Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Sage“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 14 (1889), Seite 170171
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Sage. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 14, Seite 170–171. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Sage (Version vom 18.05.2024)

[170] Sage, im allgemeinen alles, was gesagt und von Mund zu Mund weiter erzählt wird, also s. v. w. Gerücht; im engern Sinn eine im Volk entstandene erdichtete oder durch Erdichtung ausgeschmückte und mündlich fortgepflanzte Erzählung von irgend einer Begebenheit. Knüpft sich die S. an geschichtliche Personen und Handlungen, indem sie die im Volk fortlebenden Erinnerungen an geschichtliche Zustände, Persönlichkeiten, dunkel gewordene Thaten zu vollständigen Erzählungen ausbildet, so entsteht die geschichtliche S. und, sofern sie sich auf die alten Helden des Volkes erstreckt, die Heldensage; sind aber die Götter mit ihren Zuständen, Handlungen und Erlebnissen Gegenstand der S., so entsteht die Göttersage oder der Mythus (s. Mythologie) und auf dem Gebiet monotheistischer dogmatischer Religion die Legende (s. d.). Haftet die Erzählung an bestimmten Örtlichkeiten, so spricht man von örtlichen Sagen. Noch eine Sagengattung bildet endlich die Tiersage, welche von dem Leben und Treiben der Tiere, und zwar fast ausschließlich der ungezähmten, berichtet, die man sich mit Sprache und Denkkraft ausgerüstet vorstellt. Oft hat sich um eine besonders bevorzugte Persönlichkeit, wie z. B. König Artus, Dietrich von Bern, Attila, Karl d. Gr. etc., und deren Umgebung eine ganze Menge von Sagen gelagert, die nach Ursprung und Inhalt sehr verschieben sein können, aber doch unter sich in Zusammenhang stehen, und es entstehen dadurch Sagenkreise, wie deren im Mittelalter in germanischen wie romanischen Ländern mehrere bestanden und zahlreiche Epen hervorgerufen haben (vgl. Heldensage). Die echte S. erscheint somit als im lebendigen Glauben wurzelnd und aus dem Drang des dichterischen Volksgeistes entsprungen. Obwohl wie alle Volkspoesie am kräftigsten blühend in der ältern Zeit, verstummt sie doch auch bei weiterer Kultur nicht; vielmehr ist der Volksgeist noch heute thätig, bedeutende Vorgänge und Persönlichkeiten mit dem Schmuck der S. zu umkleiden. Die Anknüpfung an ein gewisses Wirkliches, sei dies ein innerliches oder äußerliches, ist hauptsächlich das Merkmal, welches die S. vom Märchen (s. d.) unterscheidet. Wie das Märchen, liebt sie das Wunderbare und Übernatürliche, obschon ihr dasselbe nicht unentbehrlich ist. Am meisten wohnt sie in Burg- und Klosterruinen, an Quellen, Seen, in Klüften, an Kreuzwegen etc., und zwar findet sich eine und dieselbe S. nicht selten an mehreren Orten wieder. [171] Um die Erhaltung der deutschen S. haben sich zuerst die Gebrüder Grimm verdient gemacht durch ihre reiche Sammlung: „Deutsche Sagen“ (Berl. 1816 bis 1818, 2 Bde.; 2. Aufl. 1866). Nächst diesen sind die Sammlungen von A. Kuhn und Schwartz („Norddeutsche Sagen“, Leipz. 1848), J. W. Wolf („Deutsche Märchen und Sagen“, das. 1845), Panzer („Bayrische Sagen“, Münch. 1848, 2 Bde.), Grässe („Sagenbuch des preußischen Staats“, Glogau 1871) und Klee (Gütersl. 1885) als besonders reichhaltige Quellen zu nennen. Als Sammler von Sagen einzelner Länder, Gegenden und Örtlichkeiten waren außerdem zahlreiche Forscher thätig, so für Mecklenburg: Studemund (1851), Niederhöffer (1857) und Bartsch (1879); für Schleswig-Holstein: Müllenhoff (1845); für Niedersachsen: Harrys (1840), Schambach und Müller (1855); für Hamburg: Beneke (1854); für Lübeck: Deecke (1852); für Oldenburg: Strackerjan (1868); für den Harz: Pröhle (2. Aufl. 1886); für Mansfeld: Giebelhausen (1850); für Westfalen: Kuhn (1859) und Krüger (1845); für die Altmark: Temme (1839); für Brandenburg: Kuhn (1843); für Sachsen: Grässe (1874); für das Vogtland: Köhler (1867) und Eisel (1871); für Thüringen: Bechstein (1835, 1858), Börner (Orlagau, 1838), Sommer (1846), Wucke (Werragegend, 1864), Witzschel (1866); für Schlesien: Kern (1867); für Ostpreußen etc.: Tettau (1837) und Reusch (Samland, 1863); für den Rhein: Simrock (9. Aufl. 1883), Geib (3. Aufl. 1858) und Kiefer (4. Aufl. 1876); für Westfalen: Hartmann (1883); für Franken etc.: Bechstein (1842), Janssen (1852), Herrlein (Spessart, 2. Aufl. 1885), Enslin (Frankfurt, 1856), Kaufmann (Mainz, 1853); für Hessen: Kaut (1846), Wolf (1853), Lynker (1854) und Bindewald (1873); für Bayern: Maßmann (1831), Schöppner (1852), v. Leoprechting (Lechrain, 1855), Schönwerth (Oberpfalz, 1858); für Schwaben: Meier (1852) und Birlinger (1861–1862); für Baden: Baader (1851); für das Elsaß: Stöber (1852); für Luxemburg: Steffen (1853); für die Niederlande: Wolf (1843); für die Schweiz: Rochholz (1856) und Lütolf (1862); für Tirol: M. Meyer (2. Aufl. 1884), Zingerle (1859) und Schneller (1867); für Vorarlberg: Vonbun (1847 u. 1858); für Österreich: Bechstein (1846), Gebhart (1862) und Dreisauff (1879); für Kärnten: Rappold (1887); für Böhmen: Grohmann (1863); für die Alpen: Vernaleken (1858), Alpenburg (1861) und Zillner (Untersberg, 1861); für Siebenbürgen: Müller (2. Aufl. 1885). Die Sagen Rumäniens sammelte Schuller (1857), die Islands Maurer: (1860) und Poestion (1884), der Lappländer: Poestion (1885), der Norweger: Asbjörnson (deutsch 1881), der Südslawen: Kraus (1884), der Litauer: Langkusch (1879) und Veckenstedt (1883), der Russen: Goldschmidt (1882), die der Indianer Amerikas: Amara George (1856) und Knortz (1871), indische Sagen Beyer (1871), japanische Brauns (1884), altfranzösische A. v. Keller (2. Aufl. 1876), deutsche Pflanzensagen Perger (1864), die deutschen Kaisersagen Falkenstein (1847), Nebelsagen Laistner (1879) etc. Die Sagen bilden mit den im Volk umlaufenden Märchen, Legenden, Sprichwörtern etc. den Inhalt der sogen. Folklore (s. d.), die seit neuerer Zeit Gegenstand reger wissenschaftlicher Forschung ist. Vgl. J. Braun, Die Naturgeschichte der S. (Münch. 1864–65, 2 Bde.); Uhland, Schriften zur Geschichte und S., Bd. 1 u. 7 (Stuttg. 1865–68); Henne-Am Rhyn, Die deutsche Volkssage im Verhältnis zu den Mythen aller Völker (2. Aufl., Wien 1879); v. Bahder, Die deutsche Philologie im Grundriß (Paderb. 1883).