Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Michelangelo“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 11 (1888), Seite 583585
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Michelangelo. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 11, Seite 583–585. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Michelangelo (Version vom 11.04.2021)

[583] Michelangelo (spr. mikelándschelo), eigentlich M. Buonarroti, ital. Bildhauer, Maler und Architekt, wurde 6. März 1475 im toscanischen Städtchen Caprese geboren, als sein Vater Richter von Chiusi und Caprese war. 1476 wurde der Knabe, als die Eltern nach Florenz zurückkehrten, in Settignano bei Florenz bei einer Amme, der Frau eines Steinmetzen, zurückgelassen. Daher seine spätere Scherzrede, er habe die Liebe zur Bildhauerkunst mit der Milch eingesogen. Er kam noch als Kind nach Florenz. Nur ungern gab der Vater dem übermächtigen Drang des Sohns zur Kunst nach. Am 1. April 1488 trat er in die Werkstatt Domenico Ghirlandajos, studierte daneben aber im Garten der Medici bei San Marco, wo sich zahlreiche antike Skulpturen unter der Aufsicht des Bildhauers Bertoldo, eines Schülers von Donatello, befanden, welcher M. wahrscheinlich auch den ersten Unterricht in der Bildhauerkunst erteilt hat. Dadurch trat M. auch in ein näheres Verhältnis zum Haus der Medici, welches den heilsamsten Einfluß auf die Vielseitigkeit seiner Bildung übte. Er genoß den Umgang der vielen um den geistreichen Fürsten versammelten Gelehrten, namentlich Polizianos und Pico della Mirandolas. Bei aller Vorliebe für die Plastik gab er jedoch die Malerei nicht auf. Die Reliefs eines Kentaurenkampfes und einer Madonna vor einer Treppe (Florenz, Casa Buonarroti) sind seine ersten plastischen Arbeiten. Im J. 1494, kurz vor der Vertreibung Pietros de’ Medici aus Florenz, hatte auch M. aus Furcht vor dem drohenden Sturm seine Vaterstadt verlassen. Er ließ sich in Bologna nieder, wo er unter anderm einen kandelabertragenden knieenden Engel von Marmor (in San Domenico) anfertigte. 1495 kehrte er wieder nach Florenz zurück, begab sich aber schon nach einem Jahr nach Rom. Er hatte kurz zuvor einen schlafenden Cupido in Marmor vollendet und ihn eine Zeitlang in der Erde vergraben, um ihm ein antikes Ansehen zu geben. Später wurde derselbe wirklich durch einen Unterhändler als Antike an den Kardinal Raphael Riario verkauft, der nach der Entdeckung der Mystifikation das Bildwerk zurückgab. In Rom schuf M. unter anderm die Marmorstatue eines trunkenen Bacchus, der sich auf einen Satyr stützt (Florenz, Nationalmuseen), und eine Madonna mit dem toten Christus (Pietà) in der Peterskirche (s. Tafel „Bildhauerkunst VI“, Fig. 15). Um 1500 nach Florenz zurückgekehrt, meißelte er aus einem seit langen Jahren in Florenz liegenden Marmorblock das kolossale Standbild des David, welches sich jetzt in der Akademie zu Florenz befindet und bei den Zeitgenossen zuerst Michelangelos Ruhm begründete. Bald darauf beschloß die florentinische Regierung, ihren Versammlungssaal durch Gemälde einiger in den Feldzügen gegen Pisa erfochtener Siege zu schmücken. Leonardo erhielt den Auftrag, die eine große Wand zu malen, und wählte die Darstellung eines Reitergefechts. M. bekam den Auftrag für die zweite Wand und stellte den Augenblick dar, in dem ein Haufe florentinischer Soldaten, die eben im Arno baden, unerwartet den Aufruf zum Kampfe vernimmt. Beide Darstellungen machten Epoche im Florentiner Kunstleben, aber den Hauptruhm trug M. davon, dessen tiefes Studium des Nackten sich hier glänzend offenbarte. Beide Künstler kamen jedoch über die Kartons nicht hinaus. Michelangelos Karton diente lange Jahre hindurch den jungen Künstlern als Quelle des Studiums, wurde dann aber später zerstückelt und ist zu Grunde gegangen. Einen neuen Wirkungskreis fand M. bei der Thronbesteigung des Papstes Julius II. Dieser lud M. 1505 nach Rom ein und trug ihm den Entwurf zu einem Grabmal auf. Nach mehreren Monaten trat der Künstler mit einem Entwurf hervor, der an Schönheit und Großartigkeit selbst die bis dahin bekannten Denkmäler des Altertums übertraf. Das Werk sollte mit einer großen Menge Statuen und Reliefs geschmückt werden. Es geriet jedoch bald durch verschiedene Umstände ins Stocken; nochmals neu aufgenommen und auf geringere Maße reduziert, wurde es wieder unterbrochen, bis es endlich in abermals sehr verringertem Umfang 1545, lange nach des Papstes Tod, in der Kirche San Pietro in Vincoli zu Rom aufgestellt ward. Die Statue des Moses ist der vorzüglichste Schmuck dieses Monuments. In der Zwischenzeit (1508) errichtete M. zu Bologna gegenüber der Kirche des heil. Petronius ein ehernes kolossales Standbild des Papstes, und später malte er im Auftrag des Papstes die Deckenbilder der Sixtinischen Kapelle, angeblich in der Zeit von 22 Monaten. Als Leo X. den päpstlichen Thron bestieg, war sein erstes Unternehmen die Aufführung der Fassade der St. Lorenzkirche zu Florenz. M. erhielt 1516 den Auftrag, nach Florenz zu gehen, um nach einem ihm gegebenen Modell die Aufsicht über den Bau zu führen. Mit Unlust ging er an die Arbeit, und unter ungünstigen Umständen rückte das Werk nicht weiter. Überhaupt fällt in die Regierung dieses Papstes die unthätigste Periode im Leben Michelangelos. Nach Leos Tod ging er wieder an sein Lieblingswerk, das Grabmal Julius’ II., das ihn während des Pontifikats Hadrians VI. fast ausschließlich beschäftigte. Clemens VII. verwendete den Künstler auch bei dem Bau der Laurentiana und der Sakristei von San Lorenzo in Florenz, die dann Begräbniskapelle des Lorenzo und Giulio de’ Medici wurde. Um diese Zeit entstand die Statue des auferstandenen Heilands in der Minerva zu Rom. Während der nun folgenden Unruhen war M. Generalkommissar der Befestigungen der Stadt Florenz, fuhr aber fort, während er Florenz gegen die Mediceer verteidigte, an ihrem Mausoleum in San Lorenzo zu arbeiten. Aus dieser Zeit stammt das Bild der Leda, das nach Frankreich gekommen und unter Ludwig XIII. verbrannt worden sein soll. Doch befinden sich in verschiedenen Sammlungen Werke, die als Nachbildungen der Leda gelten. (Eine Temperamalerei in der Londoner Nationalgalerie wird von einigen sogar für das Original gehalten.) Bei der Rückkehr der Mediceer verließ M. die Stadt, fand beim Herzog d’Este zu Ferrara ehrenvolle Aufnahme und ging dann nach Venedig, erhielt jedoch bald von Clemens VII. unter Zusicherung der Verzeihung den Befehl, das Grabmal der Mediceer zu vollenden. Dasselbe enthält die Statuen des Giuliano und Lorenzo de’ Medici, von denen besonders die des Lorenzo, von den Italienern „der Gedanke“ (il pensiero) genannt, als Meisterwerk ersten Ranges zu betrachten ist, und mit symbolischen Gestalten der vier Tageszeiten geschmückte Sarkophage. Nach der Vollendung des Grabmals des Papstes Julius begann M. im Auftrag des Papstes Clemens VII. 1533 das 19 m hohe Gemälde an der Hauptwand der [584] Sixtinischen Kapelle, welches das Jüngste Gericht darstellt, aber erst unter Paul III. 1541 zur Vollendung kam. Unter Paul III. entstanden noch zwei bedeutende Fresken Michelangelos: die Bekehrung des Apostels Paulus und die Kreuzigung des Petrus, beide in der Paulina im Vatikan. Da die Freskomalerei dem greisen Künstler jetzt zu beschwerlich wurde, so griff derselbe wieder zum Meißel. Er begann eine Marmorgruppe: der tote Christus im Schoße seiner Mutter, daneben Joseph von Arimathia, welche unvollendet blieb (im Dom zu Florenz). Sie war sein letztes Marmorwerk. Auch leitete er den Bau der Festungswerke von Rom (des Teils von il Borgo). Seitdem nahm ihn die Baukunst fast ausschließlich in Anspruch. Paul III. übertrug ihm nämlich 1546 nach Sangallos Tod auch die Leitung des Baues der Peterskirche. M. verwarf das Modell von Sangallo und führte trotz mannigfacher Hindernisse, die ihm entgegentraten, den Bau nach seinem Plan so weit, daß unmittelbar nach seinem Tode die grandiose Kuppel vollendet werden konnte. Außer diesem berühmten Bau leitete er damals zugleich den der kapitolinischen Bauten sowie des Hofs im Palast Farnese mit den drei übereinander gestellten Säulenordnungen, der Kirche Santa Maria degli Angeli, der Porta Pia und andrer Prachtgebäude. Als zuletzt das Alter zu mächtig über den Körper hereinbrach, übertrug M. die Vollendung vieler von ihm begonnener Bildhauerwerke seinen Schülern, und selbst bei der Anfertigung von Zeichnungen und Modellen mußte sein Lieblingsschüler Tiberio Calcagni ihm helfend zur Seite stehen. Als 90jähriger Greis starb M. 18. Febr. 1564, klaren Geistes, seine ihn umstehenden Verwandten und Schüler ermahnend. Papst Pius IV. bereitete ihm eine prächtige Bestattung in der Kirche der heiligen Apostel; auf Befehl Cosimos de’ Medici wurde jedoch der Leichnam heimlich nach Florenz gebracht, wo man ihm in der Familiengruft in Santa Croce ein Denkmal errichtete.

Außer den erwähnten Skulpturwerken werden M. noch viele andre plastische Arbeiten zugeschrieben, von denen jedoch nur folgende als sicher von seiner Hand herrührend allgemein anerkannt werden: eine Madonna mit dem Kind, Marmorgruppe (Liebfrauenkirche zu Brügge), Marmorstatue eines kleinen Johannes (sogen. Giovannino, Berliner Museum), Marmorstatue eines knieenden Cupido (London, Kensingtonmuseum), Relief der Madonna mit Christus und Johannes (Florenz, Nationalmuseum), ein Relief mit ähnlicher Komposition (London, Burlingtonhouse), Statue eines Adonis (nur angelegt, Florenz, Nationalmuseum) und eine Brutusbüste (ebendaselbst). Im Nationalmuseum zu Florenz sieht man auch einen den Sieg vorstellenden Jüngling, der einen gefesselten Sklaven unter seinen Füßen hält und für das Grabmal Julius’ II. bestimmt war. Im Louvre zu Paris bewahrt man zwei Statuen von Sklaven auf, die ebenfalls für das Grabmal Julius’ II. bestimmt waren, ebenso wie die gewaltige Gestalt des sitzenden Moses (Rom, San Pietro in Vincoli), ein Hauptwerk Michelangelos. Zu seinen großartigsten Schöpfungen in der Malerei gehören die Gemälde an der Decke und der hintern Wand der Sixtina. Sie sind in ihrer Vereinigung als ein großes, in sich abgeschlossenes Gedicht zu betrachten und zeigen die Schöpfung der Welt und des Menschen, den Sündenfall mit seinen Folgen, nämlich die Vertreibung aus dem Paradies und die Sündflut, die wunderbare Errettung des auserwählten Volkes, die Annäherung der Zeit der Erlösung durch die Darstellung der Vorfahren des Heilands und der Propheten und Sibyllen, die seine zukünftige Erscheinung verkündeten, und zuletzt das Weltgericht. Die Sündflut ist vielleicht die bedeutendste aller Kompositionen Michelangelos hinsichtlich des Ausdrucks der dramatischen Handlung. Die Kühnheit des Gedankens, die Mannigfaltigkeit der Stellungen der fast unzähligen Figuren, die große Meisterschaft der Zeichnung, insbesondere in den außerordentlichsten und schwierigsten Verkürzungen, erregten bei der Erscheinung desselben eine solche Bewunderung, daß es die vorherrschende Meinung nicht allein für das Meisterwerk Michelangelos, sondern der Kunst überhaupt erklärte. Das Jüngste Gericht übertrifft jene Bilder noch in der Meisterschaft der Zeichnung und in der Kühnheit der Komposition; aber der Künstler opferte in dem Bestreben, mit der Virtuosität der Zeichnung zu glänzen, nicht selten das Schickliche und Angemessene im Charakter und Ausdruck der Figuren. Dabei ist der Stil der Zeichnung einförmiger und minder edel und schön als in den Deckengemälden dieser Kapelle. Der großartige Charakter der männlichen Figuren grenzt oft an das Plumpe, vornehmlich aber stehen die der Anmut durchaus entbehrenden Frauen des Jüngsten Gerichts den Figuren der Eva, der delphischen Sibylle und vieler andrer weiblicher Gestalten jener Bilder weit nach. Ursprünglich waren alle Figuren nackt, so daß Paul IV. das Bild herunterschlagen lassen wollte. Als Auskunftsmittel mußte Daniel da Volterra die auffallendsten Blößen mit Lappen bedecken, was ihm den Beinamen des Hosenmachers (braghettone) erwarb. Eine ausgezeichnete Kopie des Werkes, unter des Meisters Augen von Marcello Venusti für den Kardinal Alexander Farnese in Öl gefertigt, kam aus dem Farnesischen Palast zu Rom in das königliche Museum zu Neapel. Von den M. zugeschriebenen Tafelbildern rühren nur folgende wirklich von ihm her: eine unvollendete Grablegung (London, Nationalgalerie), die gleichfalls unvollendete sogen. Madonna von Manchester mit dem kleinen Jesus, dem kleinen Johannes und vier Engeln (ebendaselbst), eine Madonna mit dem Kinde, dem kleinen Johannes und Joseph (Florenz, Uffizien). – Außer dem größten architektonischen Werk, der Riesenkuppel der St. Peterskirche, besitzt Rom noch viele Baudenkmale Michelangelos. Von den Überbleibseln der Diokletianischen Thermen verwandelte er den Büchersaal, in welchem sich die Bibliothek des berühmten Rechtsgelehrten Ulpian befand, in die Kirche Santa Maria degli Angeli, eine der schönsten und heitersten Roms. Die Palästra schuf er in einen Klostergang (Chiostro) um, erneuerte auch das unverwüstliche Kapitol auf dem uralten Unterbau; doch erhielten die Gebäude des Kapitols bei ihrer Vollendung nach seinem Tod Zusätze und Abänderungen. Ferner erbaute er die Kapelle der Familie Strozzi in Sant’ Andrea della Valle. Von seiner Meisterschaft in der Baukunst zeugt auch der stolze Palast Farnese, mit dessen Plan der Künstler unter einer großen Anzahl von Konkurrenten den Vorzug erhielt. Auch die Gartenfassade der Villa Medici soll unter seiner Leitung erbaut worden sein. Die alte Kirche San Pietro in Vincoli wurde schon unter Julius II. von ihm modernisiert. Pius IV. trug ihm auch auf, Pläne zu den Thoren Roms zu machen; aber es wurde nur eins (die Porta Pia) nach seiner Angabe ausgeführt, und selbst dies ist nicht vollendet. Sein Porträt befindet sich in der Sammlung der Uffizien zu Florenz.

Michelangelos Stil bezeichnen nicht, wie bei der [585] Antike, stille Größe und Erhabenheit, sondern ungebändigte Gewalt und Leidenschaft. „Das gesamte Schaffen Michelangelos ist ein unablässiger Kampf erhabenster Ideen, die aus der wunderbaren Tiefe seines Seelenlebens zu Tage streben, und deren Erscheinung daher alle Spuren dieser gewaltigen innern Erschütterungen an sich trägt. Vor seinen Werken gibt es kein ruhiges Genießen. Sie reißen uns unwiderstehlich in ihr leidenschaftliches Leben hinein und machen uns, wir mögen wollen oder nicht, zu Genossen ihrer tragischen Geschicke. Das ist der Eindruck, welchen auch die Zeitgenossen meinen, wenn sie von dem Furchtbaren (‚terribile‘) der Werke des Meisters sprechen.“ Sein Hang zum Außerordentlichen und Wunderbaren, sein tiefes, gründliches Studium der Anatomie, wodurch er vollkommene Sicherheit und Richtigkeit in der Zeichnung erlangte, trieben ihn zu kolossalen Darstellungen hin. Durch ihn erreichte die Schule des mittlern Italien den höchsten Gipfel ihrer ursprünglichen Richtung auf Form und Linie und den kühnsten Schwung. Den geistigen Ausdruck hat M. nicht selten bewunderungswürdig, jedoch zuweilen unbestimmt, auch wohl ganz verfehlt gegeben, so vornehmlich in mehreren Figuren des Jüngsten Gerichts. Auch scheinen zuweilen die Physiognomien seiner Köpfe dem großen Charakter der übrigen Gestalt nicht vollkommen zu entsprechen, wie unter andern der Kopf der herrlichen Figur des Adam auf dem Bild von der Erschaffung desselben. In der Kunst der Bekleidung beweist M. zwar nicht dieselbe Meisterschaft wie in der Bildung des Nackten, ist jedoch auch hierin bewunderungswürdig. Mehrere Gewänder in den Deckengemälden der Sixtinischen Kapelle, insbesondere in den Bildern der Vorfahren des Heilands, zeigen äußerst wenige, aber desto bedeutendere Falten und eine Einfachheit und Größe des Stils, die man bei keinem andern Künstler, vielleicht selbst nicht bei Raffael, finden dürfte. In andern hingegen scheint die Gewandung etwas willkürlich und nicht natürlich genug. Michelangelos nach der Antike gebildete Vorliebe für das Nackte veranlaßte ihn, selbst Christus, die Apostel und Heiligen meist ganz entblößt vorzustellen. Übrigens galt die Bewunderung seiner Zeitgenossen vornehmlich der Zeichnung, und der Künstler selbst mag das Kolorit bei seinem vorherrschend plastischen Sinn als einen ziemlich untergeordneten Teil der Kunst betrachtet haben. Doch ist seine Fleischfarbe wahr, ungemein kräftig und einfach, jedoch keineswegs eintönig, noch ohne Mannigfaltigkeit in verschiedenen Figuren. Auch in den Farben seiner Gewänder herrscht eine einfache, aber nicht unharmonische Zusammenstellung. Charakteristische Darstellung der Stoffe darf natürlich in seinen Werken nicht gesucht werden. Auch stellte er die Freskomalerei weit über die Ölmalerei, die er für Weiberarbeit erklärte. Da in ihm der Maler gleichsam aus dem Bildhauer hervorgegangen war, strebte er in der Malerei durch perspektivische Verkürzung und Wirkung von Licht und Schatten die reale Darstellung der Skulptur zu erreichen. Er nannte die Skulptur die Leuchte (lucerna) der Malerei, und es wäre ihm wohl unmöglich gewesen, die bewunderungswürdige plastische Vollkommenheit in der Malerei ohne die in der Bildhauerkunst erworbene Ausbildung und Meisterschaft zu erlangen. Auch pflegte er, nach dem Zeugnis des Vasari, die Figuren zu seinen Kartons in Thon oder Wachs zu modellieren und sich dieser Modelle zum Studium der Beleuchtung, insbesondere aber zu den Verkürzungen zu bedienen, in denen er, als dem schwierigsten Teil der Zeichnung, einen Grad der Vollkommenheit erreicht hat, der noch nicht übertroffen worden ist. Dagegen strebte er in der Skulptur mehr nach dem Malerischen, als diese Kunst eigentlich verträgt, obgleich er selbst sehr treffend bemerkte, daß die Plastik um so schlechter sei, je mehr sie sich der Malerei nähere. Als Architekt ward er von seinen Zeitgenossen nicht minder für einzig und klassisch gehalten wie als Maler und Bildhauer; in Wahrheit aber war die Architektur seine schwächste Seite, obgleich er auch hier seinen großen Geist nicht verleugnete. Wie fast ohne Lehrer und nur Autodidakt, war er auch ohne eigentliche Schüler, obwohl er desto mehr Nachahmer hatte, die aber in dem Streben, seine Großheit der Formen und Verhältnisse des menschlichen Körpers zu erreichen, ins Plumpe verfielen und des Meisters Übertreibungen geistlos noch übertrieben. Die besten seiner Schüler sind Daniel da Volterra und Sebastian del Piombo. Auch als Dichter erlangte M. großen Ruf. Durch seine Sonette zieht sich meist ein Zug trüben Schmerzes und ruhiger Entsagung. Dieselben wurden wiederholt herausgegeben, namentlich von seinem Neffen M. Buonarroti (Flor. 1623), ins Deutsche übersetzt von K. Witte unter dem Namen F. Licio (Bresl. 1823), von Regis (Berl. 1842), von Grasberger (Brem. 1872) und von S. Hasenclever (mit italienischem Text, Leipz. 1875); eine Auswahl von Harrys (Hannov. 1868). M. war sein ganzes Leben lang ohne Frauenliebe, und verschlossen und ungesellig entbehrte er auch die eigentliche hingebende Freundschaft. Erst, nachdem er 60 Jahre alt geworden, fand er eine edle Freundin, Vittoria Colonna, deren Name für immer mit dem seinen verknüpft ist. Er nannte die Kunst seine Geliebte und seine Gebilde seine Kinder. Er lebte in patriarchalischer Einfachheit. Wohlthätig und gegen seine Freunde großmütig, war er stets freundlich und mild, außer gegen anmaßende Unwissenheit. Sein Leben beschrieben seine Schüler Vasari in der „Vita de’ pittori ecc.“ und Ascanio Condivi in der „Vita di Michel Angelo“ (Rom 1553, Flor. 1746, Pisa 1823; deutsch von Valdeck und Ilg, Wien 1874). Aus der neuern Litteratur vgl. für das Biographische: Grimm, Leben Michelangelos (5. Aufl., Hannov. 1879, 2 Bde.); Milanesi, Le lettere di M. Buonarroti (Flor. 1875); Gotti, Vita di M. (das. 1875); Springer, Raffael und M. (2. Aufl., Leipz. 1883, 2 Bde.); W. Lang, M. als Dichter (Stuttg. 1861); für die kritische Würdigung seiner Werke: Burckhardt, Cicerone (5. Aufl., Leipz. 1884).