MKL1888:Polārforschung
[159] Polārforschung. Nach der großen Anzahl von Entdeckungsreisen früherer Zeiten nach den Polarregionen brach sich am Anfang der 70er Jahre dieses Jahrhunderts die Ansicht immer mehr und mehr Bahn, daß rein geographische Entdeckungsfahrten weniger Wert und kein rechtes Ziel haben, wenn sie nicht zugleich von planmäßig angestellten Beobachtungen begleitet sind. Gerade für die Polarzonen ist das von Wichtigkeit, weil von der Kenntnis ihrer meteorologischen und physikalischen Verhältnisse die Lösung wichtiger Fragen über die Physik der Erde und die Vorgänge in der Atmosphäre abhängt. Angeregt durch die 1874 ausgerüstete englische Nordpolarexpedition an den Westküsten Grönlands (1875–76), entwarf der im Oktober 1870 zu Bremen gegründete Verein für deutsche Nordpolarfahrten einen Plan, gleichzeitig mit der englischen Expedition eine deutsche nach der Ostküste Grönlands zu senden, und legte denselben im Januar 1875 dem deutschen Bundesrat als Petition für die Ausrüstung einer solchen vor. Dieser übergab den Plan einer Kommission, welche sich, nachdem sie im Oktober 1875 zusammengetreten war, ganz entschieden dafür aussprach, daß es am zweckmäßigsten sein würde, eine Anzahl fester Beobachtungsstationen in den Polargegenden zu errichten und von dort aus Untersuchungsfahrten zu Land und zu Wasser zu unternehmen, und dabei betonte, wie wichtig es wäre, die systematische P. auch auf die andern Teile des Nordpolarmeers durch Beteiligung andrer Staaten auszudehnen, wenn man der Lösung der Polarfrage näher treten wolle. Die von der Kommission befürwortete und für 1877 geplante deutsche Forschungsexpedition nach Ostgrönland unterblieb sowohl aus Mangel an den dazu erforderlichen Geldmitteln, als auch, weil es bis dahin nicht möglich gewesen war, einen allseitig angenommenen Plan zur Errichtung von Polarstationen international zu vereinbaren.
Schon bevor die Polarkommission zusammengetreten war, hatte Weyprecht, welcher durch seine Polarfahrten 1871–74 auf der österreichischen Expedition mit dem Isbjörn und Tegetthoff berühmt geworden, in seinem Vortrag „Über Nordpolexpeditionen“ auf der Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte zu Graz im September 1875 die Ansicht ausgesprochen, daß die wissenschaftliche Erforschung der Polargegenden am zweckmäßigsten von festen Stationen aus durchgeführt werden könnte, und daher gebührt ihm das Verdienst, der erste gewesen zu sein, welcher die Idee der internationalen P. durch praktisch ausführbare Vorschläge bestimmt formuliert hat. Er stellte in seinem Vortrag die fünf Thesen auf: 1) die arktische Forschung ist für die Kenntnis der Naturgesetze von höchster Wichtigkeit; 2) die geographische Entdeckung in jenen Gegenden ist nur insofern von höherm Wert, als durch sie das Feld für die wissenschaftliche Forschung in engerm Sinn vorbereitet wird; 3) die arktische Detailgeographie ist nebensächlich; 4) der geographische Pol besitzt für die Wissenschaft keinen höhern Wert als jeder andre in höhern Breiten der Erde gelegene Punkt; 5) die zu errichtenden arktischen Beobachtungsstationen sind um so günstiger, je intensiver die Erscheinungen, deren Studium angestrebt wird, an ihnen auftreten.
Diese Sätze Weyprechts betrafen aber nur die eine Polarzone, die nördliche oder arktische; für die Idee der Ausführung von planmäßigen Beobachtungen in der andern, der südlichen oder antarktischen Zone, und für das gleichzeitige Zusammenwirken von Beobachtern in beiden Polarzonen zu Zwecken der P. war Professor Neumayer schon vor Weyprecht anregend und belehrend eingetreten. Die von ihm ausgesprochenen Ideen und formulierten Vorschläge wurden zusammen mit denen von Weyprecht dem zweiten internationalen Meteorologenkongreß in Rom im April 1879 bei Gelegenheit der Beratung über „Errichtung einer Zahl von Observatorien in den arktischen und antarktischen Regionen zu gleichzeitigen stündlichen meteorologischen und magnetischen Beobachtungen rings um die Pole herum“ vorgelegt und fanden allgemeine Zustimmung der Mitglieder des Kongresses. Überhaupt fanden die Bestrebungen einer systematischen P. wegen der Wichtigkeit derartiger Forschungen für die Lösung einer großen Anzahl von meteorologischen Fragen bei dem Meteorologenkongreß zu Rom eine äußerst warme Unterstützung, und derselbe beauftragte das internationale Komitee, eine Spezialkommission zu berufen, welche die erforderlichen Details für die Errichtung fester Beobachtungsstationen in den Polargegenden zwischen den verschiedenen Staaten vereinbaren sollte. Diese Kommission (Polarkommission) trat zu ihrer ersten internationalen Polarkonferenz in den Tagen vom 1. bis 5. Okt. 1879 zu Hamburg unter dem Vorsitz von Neumayer zusammen. Mit dieser ersten Hamburger Konferenz trat das Unternehmen der internationalen P. nach den Vorschlägen von Weyprecht und Neumayer aus dem Stadium des Projekts in das der Ausführung, indem sich die internationale Polarkommission konstituierte und die Delegierten der meisten dabei beteiligten Staaten bindende Erklärungen ihrer bezüglichen Regierungen in Bezug auf die Errichtung von Stationen in den Polarzonen geben konnten. Im J. 1880 folgte vom 7. bis 9. Aug. die zweite internationale Polarkonferenz in Bern ebenfalls unter Vorsitz von Neumayer und vom 1. bis 4. Aug. 1881 die dritte in Petersburg unter Vorsitz von Wild, Direktor des physikalischen Zentralobservatoriums und Vorsitzender des internationalen meteorologischen Komitees. Nach dem auf der zweiten Konferenz die Vertagung des Termins für die internationale P. von 1881–82 auf 1882–83 beschlossen war, wurde auf der dritten ein Programm der auf den internationalen Polarstationen auszuführenden Beobachtungen vereinbart und ein gemeinsamer Arbeitsplan festgesetzt. Danach sollten die Beobachtungen möglichst früh nach dem 1. Aug. 1882 beginnen und möglichst spät vor dem 1. Sept. 1883 beendigt werden. Die Beobachtungen selbst zerfielen in obligatorische und fakultative, und zwar gehörten zu den erstern die meteorologischen und erdmagnetischen Beobachtungen, von denen die letztern sowohl die absoluten Werte der magnetischen Deklination, Inklination und Intensität als auch die Werte ihrer Variationen bestimmen sollten. Die magnetischen Variationsinstrumente sollten während der ganzen Zeit von Stunde zu Stunde und außerdem am 1. und 15. jeden Monats (den sogen. Terminstagen) von Mitternacht bis Mitternacht alle 5 Minuten abgelesen werden. Außerdem bezogen sich die obligatorischen Beobachtungen noch auf die Polarlichter und auf astronomische Bestimmungen, während als fakultative Beobachtungen spezielle Fragen der Meteorologie, des Erdmagnetismus, der galvanischen Erdströme, des Polarlichts sowie hydrographische Untersuchungen und Beobachtungen der Luftelektrizität, der astronomischen und terrestrischen Refraktion, der Dämmerung, der Länge des Sekundenpendels etc. empfohlen wurden. Endlich wurde bei sämtlichen Stationen noch darauf Rücksicht genommen, [160] nebenbei auch für die Geographie an sich, die Geologie, Botanik und Zoologie die Gelegenheit thunlichst auszunutzen. Leider erlebte Weyprecht den Erfolg seiner rastlosen Bemühungen um die Organisation des Beobachtungssystems der internationalen P. nicht mehr (er starb 29. März 1881); er wird aber für alle Zeiten als Begründer der neuern P. hochgeschätzt werden.
Die schließliche Ausführung des Projekts ist vollständiger geworden, als es irgend erwartet werden konnte. Nachdem in dem ursprünglichen Programm 8 Polarstationen als erforderlich erklärt waren, ist vom 1. Aug. 1882 bis 1. Sept. 1883 auf der nördlichen Halbkugel auf 12 und auf der südlichen auf 2 beobachtet worden. Nachstehende Übersicht verzeichnet diese 14 Stationen und deren Chefs:
Ort | Breite | Länge | Besetzt durch | Chef |
von Greenwich | ||||
1) Point Barrow | 71,3° N. | 156,4° W. | Vereinigte Staaten | Leutnant Ray |
2) Fort Rae | 62,5° N. | 115,7° W. | England und Kanada | Kapitän Dawson |
3) Cumberlandgolf | 67,0° N. | 68,0° W. | Deutschland | Dr. Giese |
4) Lady Franklin-Bai | 81,3° N. | 65,0° W. | Vereinigte Staaten | Leutnant Greely |
5) Godthaab | 64,2° N. | 51,7° W. | Dänemark | Adjunkt Paulsen |
6) Jan Mayen | 71,0° N. | 8,6° W. | Österreich¹ | Leutnant Wohlgemuth |
7) Kap Thordsen (Spitzbergen) | 78,5° N. | 15,5° O. | Schweden¹ | Kapitän Malmberg |
8) Bossekop | 69,9° N. | 23,0° O. | Norwegen | Assistent Steen |
9) Sodankylä | 67,4° N. | 26,6° O. | Finnland | S. Lemström und Biese |
10) Möllerbai (Nowaja Semlja) | 72,5° N. | 53,0° O. | Rußland | Leutnant Andrejew |
11) Dicksonhafen | 73,5° N. | 82,0° O. | Niederlande¹ | Dr. Snellen |
12) Lenamündung | 73,0° N. | 124,7° O. | Rußland | Leutnant Jürgens |
13) Kap Hoorn | 55,8° S. | 67,5° O. | Frankreich | Kapitän Martial |
14) Südgeorgien | 54,0° S. | 37,0° O. | Deutschland | Dr. Schrader |
- ¹ Diese drei Expeditionen kamen durch Zusammenwirken der Regierungen mit Privatpersonen zu stande; die österreichische wurde vom Grafen Wilczek ausgerüstet, die schwedische erhielt vom Kaufmann O. Smith, die niederländische durch eine Sammlung einen großen Teil ihrer Fonds.
Um die Lücke im Beobachtungsnetz zwischen Grönland und Kanada zu schließen, hat das Deutsche Reich noch eine Expedition nach den sechs Missionen der Herrnhuter Gemeinde in Labrador gesandt, um dort meteorologische Stationen einzurichten und an ihnen während des Beobachtungsjahrs 1882–83 Beobachtungen anzustellen. Ebenso haben auch noch andre Staaten übernommen, Verbindungsstationen anzulegen, so Italien in Patagonien, Rußland im N. und O. des eignen Reichs, namentlich in Sibirien und in Finnisch-Lappland. Nach Verlauf des Beobachtungsjahrs (nur die Vereinigten Staaten haben ihre Expeditionen schon im Sommer 1881 und zwar auf volle drei Jahre ausgesendet, und die russische an der Lenamündung ist noch ein zweites Jahr [1883–84] in Thätigkeit geblieben) sind die Expeditionen mit reichem Beobachtungsmaterial beladen heimgekehrt.
Vorläufige Zusammenstellungen und Berichte über die Ergebnisse der Beobachtungen sind seitdem von allen Stationen in verschiedenen Zeitschriften veröffentlicht worden, und für die meisten sind auch bereits die vollständigen Publikationen erschienen, so für die beiden von Deutschland ausgerüsteten Stationen unter dem Titel: „Die internationale P. Die Beobachtungsergebnisse der deutschen Stationen, herausgegeben im Auftrag der deutschen Polarkommission von Neumayer und Börgen“, Band 1: Kingua-Fjord, Band 2: Südgeorgien (Berl. 1886). Das auf diese Weise von den verschiedenen zivilisierten Staaten zusammengebrachte Material enthält die erforderlichen Grundlagen zur weitern Klärung mancher wichtigen Frage der Meteorologie und der Physik der Erde.
Vgl. K. Weyprecht, Über Nordpolexpeditionen (Vortrag bei der Naturforscherversammlung, Graz 1875); Protokolle der ersten, zweiten und dritten Polarkonferenz zu Hamburg (1879), Bern (1880), Petersburg (1881); Neumayer, Denkschrift über einige Vorschläge zu Punkt 31 des Programms des zweiten internationalen Meteorologenkongresses zu Rom (Hamb. 1879); v. Schleinitz, Über die P. etc. (in den „Verhandlungen der Gesellschaft für Erdkunde in Berlin“, 1880); Ekholm, L’expédition suédoise au Spetsberg 1882–83 (Upsala 1884); „Observations internationales polaires. Expédition danoise. Observations faites à Godhaab, publiées par l’Institut météorologique de Danemark“ (Kopenh. 1886); „Beobachtungen der russischen Polarstation an der Lenamündung (bearbeitet von Eigner, Petersburg 1886) und auf Nowaja Semlja“ (bearbeitet von Andrejew, das. 1887); die „Beobachtungsergebnisse“ der deutschen Stationen (hrsg. von Neumayer und Börgen, Berl. 1886, 2 Bde.), der österreichischen Polarstation Jan Mayen (hrsg. von der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften, Wien 1886–1887, 3 Bde.), der norwegischen Polarstation Bossekop in Alten (hrsg. von Steen, Christiania 1887 ff.).