MKL1888:Schlafstellenwesen
[828] Schlafstellenwesen. Schlafstellen liegen gewöhnlich in gemeinschaftlichen Räumen, in welchen also einander fremde, nicht zusammengehörige Personen zum Zwecke gleichzeitigen Nächtigens Unterkunft finden. Oft, besonders in großen Städten und Industriebezirken, nächtigen dieselben Personen mehrere Nächte an derselben Stelle in der Familienwohnung kleiner Leute (Schlafburschen, Schlafmädchen), während Personen, die nirgends Wohnung oder Unterkunft haben, Logierhäuser niedrigsten Ranges gewöhnlich nur für eine oder wenige Nächte aufsuchen und die Asyle für Obdachlose die Obdachsuchenden nur für eine beschränkte Zahl von Nächten aufnehmen. Alle diese Einrichtungen, mit Ausnahme der letztern, sind oft bedenklichsten Charakters, die common lodging houses [829] im Osten Londons zeigen nichts als Schmutz und Elend, Roheit und Verkommenheit; sie sind förmliche Brutstätten des Verbrechens. 1875 wurden in Berlin gegen 79,000 Schlafleute gezählt, von denen gegen 800 in Räumen ohne Heizungsanlage nächtigten, während 48,500 sich mit ihren Schlafwirtsfamilien zusammen in einen heizbaren Wohnraum teilen mußten. Bei der Enge und Ärmlichkeit der meisten hierbei in Frage kommenden Wohnungen war die Aufnahme der Schlafgänger nur unter äußerster Einschränkung des Raumes möglich, und an eine Trennung von der Familie, an eine Sonderung der Geschlechter war nicht zu denken. Diese Verhältnisse hatten überall nicht nur schlimme sittliche Folgen, es wurde auch die Gesundheit direkt bedroht, und unter dem Gesichtspunkt der Ansteckungsgefahr, der Übertragung von Infektionskrankheiten wurde die ganze Einwohnerschaft in Mitleidenschaft gezogen. Gegenwärtig steht das S. unter verschärfter Beaufsichtigung. In dieselbe Schläferherberge sollen Personen verschiedenen Geschlechts nicht aufgenommen werden. Die Trennung setzt aber auch besondere Hausflure, Treppen, Abtritte voraus. Auf jeden Schlafgast sollen mindestens 3 qm Bodenfläche und 10 cbm Luftkubus entfallen. Jeder Schlafgast soll eine gesonderte Lagerstätte erhalten, welche mindestens aus Strohsack, Strohkopfkissen, im ungeheizten Raume auch noch aus einer Wolldecke bestehen soll. Nur bei einer abendlichen Zimmertemperatur von 12° darf letztere fehlen. Bettstellen dürfen nicht übereinander gestellt werden. In bestimmten Zeiträumen sind die Strohsäcke zu reinigen und ist das Stroh zu erneuern. Waschgerät, Wasch- und Trinkwasser muß vorhanden sein. Vor- und nachmittags sind die Räume zu lüften, Fußböden, Decken, Wände, Abtritte sind nach Vorschrift zu reinigen etc. Kommt ein Schlafgast mit ansteckender Krankheit in die Schläferherberge, oder erkrankt er in derselben unter dem Verdacht einer solchen Krankheit, so ist der Sanitätspolizeibehörde sofort Anzeige zu erstatten. Auch das Aufnehmen einzelner Schlafleute in Familien ist sicherheits- und sanitätspolizeilicher Kontrolle zu unterwerfen, welche gewisse dringendste hygienische Forderungen auch unter den erschwerendsten Verhältnissen (Wohnungsnot) durchzusetzen hat. Mittels der in Berlin streng durchgeführten Meldepflicht und der sanitätspolizeilichen Nachforschung zu Epidemiezeiten werden auch die nötigen Anhalte bezüglich der Herdbildung beim Einbruch ansteckender Krankheiten gewonnen. Im Anschluß an die Resultate der Volkszählung von 1885, nach denen sich die Zahl der Schlafburschen auf 57,832, die der Schlafmädchen auf 26,855 belief, konnte amtlich berichtet werden, daß gesundheitlich bedenkliche Zustände im Berliner S. nicht hervorgetreten seien. Das städtische Berliner Asyl für Obdachlose mußte trotz seiner primitiven Einrichtung in Barackenform 1885: 96,812 Personen Obdach gewähren, ein zweites Asyl für obdachlose Familien wurde in demselben Jahre von 14,064 Familien und 62,489 einzelnen Personen aufgesucht. Dazu nahmen die Asyle des Berliner (Wohlthätigkeits-) Asylvereins 1885: 108,241 Männer und 18,033 Frauen zum Nächtigen auf. In den städtischen Asylen häufen sich die Gäste im Dezember, Januar, Februar bemerklich an, während in den übrigen Asylen die monatlichen Aufnahmeziffern sich durch alle Jahreszeiten ziemlich gleich bleiben. In diesen letztern Asylen werden den Obdachlosen auch Reinigungsbäder verabreicht und in ca. 18 Proz. der Zugänge seitens der Männer, in 12–13 Proz. seitens der Frauen benutzt. In London, wo man die Bäder bei der Aufnahme obligatorisch gemacht hat, wirken diese so abschreckend, daß das Nächtigen in Thorwegen etc. ungleich häufiger bevorzugt wird als in Berlin. In Industriebezirken (Gebweiler, Saarbrücken, Mülhausen, Elberfeld etc.) hat man Schläferherbergen mit etwas größerm Komfort eingerichtet, welche auch Arbeit nachweisen und sich mithin mehr den Zwecken und der Gestaltung der Handwerkerherbergen nähern, auch leichter zu beaufsichtigen sind.