Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Molière“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 11 (1888), Seite 721722
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Molière. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 11, Seite 721–722. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Moli%C3%A8re (Version vom 26.12.2021)

[721] Molière (spr. mollĭähr), eigentlich Jean Baptiste Poquelin, der größte franz. Lustspieldichter, geb. 15. oder 17. Jan. 1622 zu Paris, erhielt seine Bildung auf dem Collège de Clermont (später Louis le Grand), genoß den Unterricht des berühmten Philosophen Gassendi (seine Lukrezübersetzung fällt in diese Zeit), studierte die Rechte und trat 1643, einer unwiderstehlichen Neigung folgend, unter dem Namen „M.“ in eine Schauspielertruppe, welche wegen schlechter Geschäfte im Jahr 1646 oder 1647 in die Provinz ging. Hier schwang sich M. bald zum Direktor auf, durchstreifte mit seiner Truppe zwölf Jahre lang ganz Frankreich und kehrte 1658, an Erfahrungen reich, nach Paris zurück. In die Wanderzeit fallen, neben vielen unbedeutenden Stücken, seine beiden Lustspiele: „L’Étourdi“ und „Le dépit amoureux“. Bald erwarb sich die neue Truppe die Gunst des Königs und Monsieurs, seines Bruders, dessen Truppe sie sich nannte, die des Publikums erst 1659 durch die „Précieuses ridicules“, eine scharfe Satire gegen die Unnatur und Ziererei der Sprache, die in den Zirkeln des Hotel Rambouillet gesprochen wurde. Dadurch machte er sich viele Feinde, die in Verbindung mit den in ihrem Privileg geschädigten Schauspielern des Hotel Bourgogne keine Gelegenheit vorübergehen ließen, um M. in Wort und Schrift anzugreifen. Auf „Sganarelle“ (1660) und den mißglückten „Don Garcia“ (1661) folgten im selben Jahr „L’école des maris“, eine Nachahmung der „Adelphi“ des Terenz, und „Les Fâcheux“. 1662 ging er eine Ehe ein mit Armande Béjart, der Schwester (oder Tochter) seiner frühern Geliebten, Madeleine Béjart, die ihm durch ihren Leichtsinn und ihre Untreue sein ganzes Leben verbittert hat. Schon wenige Monate darauf war er in der Lage, in dem ergreifenden Lustspiel „L’école des femmes“ seine Verzweiflung zu schildern. Auf die heftigen Angriffe seiner Feinde antwortete er mit der „Critique de l’École des femmes“ und dem „Impromptu de Versailles“. Nach einigen Gelegenheitsstücken: „Le mariage forcé“, „La princesse d’Élide“ (1664), „Don Juan, ou le Festin de Pierre“, „L’amour médecin“ (1665), brachte er 1666 den „Misanthrope“, sein großartigstes und wahrstes Stück, auf die Bühne und, nachdem er wiederum einige kleinere Stücke für die Unterhaltung des Hofs verfaßt hatte („Le médecin malgré lui“, „Le ballet des muses“, „Le Sicilien, ou l’Amour peintre“), 1667 den „Tartuffe“ unter dem Titel: „L’Imposteur“, aber nur mit Einer Vorstellung; erst 1669 gelang es ihm, nach Überwindung der äußersten Schwierigkeiten, das Stück drei Monate hindurch auf dem Repertoire zu erhalten; der Jubel des Publikums entschädigte ihn für die Exkommunikationen und die offenen und versteckten Angriffe seiner Feinde. In der Zwischenzeit (1668) gingen der „Amphitryon“, „George Dandin“ und „L’Avare“ über die Bretter; letzterer, nach Plautus und in Prosa geschrieben, von Goethe für „besonders groß und in hohem Grade tragisch“ gehalten, wird in Deutschland von Molières Stücken am häufigsten gelesen und gespielt. Nun folgen wieder Unterhaltungsstücke für den Hof: „Monsieur de Pourceaugnac“, „Les amants magnifiques“, die Ballettkomödie „Le bourgeois gentilhomme“, „Les fourberies de Scapin“, „La comtesse d’Escarbagnas“; dann sein letztes Meisterwerk: „Les femmes savantes“ (1672), wie die „Précieuses ridicules“ gegen die Pedanterie und Unweiblichkeit der Frauen gerichtet. Die vierte Aufführung des „Malade imaginaire“ war seine letzte Leistung. Seine durch Sorgen und Arbeit untergrabene Gesundheit (er litt seit langer Zeit an einem bösen Husten) erlag den Anstrengungen, als er in der Promotionsszene das Wort „Juro“ aussprach; er bekam einen Blutsturz und verschied wenige Stunden darauf 17. Febr. 1673. Die Geistlichkeit versagte ihm ein ehrliches Begräbnis; in der Nacht und unter den Verwünschungen des fanatisierten Pöbels wurde er begraben. Erst 1817 brachte man seine Gebeine auf den Père Lachaise. 1778 stellte die Akademie, deren Pforten M. verschlossen gewesen waren, seine Büste in ihrem Saal auf, und 1844 wurde ihm, seinem Sterbehaus in der Rue de Richelieu gegenüber, ein Denkmal, die Fontäne M., errichtet.

M. war in erster Linie ein vorzüglicher Schauspieler. Nicht nur die Rollen, welche er für sich geschrieben, sondern auch andre, besonders die komischen, weniger die tragischen, spielte er unter dem Beifall des Publikums; schon sein Mienenspiel erregte stürmische Heiterkeit. Dabei war er eifrig und gewissenhaft, für gewöhnlich ernst, ja melancholisch; von seinen reichen Einnahmen machte er, zum Nutzen seiner Freunde und seiner Kunst, einen edlen Gebrauch. Vor allem aber ist M. Dichter, und wenn er schon in jenen Stücken, welche er zur Augen- und Ohrenweide eines vergnügungssüchtigen Hofs schrieb, und in seinen Possen, in denen er seiner tollen Laune den Zügel schießen läßt, ungewöhnlichen Reichtum der Phantasie, seltene Leichtigkeit des Schaffens, tiefe Weisheit und unerschöpfliche Laune bekundet, so erheben ihn seine großen Charakterkomödien mit ihrer reinen Menschlichkeit und ewigen Wahrheit zu einem der ersten Dichter aller Zeiten. M. schafft selten frei; fast immer hat er Rahmen und Färbung seiner Stücke den Alten, den Italienern oder Spaniern entlehnt. Den Inhalt aber bilden die Thorheiten und Lächerlichkeiten seiner Zeit; Falschheit und Unnatur, Heuchelei und Lüge verfolgt er mit glühendem Haß. Aber nicht Figuren seiner Phantasie führt er uns vor, das Leben, das warme, wirkliche, pulsiert in seinen Werken; seine Blaustrümpfe und Marquis, sein Menschenfeind und Tartüff sind typisch geworden. Dazu ist die Kunst, Verwickelungen zu erfinden und zu lösen, die Spannung des Zuschauers bis zum Schluß rege zu erhalten (z. B. in den „Femmes savantes“), bewunderungswürdig. Von gleicher Vortrefflichkeit ist sein Stil; klar und präzis, natürlich und doch überaus mannigfaltig, spricht er die Sprache der Stadt und des Landes, aller Klassen und aller Leidenschaften. Unter den zahlreichen Ausgaben von Molières Werken nennen wir nur die bedeutendsten: von Vinot und La Grange (1682, 8 Bde.), von Auger (1819–25, 9 Bde.), von Moland (2. Aufl. 1884, 12 Bde.) und besonders von Despois und Mesnard (1873–86, 9 Bde.). Von den zahlreichen deutschen Schulausgaben einzelner Stücke erwähnen wir die von Laun (Leipz. 1873–86, 14 Bde.) und von Fritsche (Berl. 1879 ff.). Für die beste Übersetzung der Werke Molières gilt mit Recht die des Grafen Wolf von Baudissin, in fünffüßigen, reimlosen Iamben (Leipz. 1865–67, 4 Bde.). Aus der reichen Litteratur über Molières Leben etc. heben wir hervor: „Régistre de Lagrange“, eine genaue [722] Theaterchronik eines Schauspielers aus Molières Truppe (Faksimileabdruck, Par. 1876); Grimarest, Vie de M. (1705 u. 1706); Taschereau, Histoire de la vie et des écrits de M. (1825, 4. Aufl. 1851); P. Lindau, M. (Leipz. 1872); J. Claretie, M., sa vie et ses œuvres (1873); Lotheißen, M., sein Leben und seine Werke (Frankf. 1880); Mahrenholtz, Molières Leben und Werke (Heilbr. 1881); Fournier, Études sur la vie et les œuvres de M. (1884); Copin, Histoire des comédiens de la troupe de M. (1885); Moland, M., sa vie et ses ouvrages (1886); Kreiten, Molières Leben und Werke (Freiburg 1887); Génin, Lexique comparé de la langue de M. (1846); Lacroix, Bibliographie moliéresque (1875); E. Despois, Le Théâtre français sous Louis XIV (1875); H. Fritsche, M.-Studien (2. Ausg. 1887). Im J. 1879 sind für die M.-Forschung zwei besondere Organe gegründet worden: in Frankreich der „Moliériste“ und in Deutschland das „M.-Museum“ (hrsg. von Schweitzer, Wiesb. 1879–84).