Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Rattazzi“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 13 (1889), Seite 592
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Rattazzi. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 13, Seite 592. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Rattazzi (Version vom 19.09.2021)

[592] Rattazzi, 1) Urbano, ital. Staatsmann, geb. 29. Juni 1808 zu Alessandria, studierte in Turin die Rechte und ward sodann an dem Appellationsgericht zu Casale angestellt. 1848 in die Zweite Kammer gewählt, schloß er sich hier der Linken an und ward, nachdem er schon im August wenige Tage Minister gewesen, im Dezember 1848 von Gioberti mit der Leitung des Innern, später mit dem Ministerium der Justiz betraut. Nach der Schlacht bei Novara 26. März 1849 mit den übrigen Ministern zurückgetreten, wurde er 1852 Präsident der Deputiertenkammer. Im Oktober 1853 übernahm er unter Cavour das Ministerium der Justiz und ward in dieser Stellung der Urheber der Gesetze, welche die Trennung der Kirche vom Staat herbeiführten. Weil er das von Cavour abgeschlossene französisch-sardinische Bündnis nicht billigte, schied er Anfang 1858 aus dem Kabinett. Als Cavour im Juli 1859 nach dem Frieden von Villafranca sich zurückzog, erhielt R. den Auftrag, ein neues Ministerium zu bilden, das bis 1860 bestand. Gegen die Abtretung von Savoyen und Nizza protestierte R. anfangs, war aber dann der wärmste Fürsprecher eines engen Bündnisses mit Frankreich. Im März 1862 trat er abermals an die Spitze des Kabinetts, mußte aber wegen seiner Hinneigung zu Napoleon III., die sich durch seine Vermählung mit der Prinzessin Marie Bonaparte, verwitweten Solms (s. unten), verstärkte, und wegen seines Einschreitens gegen Garibaldi im August 1862 bei Aspromonte 1. Dez. wieder zurücktreten. Nach Ricasolis Rücktritt im April 1867 übernahm er wieder die Leitung des Kabinetts, benahm sich aber, als Garibaldi den Freischarenzug gegen Rom ins Werk setzte, so zweideutig und schwankend, daß er im Oktober, als die Franzosen wieder in den Kirchenstaat einrückten, die Regierung niederlegen mußte. Noch immer hatte er als ausgezeichneter Redner im Parlament, in dem er Führer der Linken blieb, großen Einfluß; sein Mangel an Charakterfestigkeit aber hatte seinen Ruf als Staatsmann erschüttert. Er starb 5. Juni 1873 plötzlich in Frosinone. Seine Reden gab Scovazzi (Rom 1876–80, 8 Bde.) heraus. 1885 wurde ihm ein Denkmal in Alessandria gesetzt. Vgl. Morelli, U. R., saggio politico (Pad. 1874); „R. et son temps. Documents inédits“ (Par. 1881, Bd. 1).

2) Marie Studolmine, franz. Schriftstellerin, Gemahlin des vorigen, geb. 25. April 1835 als die Tochter des Iren Th. Wyse (gest. 1862 als britischer Gesandter in Athen) aus dessen Ehe mit der Prinzessin Lätitia Bonaparte, der ältesten Tochter von Lucian Bonaparte, wuchs, da die Eltern getrennt lebten, in dürftigen Verhältnissen auf, bildete sich in Paris zur Lehrerin aus und heiratete 1850 einen reichen Elsässer, Friedrich v. Solms, der sich infolge ihrer Extravaganzen aber bald von ihr scheiden ließ. Sie führte darauf in Nizza, Aix und später in Paris ein abenteuerliches Leben, schriftstellerte dabei und verheiratete sich 1862 mit Urbano R., den sie auf ihren Reisen hatte kennen lernen. Nach dem Tode desselben (1873) nahm sie ihr abenteuerliches Leben wieder auf, irrte in den Hauptstädten Europas umher und vermählte sich 1880 in dritter Ehe mit dem noch blutjungen spanischen Cortesmitglied de Rute. Als Schriftstellerin trat sie in verschiedenen Formen und Stoffen, unter eignem und fremdem Namen auf. Von ihren dramatischen Versuchen nennen wir: „Quand on n’aime plus trop, on n’aime plus assez“, „L’épreuve“, „Un livre de chair“, „Les suites d’un ménage de garçon“, „Amour et cymbales“ etc. Tragen diese schon einen eigentümlichen, keineswegs weiblichen Charakter, so tritt ihre Emanzipationslust und Ungeniertheit noch mehr in ihren Romanen hervor, besonders in „Les mariages de la Créole“ (1864, 3. Aufl. 1882), der bei seinem Erscheinen verboten wurde. Von den übrigen werden am meisten genannt: „La réputation d’une femme“ (1861); „Mademoiselle Million“ (1862); „Les débuts de la forgeronne“ (1866); „La Mexicaine“ (1866); „Le chemin du Paradis“ (1867) u. a. Eine Art Selbstbiographie enthalten ihre Bücher: „Rêve d’une ambitieuse“ (1868, 2 Bde.) und „Florence; portraits, chronique, confidences“ (1870). Außerdem veröffentlichte sie die Dichtungen: „Cara patria; échos italiens“ (1873), „L’ombre de la mort“ (1875) etc., eine Biographie Rattazzis: „R. et son temps“ (1881, Bd. 1), und die Reisebilder: „L’Espagne moderne“ (1879), „Le Portugal à vol d’oiseau“ (1883).