Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Neumen“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 12 (1888), Seite 92
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Neumen. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 12, Seite 92. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Neumen (Version vom 06.05.2021)

[92] Neumen, 1) Bezeichnung der melismatischen Verzierungen des Gregorianischen Gesanges (s. d.). –

1. Übersicht der Neumen.
[obere Zeile:] […] Punctum […] Bipunctum […] Tripunctum […] Apostropha […] Distropha […] Tristropha […] Virga […] Bivirgis
[2. Zeile:] […] Trivirgis […] Scandicus […] Salicus […] Climacus […] Flexa (Clivis, Clissis, Plica descendens) […] Pes (Podatus, Plica ascendens)
[3. Zeile:] […] Pes Flexus (Torculus) […] Strophicus […] Sinuosa […] Porrectus (Gutturalis) […] Gnomo (Hemivocalis Epiphonus)
[untere Zeile:] […] Quilisma
2. Neumen ohne Linie (aus dem Antiphonar von St. Gallen; 9. Jahrh.).
3. Neumen mit einer Linie.
4. Neumen auf vier Linien. 5. Nota quadrata.

2) Eine Art stenographischer Notenschrift, in welcher das Gregorianische Antiphonar und überhaupt der gesamte kirchliche Ritualgesang bis in die neueste Zeit hinein notiert wurde. Der Ursprung der N. ist unbekannt, wird aber wohl italisch gewesen sein (nota romana). Die älteste bekannte Form der N. (aus dem 9. Jahrh.) zeigt zierliche Häkchen, Strichelchen, Punkte und allerlei kombinierte Gestalten, die einer sprachlichen Stenographie täuschend ähnlich sehen (Beispiel 1–3). Im Lauf der Jahrhunderte vergröberten und verdickten sich die Züge zu nagel- und hufeisenartigen Gestalten. Im 10. Jahrh. fing man an, die Tonhöhenbedeutung der N. durch eine Linie (f-Linie) zu fixieren (Beispiel 3). Nachdem Guido von Arezzo das Liniensystem vervollkommt und seine noch heute übliche Anwendung geregelt hatte, schwand der letzte Rest von Undeutlichkeit der Tonhöhenbedeutung (Beispiel 4). Zugleich aber entwickelte sich die sogen. Nota quadrata oder quadriquarta (Beispiel 5), die viereckige Note (s. Choralnote), welche nun überwiegend die N. verdrängte.

Eine vollständige Entzifferung der N. ohne Linien ist wahrscheinlich nicht möglich, weil sie nach den Zeugnissen frühmittelalterlicher Schriftsteller mehr ein Hilfsmittel für das Gedächtnis als eine genaue Notierung waren. Daher nannte man sie auch usus; man mußte die Gesänge kennen, die man aus einer Neumennotierung ablesen wollte. Die Elemente der Neumenschrift waren: 1) die Zeichen für eine einzelne Note: Virga (Virgula) und Punctum; 2) das Zeichen für ein steigendes Intervall: Pes (Podatus); 3) das Zeichen für ein fallendes Intervall: Clinis (Flexa); 4) einige Zeichen für besondere Vortragsmanieren: Tremula (Bebung), Quilisma (Triller), Plica (Doppelschlag) etc. Die übrigen sind entweder Synonyme der hier genannten oder Kombinationen derselben, z. B. Gnomo, Epiphonus, Cephalicus, Oriscus, Ancus, Tramea, Sinuosa, Strophicus, Bivirgis, Trivirgis, Distropha, Semivocalis etc. Über N. haben in neuerer Zeit gearbeitet: Lambillotte, Coussemaker, A. Schubiger und H. Riemann.