Niederlage bei Tagliacozzo (23. Aug. 1268) mit dem Tod auf dem Schafott (29. Okt.).

Die Herrschaft der Anjous.

Karl I. (1266–84) erklärte alle Schenkungen und Belehnungen Friedrichs und seiner Nachfolger für ungültig und verlieh die dadurch frei gewordenen Guter an französische Große mit ausgedehnten Feudalrechten über die Landbevölkerung und die Städte. An die Stelle der städtischen Verfassung der Konstitutionen trat wieder eine selbstsüchtige Feudalherrschaft, während alle Lasten, die man Friedrich einst so sehr zum Vorwurf gemacht hatte, bestehen blieben. Dazu kam die Begünstigung der zahlreich einwandernden Franzosen. Am schwersten lastete der Druck der französischen Herrschaft auf der Insel Sizilien, und die Mißstimmung war eine um so größere, je milder das Regiment Manfreds gewesen war. Nachdem Johann von Procida eine Verschwörung gebildet und das Volk zur Rache aufgereizt hatte, brach am zweiten Osterfeiertag (30. März) 1282 um die Vesperzeit, als die Franzosen sich Unziemlichkeiten gegen sizilische Frauen erlaubten, in Palermo der Aufstand (Sizilianische Vesper) aus und endete mit der allgemeinen Ermordung der Franzosen auf der Insel. Die Sizilianer setzten darauf eine provisorische Regierung ein und verteidigten sich gegen Karls Angriffe, [1008] bis Peter von Aragonien, Manfreds Schwiegersohn, ihnen zu Hilfe kam und die Krone von Sizilien annahm. Hierdurch wurde die Insel bis 1442 vom Festland getrennt.

Karl von Anjou sah sich bald auch auf dem Festland durch Erhebungen der Ghibellinen und durch Angriffe seitens der Sizilianer bedroht, die während seiner Abwesenheit in Frankreich über seinen Sohn Karl von Salerno auf der hohen See vor Neapel 23. Juni 1283 einen glänzenden Sieg davontrugen, der letztern selbst in die Hände der Sieger lieferte. Nicht lange darauf, 7. Jan. 1284, starb Karl auf einem Feldzug gegen die empörte Insel. Ihm folgte sein Sohn Karl II. (1284–1309), dessen Versuche, Sizilien wiederzugewinnen, alle vergeblich waren, und dessen Sohn Philipp in der unglücklichen Schlacht bei Falconera (unweit Trapani) 1299 in Gefangenschaft fiel. Unwillig über die Ohnmacht Karls II. rief der Papst den Bruder des Königs von Frankreich, Karl von Valois, zu Hilfe. Aber auch dieser konnte nichts ausrichten und schloß 19. Aug. 1302 mit Peters von Aragonien Sohn Friedrich einen Vertrag, nach welchem dieser mit Karls Schwester vermählt und auf Lebenszeit als König von Sizilien anerkannt wurde. Karls II. Nachfolger war sein zweiter Sohn, Robert (1309–43), „der Gütige“, ein kluger, geistvoller Fürst; des ältern Bruders, Karl Martell, Sohn Karl Robert erhielt die Krone von Ungarn. Nach Roberts segensreicher Regierung ward das Königreich Neapel fast 100 Jahre lang von Ränken, Verbrechen und innern Kriegen zerrüttet. Robert hinterließ den Thron seiner Enkelin Johanna I. (1343–1382), welche mit Andreas von Ungarn, dem Sohn Karl Roberts, vermählt war. Der Krönung dieses unbedeutenden, ungebildeten Fürsten zum König widersetzte sich eine Partei am Hof, an deren Spitze zwei Brudersöhne des Königs Robert, Karl von Durazzo und Ludwig von Tarent, standen, und diese veranlaßten, vielleicht im Einverständnis mit Johanna, die ihren Gemahl geringschätzte, die Ermordung von Andreas (21. Aug. 1345), worauf Johanna 20. Aug. 1346 Ludwig von Tarent ihre Hand reichte. Als König Ludwig von Ungarn 1348 mit einem Heer gegen Neapel zog, um den Tod seines Bruders zu rächen, flüchtete Johanna, und Ludwig zog in Neapel ein, wo er über die Mörder seines Bruders ein blutiges Strafgericht verhängte, dem auch Karl von Durazzo zum Opfer fiel; doch schloß er im Oktober 1350, weil ihn der polnisch-litauische Krieg nach dem Norden zurückrief, mit Johanna unter Vermittelung des Papstes einen Waffenstillstand, und Johanna ward nebst ihrem Gemahl im Mai 1352 vom päpstlichen Legaten in Neapel feierlich gekrönt. Zur Thronerbin ward die Gemahlin Karls des Kleinen von Durazzo, Margarete, die Tochter von Johannas Schwester Maria, welche Johanna an Kindes Statt annahm, erklärt. Nach dem Tod Ludwigs von Tarent (1362) vermählte sich Johanna mit Jakob von Mallorca und, als auch dieser 1375 starb, 1376 mit Otto von Braunschweig, einem streitlustigen Bandenführer. Aber Ludwig von Ungarn erneuerte seine Ansprüche auf den Thron von Neapel, gewann auch Karl von Durazzo für sich und rüstete ein Heer aus, an dessen Spitze Karl von Durazzo Otto von Braunschweig 26. Juni 1381 bei San Germano besiegte. Hierauf besetzte Karl Neapel, nahm Johanna gefangen und ließ sie 22. Mai 1382 ermorden. Zwar suchte ihm Ludwig von Anjou, Sohn König Johanns von Frankreich, den Johanna an Sohnes Statt angenommen und zum Erben der Krone ernannt hatte, die Herrschaft streitig zu machen, indem er mit einem Heer in Neapel einfiel. Doch starb er schon 21. Sept. 1384 und nun ward Karl III. (1382–86) allgemein als König anerkannt. Aber schon 1386 fand er in Ungarn, wo eine Partei ihn als König aufgestellt hatte, einen gewaltsamen Tod, worauf ein Teil des Adels seinen Sohn Wladislaw, ein andrer Ludwig II. von Anjou zum König ausrief. Nach mannigfachen Wechselfällen entschied das Glück für Wladislaw, der 1390 als König anerkannt wurde und bis 1414 regierte. Ihm folgte seine Schwester Johanna II. (1414–35), welche 1421 Alfons V. von Aragonien, 1423 aber Ludwig III. von Anjou adoptierte, welcher seine Ansprüche auf den Thron seinem Bruder René hinterließ; allein dieser wurde von Alfons vertrieben, welcher 1442 Neapel einnahm und dies Königreich wieder mit Sizilien vereinigte.

Die spanische Herrschaft.

Alfons ernannte bei seinem Tod (1458) seinen natürlichen, aber legitimierten Sohn Ferdinand I. (1458–94) zum König von Neapel, während Sizilien mit Aragonien unter seinem Bruder Johann II. vereinigt bleiben sollte. Ferdinand, eigenwillig und rücksichtslos, war vor allem darauf bedacht, den unbotmäßigen Adel zu bändigen und die großen Lehnsgüter in zuverlässige Hände zu bringen; auch beförderte er Handel und Fabrikthätigkeit und wandte besonders der Seidenkultur seine Aufmerksamkeit zu. Als aber unter seinem Sohn Alfons II. (1494–95) Karl VIII. von Frankreich, die Ansprüche der Anjous auf den neapolitanischen Thron erneuernd, einen Kriegszug gegen Neapel unternahm, empörte sich ein Teil des Adels, und Alfons mußte nach Messina flüchten, wo er 19. Nov. 1495 starb. Karl VIII. hielt 22. Febr. 1495 seinen Einzug in Neapel und empfing 12. Mai die Krone, kehrte aber noch in demselben Jahr nach Frankreich zurück. Sofort landete Alfons’ Sohn Ferdinand II. mit sizilischen Schiffen, zwang, von einer spanischen Flotte und einem spanischen Landheer unterstützt, die französischen Besatzungen zur Kapitulation und zog im Januar 1496 wieder in Neapel ein; doch starb er schon 7. Sept. und hinterließ den Thron seinem Oheim Friedrich (1496–1501). Gegen diesen vereinigten sich König Ludwig XII. von Frankreich und Ferdinand der Katholische von Spanien 11. Nov. 1500 im Vertrag zu Granada zur Eroberung Neapels, von dem Kalabrien und Apulien an Ferdinand, das übrige Gebiet an Frankreich fallen sollte. Die vereinigten Spanier und Franzosen eroberten das Königreich rasch und ohne viel Widerstand zu finden; Friedrich wurde als Gefangener nach Frankreich abgeführt, wo er 1504 starb, und bei der Eroberung Tarents (1502) fiel auch sein Sohn Ferdinand in die Gewalt seiner Feinde. Die Verteilung der Beute führte unter diesen zu Streitigkeiten und endlich zum Krieg, in welchem die Franzosen nach verschiedenen Niederlagen, bei Seminara (21. April 1503), Cerignola (28. April) und am Garigliano (28. und 29. Dez.), das Land dem siegreichen Gonsalvo räumten, der 1504 dasselbe für die spanische Krone in Besitz nahm.

Nachdem die Versuche des Königs Franz I., in seinen beiden ersten Kriegen mit Karl V. Neapel zu erobern, gescheitert waren, blieben Neapel und Sizilien bis 1713 in spanischem Besitz und wurden von spanischen Vizekönigen regiert, deren erster Gonsalvo war. Die spanische Herrschaft hatte für das Königreich die verderblichsten Folgen: die alte ständische Verfassung wurde allmählich beseitigt, jede freie geistige Bewegung unterdrückt; die unwissende, träge [1009] und sittenlose Geistlichkeit hielt durch Beförderung eines blinden, sinnlichen Aberglaubens das Volk in geistiger Verdumpfung und in Unkenntnis über alle höhern Dinge. Der Grundbesitz häufte sich in den Händen des Adels und des Klerus an, und die ganze Last der hohen Steuern, deren Ertrag zum großen Teil in die Kasse des Königs von Spanien und des Oberlehnsherrn, des Papstes, floß, bedrückte das niedere Volk, welches durch die Verteurung der notwendigsten Lebensmittel in die bitterste Not geriet. Seine Verzweiflung führte, von unbedeutendem Streit ausgehend, unter Tommaso Aniello (Masaniello) zu einem Aufstand (7. Juli 1647), der aber an der Unfähigkeit der Führer und der mangelhaften Unterstützung seitens der Franzosen scheiterte. Im spanischen Erbfolgekrieg wurde Neapel von den Österreichern unter dem General Daun besetzt, und im Utrechter Frieden (1713) wurde diese Besitznahme gutgeheißen. Sizilien kam durch denselben Frieden an Savoyen, wurde aber schon 1720 gegen Sardinien ausgetauscht und wieder mit Neapel vereinigt.

Sizilien eine bourbonische Sekundogenitur.

Jedoch nicht lange blieb das Königreich unter der Herrschaft der österreichischen Habsburger: schon 1735 (definitiv 1738) trat Kaiser Karl VI. im Frieden von Wien Neapel und Sizilien an den Infanten Karl von Spanien als eine mit diesem Königreich nie zu vereinigende Sekundogenitur der spanischen Bourbonen ab. König Karl III. (1735–59) berief den freisinnigen Staatsmann Tanucci an die Spitze der Staatsgeschäfte, der vor allem die Privilegien des Klerus zum allgemeinen Besten einschränkte; denn 112,000 Geistliche waren nicht nur für sich und ihre Güter von den Landesgesetzen befreit, sondern auch alle, die in ihrem Bezirk ein Asyl suchten; der Papst betrachtete die geistlichen Stellen als sein Eigentum und bezog die Einkünfte derselben während ihrer Erledigung. Tanucci hob dies Recht auf, verlieh der weltlichen Macht gegenüber der kirchlichen eine größere Gewalt, minderte die Privilegien und die Zahl der Geistlichen und säkularisierte eine Menge von Klöstern zum Besten der Staatskasse. Als Karl III. 1759 auf den spanischen Königsthron berufen wurde, überließ er Neapel und Sizilien seinem jüngern Sohn, Ferdinand IV. (1759–1825), während dessen Minderjährigkeit Tanucci das Reich bis 1767 mit fast unumschränkter Gewalt regierte; noch energischer ging er nun gegen die Übergriffe der Kirche und gegen die Jesuiten vor. Aber als Ferdinand 1767 selbständig geworden war, verlor Tanucci allmählich den herrschenden Einfluß an die Königin Karoline, eine Tochter Maria Theresias, und wurde 1777 ganz beseitigt, worauf Karoline im Verein mit dem obersten Minister Acton ein launenhaftes Willkürregiment führte. Seit dem Ausbruch der französischen Revolution und der Hinrichtung ihrer Schwester Marie Antoinette von tödlichem Haß gegen die französische Republik und die Liberalen erfüllt, bestimmte sie ihren Gemahl 1798, noch vor der Kriegserklärung der zweiten Koalition mit einem Heer wenig geübter Truppen unter General Mack in den Kirchenstaat einzurücken. Rom wurde besetzt (29. Nov. 1798), und die neapolitanischen Truppen drangen bis Toscana vor, zogen sich aber ebenso schnell vor den wieder vordringenden Franzosen zurück, die nun in Neapel einfielen. Bestürzt und ratlos floh der König mit dem Hof nach Sizilien, ließ seine eigne Kriegsflotte in Brand stecken und gab das Land den Siegern preis, mit denen Mack nach mehreren unglücklichen Gefechten Waffenstillstand schloß. Hierüber entstand in der Hauptstadt ein furchtbarer Aufstand des gegen die Jakobiner und Verräter erbitterten Volkes, vor dem sich der königliche Statthalter nach Sizilien, Mack in das französische Lager flüchteten. Über Blut und Leichen bahnte sich Championnet, der Anführer der Franzosen, einen Weg in die hartnäckig verteidigte Hauptstadt, nach deren Eroberung (23. Jan. 1799) er im Einvernehmen mit den einheimischen, den gebildeten Ständen angehörigen Republikanern die Parthenopeische Republik gründete.

Der neue Staat war jedoch nur von kurzem Bestand, denn kaum waren die Alliierten in Oberitalien eingedrungen und hatten die Franzosen geschlagen, als die Geistlichkeit in Kalabrien das Volk zur Erhebung gegen die gottlose Republik aufrief. An die Spitze der „Glaubensarmee“, welcher sich auch Verbrecher und Räuber wie Fra Diavolo anschlossen, trat der vom König zum Generalvikar ernannte Kardinal Ruffo, der vor Neapel rückte, das die Franzosen 5. Mai geräumt hatten. Nachdem die „Patrioten“ die Stadt zehn Tage lang (13.–23. Juni) verteidigt hatten, übergaben sie dieselbe gegen das Versprechen ihrer Freiheit und Sicherheit. Der König genehmigte dasselbe jedoch nicht, und teils durch die fanatisierten Kalabresen und die Lazzaroni, teils infolge des Richterspruchs der hierzu eingesetzten Staatsjunta wurden zahlreiche Patrioten getötet oder eingekerkert, sowohl in der Hauptstadt als im übrigen Königreich. Der König, der am 10. Juli nach Neapel zurückkehrte, ließ diese Greuel ruhig geschehen. Als 1805 der Krieg der dritten Koalition gegen Frankreich ausbrach, ließ die Königin Karoline entgegen dem mit Napoleon abgeschlossenen Vertrag eine russisch-englische Flotte landen, worauf Napoleon 27. Dez. 1805 in Schönbrunn das Dekret erließ: „Die Dynastie der Bourbonen in Neapel hat aufgehört zu regieren“. Umsonst suchte die Königin erst durch eine demütige Gesandtschaft an Napoleon, dann durch Aufwiegelung der Lazzaroni und Kalabresen den Umsturz ihres Throns abzuwehren. Als die Franzosen unter Joseph Bonaparte und Masséna heranrückten, flüchtete der Hof wiederum nach Sizilien (15. Febr. 1806), das Ferdinand unter dem Schutz der englischen Flotte bis zum Sturz Napoleons behauptete. Unter blutigen Kämpfen nahm Joseph Besitz von der neapolitanischen Krone, die ihm sein Bruder verlieh (30. März), die er aber schon nach zwei Jahren (1808) an seinen Schwager Joachim Murat abtreten mußte, um den Thron Spaniens einzunehmen. Die französische Herrschaft fegte mit scharfem Besen die feudalen Institutionen, die Klöster und die klerikalen Vorrechte weg und gab dem Land eine moderne Gesetzgebung und Verwaltung. Doch dauerte sie nur bis zum Wiener Kongreß, auf welchem Neapel nach der Niederlage Murats bei Tolentino (2. und 3. Mai 1815) dem König Ferdinand zurückgegeben wurde.

Das Königreich beider Sizilien 1815–60.

Ferdinand IV. nahm nach seiner Rückkehr nach Neapel den Titel eines Königs beider Sizilien an und nannte sich als solcher Ferdinand I; die 1812 auf Verlangen Englands der Insel Sizilien erteilte freisinnige Verfassung wurde wieder aufgehoben. In einem geheimen Vertrag mit Österreich (1815) verpflichtete sich Ferdinand, keine Verfassung einzuführen und keine Einrichtungen zu treffen, die liberaler seien als die der Lombardei. Zwar änderte der träge, unfähige König an den von der französischen Herrschaft überkommenen Institutionen wenig, doch ließ er sie verfallen. Unter der schwachen und liederlichen Verwaltung, die nun eintrat, nahm die Zahl [1010] der Briganten so überhand, daß man ihre Zahl auf 30,000 schätzte und die Regierung, um sie etwas in Schranken zu halten, eine Bande gegen die andre dang. Die allgemeine Unzufriedenheit mit den bestehenden Zuständen wurde genährt von dem Geheimbund der Karbonari und ergriff auch die einem österreichischen General, Nugent, unterstellte Armee. Als daher 1820 die Kunde von der Revolution in Spanien erscholl, rief ein Leutnant in Nola, Morelli, 2. Juli 1820 die spanische Konstitution von 1812 aus, rückte mit seinem Dragonerregiment nach Neapel und erhielt auf seinem Marsch so große Verstärkung, daß man am Hof jeden Widerstand aufgab. Der König ernannte seinen Sohn, den Herzog Franz von Kalabrien, zum Prinzregenten, und dieser übertrug dem liberalen General Guglielmo Pepe den Oberbefehl über die Truppen und versprach die Einführung der spanischen Verfassung. Pepe forderte indes, daß der König selbst den Eid auf die Verfassung leisten solle, und Ferdinand that dies nicht nur 13. Juli, sondern fügte auch noch den Schwur hinzu, daß, wenn er lüge, Gott ihn in diesem Augenblick mit dem Blitz seiner Rache treffen möge. In Sizilien regten sich indes separatistische Gelüste, und das Volk in Palermo vertrieb 18. Juli den Statthalter, setzte eine provisorische Regierung ein und forderte bloße Personalunion mit Neapel. Zwar unterwarfen die neapolitanischen Truppen unter General Florestano Pepe die Insel bald wieder und nahmen 5. Okt. Palermo. Indes wurde die neue Regierung hierdurch geschwächt, und während in Neapel die Einführung der Verfassung 21. Jan. 1821 festlich begangen wurde, betrieb Metternich auf Bitten des Königs Ferdinand die Einmischung der Mächte. Auf dem Kongreß zu Laibach, wo Ferdinand selbst erschien und seinen Eid für erzwungen erklärte, beschlossen die Mächte im Januar 1821 die Intervention im Königreich beider Sizilien. Anfang Februar überschritt General Frimont mit 43,000 Österreichern die Grenze. Nach einem kurzen Gefecht bei Rieti (7. März) liefen die von Pepe befehligten neapolitanischen Truppen auseinander, und die Österreicher rückten 22. März in Neapel ein, wo ebenso wie auf der Insel Sizilien, wohin ein österreichisches Korps unter Wallmoden geschickt worden war, die alte Ordnung mit blutiger Strenge gegen die Urheber der Revolution hergestellt wurde. Ferdinand, der im Mai zurückkehrte, beseitigte alle liberalen Einrichtungen und erneuerte die frühere Mißwirtschaft.

Ferdinands Sohn Franz I. (1825–30) blieb während seiner kurzen Regierung dem System seines Vaters treu, während dessen Sohn Ferdinand II. (1830–59) anfangs manche nützlichen Reformen einführte und namentlich die Finanzen in trefflichen Stand brachte; Aufstände, zu denen die entsetzlich wütende Cholera auf Sizilien den Anlaß gab, boten die Gelegenheit, die völlige Verschmelzung der Insel mit dem Festland durchzuführen. Indes auch Ferdinand II. näherte sich mehr und mehr dem Regierungssystem seiner Vorgänger und erweckte dadurch wieder die allgemeinste Unzufriedenheit. Die Reformen, die Papst Pius IX. 1847 gab und versprach, riefen besonders auf Sizilien eine solche Erregung hervor, daß daselbst schon im Januar 1848 ein Aufstand ausbrach. Es war vergeblich, daß Ferdinand eine konstitutionelle Verfassung gab, die er übrigens bald wieder aufhob, und Palermo 14. Jan. bombardieren ließ. Sizilien sagte sich 13. April von den Bourbonen los und erwählte 11. Juli den Herzog von Genua, einen Sohn Karl Alberts von Sardinien, zum König. Indes die Neapolitaner behaupteten sich im Besitz der östlichen Hälfte der Insel, und als die Verhandlungen, welche während einer von Frankreich und England vermittelten Waffenruhe geführt wurden, kein Ergebnis hatten, begannen sie den Kampf im April 1849 von neuem und eroberten 14. Mai Palermo, womit Sizilien unterworfen war. Auch in Neapel hatte sich die Bürgerschaft gegen die Tyrannei des Königs erhoben, war aber 15. Mai 1848 durch die Schweizergarden und den entfesselten Pöbel bezwungen worden.

Die Reaktion, welche in Neapel und Sizilien auf die Erhebung folgte, war schlimmer als anderswo; 22,000 Menschen wurden wegen politischer Vergehen bestraft; seine liberalen Minister schickte der König auf die Galeeren. Seine Herrschaft artete in einen reinen Militärdespotismus aus, so daß Frankreich und England, durch Briefe Gladstones auf die Zustände im Königreich aufmerksam gemacht, dem König die Verleihung einer Verfassung anrieten und, als ihre Vorstellungen nichts fruchteten, ihre Gesandten abberiefen (Oktober 1856). Während der Geheimbund der Camorra den Staat unterwühlte, suchten eine revolutionäre und eine muratistische Partei die Herrschaft der Bourbonen zu stürzen. 1856 versuchte ein Baron Bentivegna in Sizilien einen Aufruhr, und 1857 landete der sardinische Dampfer Cagliari mit politischen Flüchtlingen an der Küste Neapels, um das Volk zur Empörung aufzurufen; beide Unternehmungen mißlangen. Doch wagte der König nicht, in Neapel zu bleiben, sondern bezog das Schloß Caserta, wo er von zahlreichen Truppen bewacht wurde. Nach seinem Tod (22. Mai 1859) folgte sein junger, einseitig erzogener und völlig unerfahrener Sohn Franz II., der nicht im stande war, in liberale Bahnen einzulenken, und trotz aller Bemühungen des russischen und des französischen Gesandten sich weigerte, sich mit Sardinien zu einer Einigung Italiens zu verbinden. Schon ein Jahr nach seinem Regierungsantritt brach vor dem unwiderstehlichen Einheitsdrang der Italiener sein morscher Thron zusammen. Am 11. Mai 1860 landete Garibaldi in Marsala auf Sizilien, und schon 6. Juni war Palermo in seiner Gewalt. Zu spät stellte nun Franz II. die Verfassung von 1848 her, ernannte ein liberales Ministerium und erklärte sich zu einer Amnestie und zu einer Allianz mit Sardinien bereit. Im August betrat schon Garibaldi in Kalabrien den Boden des Festlandes, 6. Sept. verließ der König Neapel, um sich mit dem treugebliebenen Teil des Heers, 40,000 Mann, hinter den Volturno zurückzuziehen, und 7. Sept. hielt Garibaldi seinen Einzug in die Hauptstadt; am 21. Okt. 1860 begann die Abstimmung des Volkes, das mit überwältigender Mehrheit (1,732,000 Ja gegen 11,000 Nein) sich für den Anschluß an Sardinien und die Vereinigung mit dem Königreich Italien entschied. Die Eroberung des Königreichs vollendeten die sardinischen Truppen, welche nach der Einnahme von Capua (2. Nov.) die Neapolitaner zum Rückzug nach Gaeta zwangen, das nach tapferer Verteidigung durch die junge Königin Maria, eine bayrische Prinzessin, 13. Febr. 1861 kapitulierte. Die Citadelle von Messina ergab sich 10. März, Civitella del Tronto 20. März; seitdem bildete das Königreich beider Sizilien einen Bestandteil des Königreichs Italien. Die entthronte Königsfamilie, welche keinen ernstlichen Versuch zu ihrer Wiederherstellung machte, und von der einzelne Mitglieder sich sogar mit Italien versöhnten, zog sich nach Rom zurück. Der jetzige Kronprinz von Italien ist 1869 in Neapel geboren und erhielt daher den Titel eines Prinzen von Neapel.

[1011] Vgl. Giannone, Storia civile del regno di Napoli (Neap. 1723, 4 Bde.; Mail. 1844 ff., 14 Bde.), und im Anschluß hieran Colletta, Storia di Napoli dal 1734 al 1825 (Capolago 1835, 2 Bde. u. öfter; deutsch, Grimma 1850, 8 Bde.); Seibert, Geschichte des Königreichs Neapel 1050–1505 (Brem. 1862); Reuchlin, Geschichte Neapels während der letzten 70 Jahre (Nördling. 1862); di Sivo, Storia delle due Sicilie dal 1846 al 1861 (Rom 1863 ff.); Orloff, Mémoires historiques, etc., sur le royaume de Naples (n. Aufl., Par. 1819–21, 5 Bde.; deutsch, Leipz. 1821, 2 Bde.); Rüstow, Der italienische Krieg von 1860 (Zürich 1861); Romano-Manebrini, Documenti sulla rivoluzione di Napoli 1860–62 (Neap. 1865).