Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Sibyllen“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 14 (1889), Seite 931
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Sibyllen. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 14, Seite 931. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Sibyllen (Version vom 14.11.2024)

[931] Sibyllen (Sibyllae), im Altertum von einer Gottheit (gewöhnlich Apollon) begeisterte, weissagende Frauen, über deren Zahl, Namen und Vaterland jedoch nichts Übereinstimmendes überliefert ist. Sie werden in sehr verschiedenen Gegenden genannt, am frühsten in Kleinasien in der Umgegend des troischen Ida, in dem ionischen Erythrä, dessen Sibylle (Herophile) mit der Zeit vor allen andern berühmt ward, ferner auf Samos, zu Delphi sowie zu Cumä und Tibur in Italien und anderwärts. Stets werden sie als Jungfrauen geschildert, die in einsamen Grotten und Höhlen oder an begeisternden Quellen wohnen, vom Geist Apollons ergriffen in wilder Entzückung wahrsagen und beim Volk im höchsten Ansehen standen. Sie heißen bald Apollons Priesterinnen, bald seine Geliebten, Schwestern oder Töchter. In Griechenland weissagten sie besonders an solchen Orten, wo sich Orakel des Gottes befanden, verschwanden aber, sobald die Orakelstätte in Ruf gekommen war. Dem Geist nach einander verwandt, werden die S. vielfach auch äußerlich miteinander in Verbindung gebracht; namentlich galt die erythräische Sibylle für identisch mit der aus der römischen Geschichte bekannten cumäischen (auch Amalthea genannt). Von letzterer sollten die Sibyllinischen Bücher, eine Sammlung von Weissagungen (in griechischen Versen?), herstammen, die nach der bekannten Sage einst Tarquinius von einer geheimnisvollen Greisin um ungeheuern Preis ankaufte, und die nur von eigens dazu bestellten Priestern und nur auf Befehl des Senats befragt werden durften. In der gallischen Katastrophe gingen diese Bücher in Flammen auf, und man veranstaltete eine neue Sammlung in asiatischen und griechischen Städten, die später von Augustus gesichtet, aber im 5. Jahrh. n. Chr. auf Befehl Stilichos verbrannt wurde. Die Alten erwähnen auch eine chaldäisch-jüdische Sibylle, Namens Sabba oder Sambethe, welche mit einer babylonischen, auch ägyptischen identifiziert ward. Die jetzt noch in griechischen Versen existierenden 12 Bücher „Sibyllinischer Orakel“ sind spätern Ursprungs (2. und 3. Jahrh. n. Chr.) und bestehen aus einem vorwiegend jüdischen und einem vorwiegend christlichen Grundstock (hrsg. von Alexandre, Par. 1841–56, 2 Bde., und Friedlieb mit Übersetzung, Leipz. 1852, 2 Bde.). Vgl. Ewald, Über Entstehung, Inhalt und Wert der Sibyllinischen Bücher (Götting. 1858); Dechent, Über das 1., 2. u. 11. Buch der Sibyllinischen Weissagungen (Frankf. a. M. 1873); Badt, Ursprung, Inhalt und Text des 4. Buches der Sibyllinischen Orakel (Bresl. 1878); Maaß, De Sibyllarum indicibus (Greifsw. 1879). – Da die Weissagungen der S. von einigen Kirchenvätern auf das Erscheinen Christi gedeutet wurden, nahm sie die christliche Kunst in den Bereich ihrer Darstellungen auf. Es gibt deren von Giotto, den Brüdern van Eyck (Genter Altar), Roger van der Weyden u. a. Die berühmtesten sind die fünf S. von Michelangelo in der Sixtinischen Kapelle und die vier S. von Raffael in Santa Maria della Pace in Rom.