Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Maine de Biran“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 11 (1888), Seite 117118
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Maine de Biran. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 11, Seite 117–118. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Maine_de_Biran (Version vom 22.11.2023)

[117] Maine de Biran (spr. mähn dö̆ biráng), François Pierre Gauthier[WS 1], franz. Philosoph, geb. 29. Nov. 1766 zu Bergerac, diente in der Leibgarde und lebte während der Revolution, in welcher er Vater, Mutter und zwei Brüder verlor, in Zurückgezogenheit seinen Studien auf einem Landgut bei seiner Vaterstadt. Unter dem Kaiserreich wurde er 1809 Unterpräfekt von Bergerac und 1812 Mitglied des Gesetzgebenden [118] Körpers, nach der Restauration Mitglied der Deputiertenkammer und Staatsrat. Er starb 16. Juli 1824. Anfänglich Sensualist im Sinn Lockes und Condillacs, hierauf Intellektualist im Sinn der durch Leibniz an Locke vollzogenen Modifikation, gegen das Ende seines Lebens mystischer Theosoph, der das Individuum in Gott aufgehen läßt, hat er, obgleich nicht geschulter Philosoph, seinerseits Schule gemacht und insbesondere durch die Richtung seiner zweiten Periode auf Cousin und dessen Nachfolger beträchtlichen Einfluß geübt. Der ersten Periode gehört an sein „Mémoire sur l’habitude“ (Par. 1803), in dem er im Gegensatz gegen die rein passive Empfindung des Sensualismus (sensation) von dieser die aktive Wahrnehmung (perception) unterscheidet. Aus der zweiten Periode stammt nebst der Abhandlung „Rapport du physique et du moral“ (hrsg. 1834 durch Cousin) die Schrift „Essai sur le fondement de la psychologie“ (hrsg. 1859 durch Naville), in welcher sich der Verfasser zwischen die Metaphysiker, die die Seele als Ding an sich, das als solches für uns unzugänglich ist, fassen, und die reinen Empiriker, die in der Seele nur eine Reihe untereinander verknüpfter Erscheinungen sehen, mitten inne auf den Standpunkt der „réflexion intérieure“ stellt, vermöge welcher das individuelle Subjekt sich als solches fühlt und von seinen sämtlichen Veränderungen (modes) sich unterscheidet. Die Grundthatsache des Bewußtseins ist die des Strebens (nisus), d. h. der Aktivität des Ichs, welche, insofern sie gehemmt, d. h. durch ein äußeres Objekt bestimmt, wird, also sich leidend (rezeptiv) verhalten muß, den Stoff, insofern sie frei, d. h. bestimmend (spontan), verfährt, die Form der Erkenntnis (ähnlich wie bei Kant) erzeugt. Der letzten, der dritten, nicht zum Abschluß gelangten Periode seiner Philosophie gehört sein letztes, unvollendet gebliebenes Werk „Nouveaux essais d’anthropologie“ an, in welchem er im Menschen dreierlei Leben unterscheidet: das tierische der Empfindung, das menschliche des Willens und das geistige der Liebe. Das Ich, das während des ersten noch gar nicht vorhanden ist, während des zweiten den höchsten Inhalt des Bewußtseins ausmacht, erscheint während des dritten erloschen, indem es sich verliert und aufgeht in Gott. Jeder dieser drei Stufen entspricht eine Periode seines eignen Philosophierens: der ersten sein ursprünglicher Sensualismus, der zweiten sein auf die Thatsache des Selbstbewußtseins gestützter Intellektualismus, der dritten sein das Individuum mit der Gottheit vereinigender Mystizismus. Seine gesammelten Werke gab Cousin heraus (Par. 1841, 3 Bde.), seinen litterarischen Nachlaß Naville (das. 1859, 3 Bde.). Vgl. Naville, M. de Biran, sa vie et ses pensées (3. Aufl., Par. 1874); J. Gérard, M., essai sur la philosophie (das. 1876).

Anmerkungen (Wikisource)

  1. richtig: Gonthier