Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Miniatūr“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 11 (1888), Seite 657659
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Miniatūr. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 11, Seite 657–659. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Miniat%C5%ABr (Version vom 09.01.2023)

[657] Miniatūr (v. lat. minium, „Mennige“) heißt ursprünglich und im eigentlichen Sinn des Wortes der gemalte Schmuck der geschriebenen Bücher. Zu diesem Schmuck gehören die mit Rankenwerk versehenen großen Anfangsbuchstaben (Initialen), die Randzeichnungen und Einfassungen der Schrift, die in dieselbe eingestreuten kleinern und die selbständigen, ganze Seiten bedeckenden Bilder. Die Herstellung der Bücher geschah in alter Zeit vorzugsweise in den Klöstern. Der Schreiber hieß Scriptor, derjenige, welcher mit der Feder oder dem Pinsel den künstlerischen Schmuck hinzufügte, Pictor. Anfangs waren Scriptor und Pictor dieselbe Person, und erst im weitern Verlauf des Mittelalters entwickelte sich aus der Schreiberzunft die der Miniatoren. Da die Farbe rubrica genannt wurde, so hießen etwa seit dem 11. Jahrh. der Schreiber auch Rubricator und der Maler Illuminator. Man schrieb und malte auf Pergament oder Baumwollpapier. Die schwarze Tinte bestand aus Lampenruß und Gummi; die bunten Farben wurden mit Eiweiß, Gummi oder Leim angemacht. Die Ornamente schließen sich zunächst an Pflanzen- und Tierformen an. Der bildliche Schmuck steht in der Regel in näherer Beziehung zum Inhalt des Textes, doch läßt der Künstler oft auch seinen Launen und seiner Phantasie ganz freien Spielraum.

Die Miniaturmalerei folgt dem Entwickelungsgang der Malerei im allgemeinen und ist für Perioden, deren Erzeugnisse auf dem Gebiet der Wand- oder Tafelmalerei untergegangen sind, von großer Wichtigkeit. Die ältesten Miniaturen, über 3000 Jahre alt, finden wir im alten Ägypten; zahlreiche Proben bildlicher Darstellungen auf Papyrusrollen sind in altägyptischen Gräbern gefunden worden und noch erhalten. Auch die Römer schmückten ihre Bücher mit Zeichnungen, doch ist davon nichts erhalten. Das älteste Beispiel einer Buchmalerei aus unsrer Zeitrechnung ist eine aus dem 4. Jahrh. herstammende Handschrift in Kleinquart mit Stücken des Vergil in der vatikanischen Bibliothek zu Rom. An dieselbe schließen sich einige Manuskripte von ähnlichem Alter in verschiedenen andern italienischen Bibliotheken. Die Bilder derselben zeigen noch Anklänge an den Stil des klassischen Altertums. Während im weströmischen Reich wegen Staatsumwälzungen und verheerender Kriege die Kunst nicht gepflegt werden konnte, gelangte die Miniaturmalerei im oströmischen Reich zu hoher Blüte. Dort löste sie sich auch bald als selbständige Kunst von der Kalligraphie ab. Von byzantinischen Handschriften mit Miniaturen ist besonders bemerkenswert eine Genesis aus dem 5. Jahrh. und eine Arzneimittellehre des Dioskorides mit Bildnissen von Ärzten (beide in [658] Wien), eine lateinische Bibel von 540 in der Bibliotheca Laurentiana zu Florenz und eine fast 10 m lange, aus 15 Blättern zusammengeklebte Pergamentrolle mit Darstellungen der Thaten des Josua aus dem 7. Jahrh. in der vatikanischen Bibliothek zu Rom (s. Tafel „Ornamente II“, Fig. 38 u. 39). Die spätern Arbeiten der byzantinischen Zeit sind oft schon sehr handwerksmäßig.

Eine eigentümliche, mit der historischen Entwickelung der Miniaturen im allgemeinen fast gar nicht im Zusammenhang stehende, aber vermutlich auf orientalischen Elementen beruhende Ornamentik bildete sich im 7. und 8. Jahrh. ganz selbständig in Irland aus. Die irischen Mönche blieben streng bei bedeutungslosen, eigentümlich geschwungenen Linien und behandelten in einzelnen Fällen selbst Tiere und Menschen rein ornamental. Diese Linienzüge sind oft mit erstaunlicher Sicherheit und großer Geschicklichkeit ausgeführt und reich mit lebhaften Farben geschmückt (s. Tafel „Ornamente II“, Fig. 36 u. 37). Von Irland aus verbreitete sich diese Art durch die wandernden Mönche auch nach England und dem Festland, besonders nach der Schweiz und Norditalien, wo einzelne Mönche, z. B. in St. Gallen und Bobbio, später sehr berühmt gewordene Klöster gründeten. Bücher mit solchen irischen (oder angelsächsischen) Miniaturen befinden sich in mehreren größern Bibliotheken Englands, im Trinity College zu Dublin, in der Bibliothek zu St. Gallen, in der Dombibliothek zu Trier, in der Ambrosianischen Bibliothek zu Mailand etc. Im 8. Jahrh. rief der Bildungsdrang Kaiser Karls d. Gr. neues Leben hervor. Die byzantinische und die irische Kunst waren keiner weitern Entwickelung mehr fähig; aber sie waren der fruchtbare Boden, aus welchem eine neue Kunst erwuchs. Aus unbeholfenen Anfängen entwickelte sich in Deutschland, Frankreich und den Niederlanden eine neue Art von M., welche am Ende des 14. Jahrh. zur höchsten Blüte gelangte. In der karolingischen Zeit setzte man die Initialen gern aus Tiergestalten zusammen (aus Fischen z. B. in Manuskripten zu Laon und Stuttgart). Die ersten wirklichen Bilder wurden nach byzantinischen Vorbildern gefertigt. Als das älteste Beispiel dieser Art gelten das sogen. Sakramentarium von Gellone und ein Evangelistarium von Godescul von 781, beide in Paris. Daran schließt sich eine Vulgata in Bamberg mit ziemlich rohen Darstellungen aus der Schöpfungsgeschichte. Seit dem 9. Jahrh. beginnt man in den Bildern die im Text erzählten Vorgänge darzustellen, anfangs in kleinen Bildchen innerhalb des Rahmens der Initialen, dann auch in größern Darstellungen. Besonders bemerkenswert ist die Wessobrunner Handschrift in München von 814, welche die Legende von der Auffindung des heiligen Kreuzes und das berühmte Gebet enthält. Dieser Handschrift sehr nahe stehen das Evangeliarium Kaiser Lothars von 840 und die Bibel Karls des Kahlen, beide in Paris. Nach dem Erlöschen des karolingischen Geschlechts geht die Pflege der Miniaturmalerei nach Deutschland über. Als das älteste Beispiel dieser deutschen Schule gilt die Evangelienharmonie des Mönchs Otfried von Weißenburg im Elsaß, zwischen 865 und 889 geschrieben, jetzt in Wien. Daran schließen sich mehrere Handschriften in St. Gallen und ein Missale in Bamberg. Zur Zeit des Kaisers Otto II., der mit einer griechischen Prinzessin verheiratet war, bemühte man sich wieder, die byzantinische Malerei nachzuahmen. Mehrere Manuskripte, Geschenke des Kaisers an verschiedene Klöster, jetzt in Gotha, Paris, Trier, Hildesheim, sind Belege dafür. Besonders charakteristisch für diese Art sind die Bücher, welche Kaiser Heinrich II. und seine Gemahlin Kunigunde für das Domstift Bamberg anfertigen ließen (jetzt meist in München). Von der byzantinischen Miniaturmalerei wurde auch die russische beeinflußt (s. Tafel „Ornamente II“, Fig. 18 u. 19). In der Mitte des 12. Jahrh. beginnt dann die Bildung eines selbständigen germanischen Stils. Von jetzt an gibt auch nicht mehr die Heilige Schrift allein den Malern Stoff zu ihren Darstellungen, sondern poetische Erzählungen, Heldengedichte, Tiersagen und Minnelieder eröffnen den Künstlern eine ganz neue Welt, und wie die Dichter jener Zeit, so stellen auch die Maler Gebilde des strengsten Ernstes und des heitersten Lebensgenusses, Darstellungen aus dem unmittelbaren Leben der Gegenwart und Spiele der üppigsten Phantasie dicht nebeneinander. Die Kunst ist jetzt auch nicht mehr ausschließliches Eigentum der Geistlichen. Der byzantinische Typus macht einem echt deutschen Platz. Charakteristisch sind sehr starke Umrißlinien. Reich und schön entwickeln sich die Initialen, deren Motive der Pflanzen- und Tierwelt entlehnt werden, oft auch in unmittelbarer Beziehung zum Text stehen. Eine der wichtigsten Handschriften dieser Zeit ist der zwischen 1159 und 1175 geschriebene „Hortus deliciarum“ der Herrad von Landsberg, Äbtissin des Klosters auf dem Ottilienberg im Elsaß (bei dem Brande der Bibliothek in Straßburg 1870 untergegangen). Ferner gehören dahin ein Evangeliarium in Karlsruhe, die „Eneide“ Heinrichs von Veldeke in Berlin, das Leben der Maria von Werinher von Tegernsee in Berlin, ein Evangeliarium von 1194 in Wolfenbüttel, ein Psalterium (zwischen 1193 und 1216) in Stuttgart, ein Evangeliarium vom Ende des 12. Jahrh. in Trier u. a. In der ersten Periode der Gotik bestehen die Miniaturen meist nur in Federzeichnungen, welche mit ungebrochenen Farben ausgefüllt sind. Das Streben nach Zierlichkeit und Anmut führte zu eigentümlich gewundenen Stellungen und Verdrehungen des menschlichen Körpers. Im Ornament sind die gotischen Formen vorherrschend. In diese Zeit gehören: eine Handschrift des „Parzival“ von Wolfram von Eschenbach in München, der Weingartner Minnesingerkodex in Stuttgart, eine Handschrift des „Wilhelm von Orange“ von Wolfram von Eschenbach von 1334 in Kassel und von französischen Arbeiten der Psalter Ludwigs IX. aus dem 13. Jahrh. in Paris. In der zweiten Periode des gotischen Stils tritt an die Stelle der kolorierten Federzeichnung die selbständige Malerei mit dem Pinsel. Die Formen sind jetzt richtiger aufgefaßt und mit dem Streben nach plastischer Wirkung dargestellt. Hände und Köpfe sind sorgsamer nach der Natur beobachtet, letztere haben oft einen sehr anziehenden Ausdruck der Innigkeit und Milde. Die Figuren, welche von geringer Kenntnis des menschlichen Körpers zeugen, und deren Proportionen fehlerhaft sind, leiden an übertriebener Magerkeit. Die Falten sind fließend, die hellsten Stellen der Kleider etc. werden oft durch feine Goldschraffierung bezeichnet; den Hintergrund bilden nicht selten Architekturen oder Landschaften (s. Tafel „Ornamente II“, Fig. 40–46). In dieser Zeit ließen besonders die französischen und burgundischen Fürsten der Kalligraphie und Buchmalerei ihre Pflege angedeihen; Werke aus dieser Periode sind nicht selten. Beispiele sind: eine Übersetzung des Livius um 1350 in Paris, „Le livre des merveilles du monde“ (Reisen des Marco Polo) ebendaselbst, das Gebetbuch der Margareta von Bayern im Britischen Museum, das Jagdbuch des Grafen [659] Gaston III. von Foix in Dresden, „Le roman de la rose“ von Johann de Melun u. a. Die Miniaturen in Handschriften aus dem Anfang des 15. Jahrh. zeigen in ihrer feinen und eleganten Durchführung diese Kunst in ihrer höchsten Vollendung, so z. B. das Gebetbuch des Herzogs Johann von Berri, ein lateinischer Psalter desselben Fürsten, das Breviarium von Belleville u. a. In Deutschland ist in dieser Zeit besonders die böhmische Schule ausgezeichnet, deren künstlerische Bestrebungen von Kaiser Karl IV. und seinem Sohn Wenzel sehr unterstützt wurden. Hervorzuheben sind besonders: die für den König Wenzel angefertigte deutsche Bibel in 6 Bänden, eine Abschrift der Goldenen Bulle von 1440 und ein für den Erzbischof von Prag, Sbinko Hasen von Hasenberg, gefertigtes Missale von 1409. An diese böhmischen Arbeiten schließen sich einige österreichische, jetzt in Wien, im Stift Melk etc. Im übrigen Deutschland wandte man sich in dieser Zeit selten der M. zu, dort wurde mehr die Tafelmalerei kultiviert; auch englische Werke dieser Periode sind selten. Die realistische Richtung in der Malerei, welche die Gebrüder van Eyck schnell zur allgemeinen Geltung brachten, wurde bald auch auf die Buchmalerei übertragen. Porträtmäßige Behandlung der Figuren, sorgsamste Durchführung aller Einzelheiten, Naturwahrheit auch in der Landschaft und Architektur sind charakteristische Eigenschaften der Miniaturmalerei dieser Richtung, welche in den burgundischen Fürsten die thätigsten Förderer fand. Philipp der Gute soll 1443 die reichste Bibliothek in Europa besessen und allein der Stadt Brügge 935 Bände überlassen haben. In einzelnen Miniaturwerken glaubt man die Hand der berühmtesten Meister der flandrischen Schule zu erkennen. Das Breviarium des Herzogs von Bedford von 1424 (jetzt in Paris) wurde Jan van Eyck selbst zugeschrieben. Aus seiner Schule stammen: ein Gebetbuch in Wien, eine französische Übersetzung des Livius (um 1440) im Arsenal zu Paris, eine Geschichte der Kaiser von Augustus bis ins 13. Jahrh. ebendaselbst, eine „Chronique d’Angleterre“ in Wien, ein Horenbuch in Prag, die „Histoire du royaume de Jérusalem“, die „Gestes du comte Gérard de Roussillon“ von 1447 und ein Gebetbuch Karls des Kühnen, alle drei in Wien, ein Gebetbuch Philipps des Guten im Haag, ein Gebetbuch der Maria von Burgund um 1480, ein Gebetbuch Kaiser Maximilians I., ein Gebetbuch Karls V. (1517–19) und ein „Hortulus animae“ von Sebastian Brant, alle vier in Wien, das berühmte Breviarium des Kardinals Grimani in Venedig u. a. (s. Tafel „Ornamente II“, Fig. 47). Eine hervorragende Stelle nimmt auch das Gebetbuch des Kaisers Maximilian I. ein, welches 1515 A. Dürer mit genialen Randzeichnungen versah (jetzt in München). Unter den zahlreichen Illuministen, welche noch in der ersten Hälfte des 16. Jahrh. die Ausschmückung von Büchern gewerbsmäßig betrieben, ist besonders Georg Glockenton zu nennen, dessen Kinder und Enkel auf demselben Gebiet thätig waren. Am bekanntesten ist sein Sohn Nikolaus, welcher 1523 ein großes Missale und 1531 ein Gebetbuch für den Erzbischof Albrecht von Mainz (beide jetzt in Aschaffenburg) ausführte (s. Tafel „Ornamente II“, Fig. 29, 33). Die höchste Blüte erreichte die Miniaturmalerei in Italien und zwar sowohl in der gotischen Zeit, wo Giotto vornehmlich dieselbe beeinflußte, als während der Renaissanceperiode, in welcher hervorragende Künstler, wie Attavante, Girolamo dei Libri, Liberale da Verona und Giulio Clovio, thätig waren und eine große Zahl der kostbarsten Bilderhandschriften für Päpste, Fürsten, Kirchen u. a., auch für Matthias Corvinus von Ungarn schufen (s. Tafel „Ornamente III“, Fig. 4, 7, 8, 10, 16, 18, 19). Auch im Orient gelangte die Buchmalerei zu hoher Vollendung, doch ist davon nur wenig Kunde in die Öffentlichkeit gedrungen. Große Schätze der Art besitzen die Bibliotheken des India House und des Britischen Museums zu London, in Oxford, Paris und besonders das Kupferstichkabinett zu Berlin durch die 1882 angekaufte Sammlung des Herzogs von Hamilton (s. Tafel „Ornamente II“, Fig. 8 u. 9, 14 u. 15; Taf. IV, Fig. 6–8). Nach Erfindung der Buchdruckerkunst hörte die eigentliche Miniaturmalerei noch nicht sogleich auf. Man ließ auch bei gedruckten Büchern (wie z. B. bei dem oben erwähnten Gebetbuch des Kaisers Maximilian in München geschehen) den Raum für Initialen, Randzeichnungen und Bilder offen. Doch verlor sich dieser Gebrauch im 16. Jahrh. nach und nach. An Stelle der Zeichnung und Malerei traten die mit dem Text gleichzeitig gedruckten Holzschnitte und später Kupferstiche. – Der Name M. wurde im 17. Jahrh. auf Malereien in kleinem Maßstab, meist auf Pergament, übertragen, welche in allen Teilen sehr sorgfältig und sauber ausgeführt sind. Miniaturporträte, erst auf Kupfer, später auf Elfenbein gemalt, waren besonders im 18. Jahrh. sehr beliebt. Vgl. Comte de Bastard, Peintures et ornements des manuscrits (Par. 1835 ff.); „Sammlung der schönsten Miniaturen des Mittelalters“ (Wien 1872, 70 Blätter); Bucher, Geschichte der technischen Künste, Bd. 1 (Stuttg. 1875); Salazaro, L’arte della miniatura nel secolo XIV (Neapel 1877); Springer, Die Psalter-Illustrationen im frühen Mittelalter (Leipz. 1880); Kondakoff, Histoire de l’art byzantin considéré principalement dans les miniatures (Par. 1887 ff.); Lumsden Propert, History of miniature-art (Lond. 1887); Woltmann-Woermann, Geschichte der Malerei (Leipz. 1879 ff.); W. Wattenbach, Das Schriftwesen im Mittelalter (2. Aufl., das. 1876).