Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Lafontaine“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 10 (1888), Seite 400
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Lafontaine. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 10, Seite 400. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Lafontaine (Version vom 29.08.2021)

[400] Lafontaine (spr. -fongtähn), 1) Jean de, Frankreichs größter Fabeldichter, geb. 8. Juli 1621 zu Château-Thierry in der Champagne, trat nach völlig vernachlässigter Erziehung in seinem 20. Jahr bei den Oratoriern in Reims ein, um Theologie zu studieren, was er aber nach 18 Monaten wieder aufgab, um sich einem lustigen und ausschweifenden Leben zu ergeben. Erst in seinem 25. Jahr soll die Lektüre der Ode Malherbes auf den Tod Heinrichs IV. sein Dichtergenie geweckt haben; er las nun eifrigst Malherbe und Voiture, bald aber auch andre Schriftsteller, besonders die italienischen, und ließ sich von Freunden in die lateinische und griechische Litteratur einführen; vor allen interessierte ihn Horaz. Sein erstes Werk war eine Übersetzung des „Eunuchen“ von Terenz (1654). Um seinem unregelmäßigen Leben ein Ziel zu setzen, verheiratete ihn sein Vater 1647 und übertrug ihm seinen Posten als Maître des eaux et forêts; L. aber, seinem Charakter nach ein sonderbares Gemisch von Herzensgüte und Leichtsinn, Zerstreutheit, Ungeschick und Verstand, ließ Amt und Frau im Stich und lebte meist in Paris, wo ihn seine Gönner, der Finanzminister Fouquet, die Prinzen von Condé und Conti, die Herzöge von Vendôme und Burgund, Henriette von England, die Herzogin von Orléans, besonders aber Marie Mancini, Mazarins Nichte, Frau von Sablière und in seinen letzten Tagen Frau von Hervart, wie ein unmündiges Kind sein ganzes Leben hindurch leiteten und für seinen Unterhalt sorgten. In intimem geistigen Verkehr mit Molière, Racine, Boileau, besonders aber mit dem gelehrten Kanonikus Maucroix, lebte er fern vom Hof; Ludwig XIV., sei es aus tugendhafter Anwandlung oder aus Groll gegen den Dichter, der seine treue Anhänglichkeit an den gestürzten Minister Fouquet laut zu bekennen wagte, ist ihm immer ungnädig gewesen und hätte sogar gern seine Wahl in die Akademie (1684) gehindert. Eine schwere Krankheit (1693) und das fortgesetzte Drängen der Geistlichkeit riefen in L. eine vollständige Sinnesänderung hervor; er verleugnete seine leichtfertigen Schriften und beschäftigte sich nur noch mit Übersetzungen aus der Bibel. Er starb 13. April 1695. Lafontaines Hauptwerke sind seine schlüpfrigen, aber vorzüglich erzählten „Contes et nouvelles“ (5 Bücher, 1665–1695), ein Hauptgenuß der frivolen Gesellschaft jener Zeit, und seine „Fables“ (12 Bücher, 1668–90; 1867 hrsg. mit Zeichnungen von G. Doré; deutsch von Dohm, 1876; kritische Ausgabe mit deutschem Kommentar von Laun, Heilbr. 1877), deren Stoff zwar überallher genommen ist, welche aber wegen der Wahrheit und Naivität der Erzählung, der Gesundheit ihrer Moral und Vollkommenheit des Stils unübertreffliche Meisterwerke sind. Außerdem hat er elf Theaterstücke geschrieben und eine Menge kleinerer Gedichte, von denen viele verschollen sind; eine Menge zweifelhafter finden sich in den „Œuvres inédites“ von Lacroix (1863). Die besten Ausgaben seiner „Œuvres complètes“ sind die von Walckenaer (1819–20, 18 Bde.) und die von Girard und Desfeuilles in den „Grands écrivains“ (1880 ff., 8 Bde.). Vgl. Saint-Marc Girardin, L. et les fabulistes (Par. 1867, 2 Bde.); Taine, L. et ses fables (10. Aufl., das. 1885); Kulpe, L., seine Fabeln u. ihre Gegner (Leipz. 1880).

2) August Heinrich Julius, überaus fruchtbarer und seiner Zeit sehr beliebter deutscher Romandichter, geb. 10. Okt. 1759 zu Braunschweig, studierte in Helmstädt Theologie, bekleidete bis 1789 meist Hauslehrerstellen, folgte 1792 dem preußischen Heer als Feldprediger in die Champagne, privatisierte seit 1800 in Halle und starb 20. April 1831 daselbst. L. ist Erfinder und zugleich Koryphäe der spießbürgerlich-moralisch-sentimentalen Richtung, welche, wie das Drama unter Ifflands und Kotzebues Führung, auch der Roman in Deutschland am Schluß des vorigen und am Anfang dieses Jahrhunderts einschlug. Sein ursprünglich hübsches, gefällig und leicht darstellendes Talent verflachte er durch Vielschreiberei. Über 150 Bände Romane hat er verfaßt, wobei ihm widerfahren ist, daß er in spätern Werken vergessene Erfindungen der frühern nochmals erfand. Als die bessern seiner Erzählungen nennen wir: „Gemälde des menschlichen Herzens“ (1792), „Die Familie v. Halden“ (1803), „Quinctius Heymeran von Flamming“ (1796), „Schilderungen aus dem menschlichen Leben“ (1811), „Die Pfarre am See“ (1816) etc. Die scharfen Angriffe, welche die Jünger der romantischen Schule gegen L. richteten, fochten diesen nicht an, da er grundsätzlich keine Rezensionen las. Moralisch suchte er zu wirken durch seinen „Sittenspiegel für das weibliche Geschlecht“ (1804–1807, 5 Bde.). Vgl. Gruber, Lafontaines Leben und Wirken (Halle 1833).