Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Schachspiel“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 14 (1889), Seite 370371
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Schachspiel. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 14, Seite 370–371. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Schachspiel (Version vom 02.04.2023)

[370] Schachspiel (franz. Échecs, engl. Chess), bekanntes Brettspiel, das verbreiteste und geistreichste aller Spiele, in welchem nicht die Zufälle des Glücks, sondern nur Umsicht und Scharfsinn zum Sieg führen. Das S. stellt eine Schlacht dar. Zwei gleich starke Heere (nämlich 16 weiße und 16 schwarze Figuren) stehen auf einem in 64 Quadratfelder von wechselnder Farbe geteilten Brett einander geordnet gegenüber, um sich zu schlagen und das Oberhaupt, den König, „matt (v. arab. math, tot) zu machen“, d. h. ihn so zu umzingeln, daß er, zum letztenmal angegriffen (in Schach gestellt), kein Feld mehr betreten darf, sondern dem Sieger sich ergeben muß. Hiermit ist das Spiel beendet. Hat schließlich keine Partei mehr genügende Kräfte, den Gegner zu überwältigen, so bleibt die Partei unentschieden (remis). Gleiches ist der Fall: 1) wenn ein Spieler den feindlichen König beständig in Schach hält („ewiges Schach“); 2) wenn eine Partei dem Gegner die Möglichkeit jeglichen Zugs abgeschnitten hat, ohne zugleich den König anzugreifen (Patstellung). Die 16 Figuren einer jeden Partei sind: König, Dame (Königin), 2 Läufer, 2 Springer (altdeutsch Rössel), 2 Türme (Rochen) und 8 Bauern. Die acht Offiziere (so heißen die höherwertigen Stücke im Gegensatz zu den Bauern) stehen auf der dem Spieler zunächst liegenden Felderreihe des Brettes: die Türme in den Ecken, neben ihnen die Springer, weiterhin die Läufer und auf den Mittelfeldern König und Dame (letztere stets auf dem Feld ihrer Farbe: regina servat colorem). Die acht Bauern stehen unmittelbar vor den Offizieren. Jede Figurenart hat ihre bestimmte Gangweise und daher auch ihren bestimmten Wert. Der Turm bewegt sich geradlinig, der Läufer aber in schräger Richtung, so daß er nur Felder Einer Farbe bestreicht; der Springer springt schräg ins dritte Feld, von Weiß auf Schwarz und umgekehrt. Läufer und Springer sind minder stark als der Turm und heißen deshalb im Gegensatz zu diesem und der Dame „leichte Offiziere“. Die Dame, die weitaus mächtigste Figur, vereinigt in sich die Kraft von Turm und Läufer. Der König zieht nach allen Richtungen, aber (majestätisch!) nur einen Schritt; der Bauer endlich geht vom Standfeld aus zwei oder einen, nachher aber immer nur einen Schritt vorwärts, während ihm das Schlagen nur nach rechts oder links ins nächste Feld gestattet ist. Das Schachbrett wird so gestellt, daß jeder Spieler ein weißes Eckfeld zur Rechten hat. Die Spieler thun wechselweise je einen Zug. Das moderne Vierschach, eine völlig bedeutungslose, den eigentlichen Geist des Spiels erheblich trübende Abart des Zweischachs, wird so selten gespielt, daß ein Hinweis auf die am Ende citierte Litteratur genügt. Von einem Erfinder des Spiels wissen wir nichts; die allbekannte Geschichte vom Brahmanen Sissa ist nur eine hübsche Fabel. Auch wann das Spiel erfunden wurde, läßt sich nicht mit Gewißheit sagen. Doch ist es mehr als wahrscheinlich, daß die jahrhundertelang beliebten Hypothesen über das Alter des Schachspiels total falsch sind, und daß das Spiel nicht weiter als bis höchstens 500 unsrer Zeitrechnung zurückgeht. Der indische Ursprung des Schachspiels ist sicher, denn nur aus dem indischen Tschaturanga läßt sich das persische Schatrandsch herleiten. Aber unsre Quelle für indisches S. (38 Sanskritdistichen aus dem Tithitattra der Baghunandana) ist eine verhältnismäßig ganz junge, und wir dürfen nicht annehmen, daß jenes Würfelvierschach die älteste Version des königlichen Spiels bildet. Die Regeln des Tschaturanga, dieses merkwürdigen Glücksspiels, konnte auch der neueste Übersetzer des indischen Textes, Professor Weber in Berlin, nicht sicher und vollständig feststellen. Gewiß ist, daß vier Spieler, jeder mit acht Figuren, auf einem Brett zogen, daß je zwei Spieler verbündet waren, und daß durch Würfel bestimmt wurde, welche Figur (König, Elefant, Roß, Nachen oder Fußkämpfer) zu ziehen habe. Das Schatrandsch ist das alte Zweischach. Anstatt der vier Könige des Tschaturanga gibt es hier nur zwei, denen zwei Räte (Wesire, pers. Farzin) zur Seite stehen. Übrigens war sowohl im Tschaturanga als auch im Schatrandsch die unserm heutigen Turm entsprechende Figur (Tschaturanga: Elefant, der Gangweise nach gleich Schatrandsch: Ruch) die mächtigste; der Wesir und der Alfil (bedeutet Elefant, doch ist die Figur der Gangweise nach gleich dem Nachen des Tschaturanga) des Schatrandsch waren sehr schwache Stücke. Wie es gekommen ist, daß die verschiedenen Spiele dem Elefanten verschiedene Rollen angewiesen haben, ist nicht ausgemacht. Der König hieß im Schatrandsch (persisch) Schah, daher unser „Schach“. Das Schatrandsch kam zuerst durch die Araber nach Europa (Griechen und Römer haben sicherlich nie etwas von dem Spiel gewußt) und herrschte hier ungefähr 500 Jahre lang. Gegen Ende des 15. Jahrh. trat das Spiel durch Einführung der erweiterten Kraft des Läufers und der Dame (mit alten Namen Alfil und Wesir oder Fers) in ein ganz neues Stadium. Der Reichtum an Kombinationen wuchs nun derartig, daß es sich verlohnte, nicht mehr allein die Endspiele, sondern auch die Eröffnungen des Schachspiels zu studieren und die Resultate solcher Forschungen aufzuzeichnen. So entstanden in Spanien die Schachwerke des Lucena (1497), Damiano (1512), Ruy Lopez (1567), in Italien die des Gianuzio (1597), Salvio (1604 u. 1634), Carrera (1617) und Greco (1619). Die Italiener stehen übrigens insgesamt auf den Schultern ihres Landsmanns Polerio, dessen Arbeiten Manuskript geblieben sind. Italien und Spanien waren im 16. und zu Anfang des 17. Jahrh. die Kulturstätten des Schachspiels, und die berühmtesten Spieler der Zeit (Leonardo il Puttino, Paolo Boi und Ruy Lopez) gehörten diesen Nationen an. Vom Dreißigjährigen Krieg an bis Mitte des 18. Jahrh. lag das S. in ganz Europa danieder. Um 1750 entstanden in Frankreich und Italien die Schulen des Philidor und Ercole del Rio; diesen Meistern folgten nach einigen Jahrzehnten Stein in Holland und Allgaier in Wien. In der ersten Hälfte unsers Jahrhunderts teilten sich England, Frankreich und Deutschland in die Pflege des Schachspiels; erst neuerdings trat auch Nordamerika hinzu. Die Wettkämpfe (matches) zwischen dem genialen Franzosen de Labourdonnais und dem irischen Meister A. Mac Donnell (1834) wirkten allenthalben anregend; 1841 gründete H. Staunton eine englische Schachzeitung, und fünf Jahre später folgte Bledow, der älteste Meister der Berliner Schule, diesem Beispiel. Die „Deutsche Schachzeitung“ besteht noch heute und ist jetzt das älteste Journal ihrer Art. Das Verdienst, große Schachturniere ins Leben gerufen zu haben, gebührt den Engländern, welche 1851 zum erstenmal die besten Spieler aller Nationen nach London einluden. Der erste Preis fiel bei dieser Gelegenheit einem Deutschen, A. Anderssen (s. d.), zu, welcher seitdem auch in zwei folgenden internationalen Turnieren (1862 zu London und 1870 zu Baden-Baden) die Palme festhielt. Der geniale Amerikaner Morphy, [371] der in den letzten 50er Jahren alle seine Landsleute und alle Europäer, mit denen er spielte, besiegt hat, zog sich leider sehr schnell vom S. zurück und hat nie in einem Turnier ersten Ranges mitgekämpft. Die jüngsten derartigen Turniere fanden 1880 zu Wiesbaden, 1882 in Wien, 1883 in London, 1887 in Herford (England) statt. Zu erwähnen sind außer den schon genannten noch das Turnier von Paris (1867), wo Kolisch, und das kleinere zu Bristol (1861), wo L. Paulsen den ersten Preis gewann; die internationalen Turniere des Deutschen Schachbundes (gegründet 1879, umfassend 85 deutsche Klubs, Sitz in Leipzig), welche während der Periode 1879–89 zu Leipzig, Berlin, Nürnberg, Hamburg und Frankfurt a. M. stattfanden; endlich auch die zahlreichen kleinern Kongresse der deutschen und englischen Schachassociationen. Am großartigsten ist in unsern Tagen jedenfalls das Schachtreiben in London und New York, wo sich zahlreiche Schachmeister von Beruf aufhalten. Die moderne Problemkunst (Komposition künstlicher Endspiele) ist eine Schöpfung der letzten 25 Jahre. Auf diesem Gebiet haben sich die Deutschen (Bayer, Berger, Klett, Kohtz, Kockelkorn u. a.) unstreitig den meisten Ruhm erworben.

Vgl. v. d. Linde, Geschichte und Litteratur des Schachspiels (Berl. 1874, 2 Bde.); Derselbe, Das erste Jahrtausend der Schachlitteratur (das. 1880); alles übrige ist veraltet. Anleitungen zum Spiel für Anfänger: Portius, Katechismus der Schachspielkunst (9. Aufl., Leipz. 1882), für Geübtere: v. d. Lasa, Leitfaden für Schachspieler (5. Aufl., das. 1880); M. Lange, Lehrbuch (2. Aufl., Halle 1865); Suhle und Neumann, Neueste Theorie und Praxis des Schachspiels (Berl. 1865). Gewissermaßen der Kodex der gesamten bisherigen Ergebnisse der Theorie des Spiels ist v. Bilguer, Handbuch des Schachspiels (6. Aufl., Leipz. 1880). Für Vierschach: Enderlein, Theoretisch-praktische Anweisung zum Vierschachspiel (2. Aufl., Berl. 1837). Eine Tabelle der Spieleröffnungen gibt Cordel, Führer durch die Schachtheorie (Berl. 1888). Außer der „Deutschen Schachzeitung“ (seit 1846, jetzt in Leipzig von v. Bardeleben und v. Gottschall redigiert) u. der „Wiener Schachzeitung“ (redigiert von S. Gold, seit 1888) existieren in Frankreich, England, Dänemark, Italien, Rußland, Holland und Nordamerika eigne Organe des Spiels.


Ergänzungen und Nachträge
Band 17 (1890), Seite 722
korrigiert
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[722] Schachspiel. Eine neue Zeitschrift: „Deutsches Wochenschach“, geben Schallopp, Heyde und Hülsen heraus (6. Jahrg., Braunschw. 1890).