Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Seekultus“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 14 (1889), Seite 806807
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Seekultus. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 14, Seite 806–807. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Seekultus (Version vom 13.11.2022)

[806] Seekultus, die Verehrung der als Beherrscher der stehenden Gewässer angenommenen Naturmächte durch Anrufungen, Weihgaben und Opfer. Es ist hier zwischen Meer- und Landseenkultus zu unterscheiden, sofern in den Meergöttern meist nur die der Schiffahrt freundlichen oder feindlichen Gewalten, die Personifikationen der Stürme, Ungewitter, Wellen, Strudel, Klippen etc., in Betracht kamen. Die Zersplitterung in zahlreiche Meergötter (Okeanos, Proteus, Glaukos, Tritonen, Nereiden, Sirenen etc.) machte den Meereskultus bei den Griechen zu einem sehr zusammengesetzten Tempeldienst, wenn auch die oberste Gewalt in den Händen des in allen Hafenstädten verehrten Poseidon (s. d.) blieb. Als oberste Schützer in Seenöten wurden bei den klassischen Völkern die im Elmsfeuer auf den Masten sichtbar werdenden Dioskuren (s. d.) angerufen, an deren Stelle später verschiedene christliche Heilige, St. Elmo (Erasmo), St. Nikolas von Bari u. a., traten. Ägypter und Phöniker führten kleine Zwerggötter (Patäken, Kabiren, Kanoben) als Schutzgötter auf den Fahrzeugen. Als Patronin der Schiffahrt galt auch die Isis, welche die Segel erfunden haben sollte, und ihr zu Ehren wurde noch im mittelalterlichen Europa die Eröffnung der Schiffahrt durch feierliche Prozessionen mit einem Schiff begangen. An ihre Stelle [807] trat später die als „Stern des Meers“ angerufene heil. Jungfrau; in Frankreich wallfahrten die Seeleute zu den Strandkirchen ihrer Mutter, der heil. Anna. – Der S. im engern Sinn, der sich meist an einsamen Waldseen vollzog, richtete sich an die Mächte der Tiefe, den Mutterschoß der Erde, aus dem Leben und Fruchtbarkeit emporsprießt, um nach dem Absterben wieder in denselben zurückzukehren, und war daher bei den meisten alten Völkern mit dem Kultus der Erdmutter, der Fruchtbarkeits- und Totengöttin, eng verbunden. Die Tempel der Mutter An bei den Assyrern, der Anaitis in Syrien, der Kybele in Phrygien, der Buto in Ägypten, der Artemis in Taurien und Griechenland, der Diana in Italien, der Hertha (Nerthus) bei den Germanen etc. waren entweder am Ufer solcher Waldseen angelegt, wie z. B. zahlreiche auf Pfahlrosten stehende Artemistempel in Griechenland oder der in neuester Zeit ausgegrabene Dianentempel am Nemisee bei Rom, oder es befand sich ein künstlich ausgegrabener See in unmittelbarer Verbindung mit demselben. An bestimmten Jahresfesten wurde das Tempelbild der Göttin in Prozession zu dem See geführt und in demselben gebadet; damit scheinen, namentlich im Artemis- und Herthakultus, sehr häufig Menschenopfer, die im heiligen See ertränkt wurden, verbunden gewesen zu sein. Später traten an die Stelle der Menschenopfer Weihgaben aus Wertgegenständen, die in den See geworfen wurden, wobei man es, wie Zosimos berichtet, als günstiges Zeichen nahm, wenn die in kostbare Stoffe eingehüllten Gold-, Silber- und sonstigen Weihgaben im See des Anaitistempels zu Aphaka (im Libanon) sogleich untersanken, und es als Vorbedeutung des nahen Falles von Palmyra ansah, als der See das Opfer der Zenobia verschmähte. Nach der Ansicht von Keller, Worsaae und andrer Prähistoriker hat ein ähnlicher S. in den Pfahlbau-Ansiedelungen von ganz Europa stattgefunden, denn nur so scheinen sich die massenhaften Funde ungebrauchter Gold- und Bronzegegenstände, Schmucksachen u. dgl. ungezwungen zu erklären, die man an bestimmten Stellen der Pfahlbauten und auch sonst im alten Seeboden findet, und zu deren Erklärung man früher an Magazinbrände u. dgl. dachte. Aus mancherlei Gründen hat E. Krause nachzuweisen gesucht, daß es sich in den Pfahlbauten um einen Dianakult gehandelt habe, worauf auch die zahlreichen thönernen Mondsicheln zu deuten scheinen, die man neben massenhaften Bronzeschmucksachen bei Niedau am Bieler See fand, die aber von andern als Halskissen, um die Kopffrisur über Nacht zu schonen, angesehen werden. Überreste des alten S. haben sich noch hier und da, unter anderm auch in der auf die Menschenopfer beziehbaren Redensart: „der See will sein Opfer haben!“ erhalten. Der Nixe des sehr tiefen Blautopfs (s. d.) bei Blaubeuren soll noch 1641 ein goldener Becher geopfert worden sein, um das stürmische, die Umgebung mit Überschwemmung bedrohende Aufwallen desselben zu besänftigen. Auch der Ring des Polykrates und das Ringopfer des Dogen der aus einem Pfahlbau entstandenen Stadt Venedig scheinen solche Überreste des alten S. gewesen zu sein.