MKL1888:Senĕca
[860] Senĕca, 1) Marcus Annäus, der Rhetor, geboren zu Corduba in Spanien, studierte unter Augustus zu Rom, wo er mit den berühmtesten Rednern und Rhetoren verkehrte, kehrte dann nach Spanien zurück und starb hier in hohem Alter um 37 n. Chr. Als Greis verfaßte er für seine Söhne, allein auf sein wunderbares Gedächtnis gestützt, eine Sammlung von Schulthemen, wie sie in seiner Studienzeit von den namhaftesten Rhetoren in Rom behandelt worden waren, unter dem Titel: „Oratorum et rhetorum sententiae, divisiones, colores“, enthaltend 7 sogen. Suasoriae in einem Buch und 35 Controversiae in 10 Büchern, von denen wir jedoch nur noch Bd. 1–2, 7–10 und einen Auszug des Ganzen aus dem 4. oder 5. Jahrh. besitzen. Ausgaben liegen vor von Gronov (Leiden 1649, 3 Bde.; Amsterd. 1672), Bursian (Leipz. 1857), Kießling (das. 1872) und H. J. Müller (Prag 1887).
2) Lucius Annäus, der Philosoph, Sohn des vorigen, geboren um 4 v. Chr. zu Corduba in Spanien, widmete sich in Rom rhetorischen und philosophischen Studien, erhielt unter Caligula die Quästur und die Würde eines Senators, ward 41 von Claudius auf Anstiften der Messalina als angeblicher Teilnehmer an den Ausschweifungen der Julia Livilla nach Corsica ins Exil geschickt, nach acht Jahren wieder nach Rom zurückgerufen, zum Prätor ernannt und von Agrippina mit der Erziehung ihres Sohns Nero betraut. Nach der Thronbesteigung seines Zöglings (54) blieb er in der nächsten Umgebung desselben und übte einen heilsamen Einfluß auf den jungen Fürsten aus, der ihn außer andern Bezeigungen seiner Dankbarkeit durch die Übertragung des Konsulats (57) auszeichnete. Intrigen seiner Gegner zerstörten das gute Einvernehmen mit Nero und bewogen ihn, sich vom Hof und der Öffentlichkeit ganz zurückzuziehen (62). Unter dem Vorgeben der Teilnahme an der Verschwörung des Piso verurteilt, ließ er sich, da ihm die Todesart freigestellt war, die Adern öffnen und, da dieses Mittel nicht schnell genug wirkte, in einem Dampfbad ersticken (65). Er ist nach Cicero der bedeutendste philosophische und überhaupt einer der geistreichsten und originellsten Schriftsteller der Römer. Von seinen zahlreichen prosaischen Schriften sind erhalten: 1) eine unter dem Namen „Dialogi“ überlieferte Sammlung, enthaltend die Abhandlungen: „De providentia“, „De constantia sapientis“, „De ira“ (3 Bücher), „Ad Marciam de consolatione“, „De vita beata“, „De otio“, „De tranquillitate animi“, „De brevitate vitae“, „Ad Polybium de consolatione“, „Ad Helviam matrem de consolatione“ (Ausg. von Koch-Vahlen, Berl. 1878; von Gertz, Kopenh. 1886); 2) „De clementia“, 2 Bücher (an Nero gerichtet bald nach seinem Regierungsantritt); 3) „De beneficiis“, 7 Bücher (mit „De clementia“ hrsg. von Gertz, Berl. 1876); 4) „Epistulae morales ad Lucilium“, 124 Briefe über philosophische Gegenstände verschiedener Art (hrsg. in 20 Büchern von Schweighäuser, Straßb. 1809); 5) „Quaestiones naturales“, 7 Bücher über naturwissenschaftliche Gegenstände, das erste und einzige physikalische Lehrbuch der römischen Litteratur, hauptsächlich aus stoischen Quellen geschöpft, im Mittelalter lange als Hauptquelle der Physik benutzt; 6) „Apocolocynthosis“ („Verkürbissung“, statt Apotheosis, „Vergötterung“), eine bittere Satire auf den verstorbenen Kaiser Claudius (hrsg. von Bücheler, Berl. 1882), nach Art der Menippeischen Satire des Varro Prosa mit Versen wechselnd. Neuere Gesamtausgaben der prosaischen Schriften lieferten Fickert (Leipz. 1842–45, 3 Bde.), Haase (das. 1852–53, 3 Bde.); Übersetzungen: Moser, Pauly und Haakh (Stuttg. 1828, 17 Bde.) sowie Forbiger (Auswahl, das. 1867, 4 Bde.). S. zeigt in seinen Schriften lebhafte Einbildungskraft, gebildetes Urteil, edles Gefühl und eine tiefe Kenntnis des menschlichen Herzens. Die Darstellung ist eindringlich und beredt, aber bisweilen etwas gesucht, dabei voll von Antithesen. Als Philosoph ist S. ein eklektischer Stoiker zu nennen; bisweilen verrät er eine Tendenz, den Stoizismus und Epikureismus in höherer Einheit zu vermitteln. [861] Die Philosophie ist ihm Streben nach Weisheit und sittlicher Vollkommenheit und hat demnach nur Wert in ihrer beständigen Beziehung auf das Leben. In dieser rein moralischen Tendenz ist wohl der Grund der Tradition zu suchen, welche den S. zu einem Christen macht und ihn in Verbindung mit dem Apostel Paulus setzt. Daß S. auch Dichter war, ist ausdrücklich bezeugt. Außer einigen Epigrammen tragen seinen Namen zehn Tragödien: „Hercules furens“, „Thyestes“, „Thebaïs“ („Phoenissae“), „Phaedra“, „Oedipus“, „Troades“, „Medea“, „Agamemno“, „Hercules Oetaus“ und die Prätexta „Octavia“ (hrsg. von Peiper und Richter, Leipz. 1867; von Leo, Berl. 1878–79, 2 Bde.; übersetzt von Swoboda, Prag 1828–30, 3 Bde.), von denen die letzte ihm sicher nicht angehört, die Echtheit der übrigen jedoch zu bezweifeln, wie vielfach geschehen ist, kein Grund vorliegt. Stoff und Form derselben sind griechisch; in der Form gibt sich selbst ein Bestreben kund, die Griechen zu überbieten, daher oft Schwulst und Überladung, oft gesuchte Kürze und Dunkelheit, oft geradezu Unnatur. Vgl. Holzherr, Der Philosoph L. A. S. (Rast. 1858–59); Hochart, Études sur la vie de Senèque (Par. 1885); Kreyher, L. A. S. und seine Beziehungen zum Urchristentum (Berl. 1886); W. Ribbeck, L. A. S. und sein Verhältnis zu Epikur, Plato und dem Christentum (Hannov. 1887).