Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Lȳrik“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 11 (1888), Seite 1316
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Lȳrik. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 11, Seite 13–16. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:L%C8%B3rik (Version vom 21.11.2023)

[13] Lȳrik (lyrische Poesie), in der Poetik diejenige Gattung der Poesie, welche die lyrische, d. h. die bewegte, Stimmung des von selbst in Worte ausbrechenden Gemüts nachahmt (s. Lyrisch). Dieselbe ist daher immer (nach Goethe) „Gelegenheitspoesie“, d. h. durch Gelegenheit, die Ursache der Stimmung, veranlaßt, und von der epischen Poesie (s. Epos), welche Handlungen in der Form bloßer Begebenheiten, sowie von der dramatischen (s. Drama), welche auch Begebenheiten in der Form von Handlungen darstellt, dadurch verschieden, daß sie auch Begebenheiten und Handlungen in der Form des Gefühls (s. d.), d. h. durch ihre Rückwirkung auf das Gemüt, darstellt. Da nun das Gefühl als angenehmer oder unangenehmer Eindruck des Gefühlten auf den Fühlenden (das Subjekt) von der Natur dieses letztern selbst, die Wahrnehmung dagegen von der Natur des Wahrgenommenen (des Objekts) abhängt, so wird nicht nur das Gefühl subjektiv (die Wahrnehmung objektiv), sondern auch die lyrische Poesie, welche Gemütszustände (im Gegensatz zur dramatischen und epischen, welche Gegenstände) darstellt, subjektiv (epische und dramatische objektiv) genannt. Mittel der Darstellung ist dabei, wie bei der Poesie überhaupt, das Wort; die Form der Darstellung aber wird durch die Form des Darzustellenden, des Gefühls, vorgeschrieben. Dasselbe schließt als „dunkler“ (bewußtloser) Seelenzustand die Formen bewußter Seelenzustände, sowohl die des logischen (begründenden) Denkens als jene des moralischen (durch Maximen begründeten) Wollens, von sich aus; daher bleibt auch von der lyrischen Darstellung sowohl die Anordnung nach der richtigen Zeitfolge (das Gesetz der epischen) als jene nach der Kausalfolge (das Gesetz der dramatischen Darstellung) ausgeschlossen. Zwar muß, um einen Gemütszustand darzustellen, derselbe so gut wie die Begebenheit (im Epos) und die Handlung (im Drama) im lyrischen Gedicht als Einheit dargestellt werden; da es sich aber nicht um die Nachahmung einer Zeit- oder Kausalreihe, sondern eines Gefühls handelt, so kann die lyrische Einheit nicht, wie die epische, in der ununterbrochenen Aufeinanderfolge der Teile des epischen und nicht, wie die dramatische, in der ununterbrochenen Aufeinanderfolge der Teile des dramatischen Gedichts, sondern sie muß in der ununterbrochenen Inhaltsverwandtschaft aller Teile des lyrischen Gedichts bestehen. Das lyrische Gedicht muß, wie ein musikalisches Werk (Sonate, Symphonie), in einerlei „Tonart“ gesetzt sein. Diese Einheit der Stimmung ist das Haupterfordernis und verträgt sich sehr wohl mit der Vernachlässigung der zeitlichen und Kausalverhältnisse des im Gedicht Verbundenen (lyrische Sprünge), wenn diese letztere mit der Gemütsstimmung im Einklang und der Übergang von einem Teil der Dichtung zum andern durch die Association nach der Ähnlichkeit oder dem Kontrast begreiflich ist. Dieselbe ist das Band, welches (wie im Epos die Zeitlinie, im Drama der Kausalnexus) die lose flatternden Bilder der lyrischen Dichtung zusammenhält und (wie jene) auch äußerlich im metrischen Bau, dessen Rhythmus den Rhythmus des Gefühls nachahmt, erkennbar zum Ausdruck kommt. Die Pausen der Stimmung, nach welchen dasselbe (oder ein kontrastierendes) Gefühl im Gemütsleben wieder erscheint, werden dabei im Gedicht durch Ruhepunkte zwischen Absätzen (Strophen), auf welche ein gleichartiger (oder kontrastierender) metrischer Bau (Antistrophe) folgt, nachgeahmt. Die Mannigfaltigkeit der Gemütsstimmungen, deren jede ihr eignes, bald beschleunigtes, bald verlangsamtes, bald bleibendes, bald wechselndes Tempo besitzt, hat in der lyrischen Poesie zu einer gleichkommenden Vielartigkeit künstlicher Versformen geführt, während die schmucklose Monotonie der geraden Zeitlinie und der sich gleichbleibenden Richtung der Kette von Ursachen und Wirkungen im Epos und Drama einfache Metra (Hexameter, Trimeter, Alexandriner, Blankvers etc.) erzeugt.

Die Einteilung der L. als Poesie des Gefühls richtet sich nach der Art und Stellung des Gefühls. Je nachdem der Dichter, der Träger der lyrischen Gemütsstimmung, entweder ganz in dieselbe versenkt (in das Gefühl verloren) erscheint, oder derselben gegenüber sich beobachtend und beurteilend verhält, unterscheidet man bewußtlose (naive, objektive) und bewußte (reflektierende, sentimentale nach Schiller, subjektive) L. Letztere, welche, mit jener verglichen, die kühlere ist, hat zu ihrem Objekt entweder ein fremdes oder das eigne Subjekt, reflektiert entweder über einen andern oder über sich selbst und heißt im letztern Fall selbstbewußte (humoristische, subjektiv-objektive) L. Die naive L. zerfällt, je nachdem die dargestellte Gemütsstimmung einfach die lyrische oder eine außergewöhnlich erhöhte (lyrische Verzückung) ist, in niedere und höhere. Jener gehört das Lied (s. d.) und zwar, je nachdem die Gemütsstimmung eine beschauliche (ruhig genießende) oder begehrliche (verlangende oder verabscheuende) ist, das Freude- und Trauerlied, das Sehnsuchts-, Hoffnungs-, Klage- und Angstlied an. Diese zerfällt, je nachdem die Verzückung ruhig (Kontemplation) oder bewegt (Affekt), entweder durch intellektuelle (Enthusiasmus) oder sinnliche Mittel (Orgiasmus) erzeugt ist, in die didaktische (lehrreiche) und ekstatische L. Jener gehört, je nachdem das Objekt der Kontemplation ein religiöses oder weltliches ist, der Hymnus (Hymnen des Rig-Weda, Orphische und Homerische Hymnen) und das philosophische Lehrgedicht (Schillers „Spaziergang“, [14] „Die Ideale“), dieser gehört die (geistliche und weltliche) Ode (Davids Psalmen; Pindars, Klopstocks, Platens Oden) und der Dithyrambus (Bacchischer Gesang, Schillers „Dithyrambe“) an. In der höhern wie niedern L. ist die (freudige oder traurige) Gemütsstimmung entweder durch die Anwesenheit oder durch die Abwesenheit des (angenehmen oder unangenehmen) Objekts erzeugt. Im erstern Fall ist dieselbe rein (erhabene, idyllische Freude; erhabene, idyllische Trauer), im letztern gemischt entweder aus der Freude über die Annehmlichkeit und der Trauer über die Abwesenheit (elegisches Entzücken, elegische Freude) oder aus der Trauer über die Unannehmlichkeit und der Freude über die Abwesenheit (elegischer Jammer, elegische Trauer) des Objekts. Durch die Erinnerung des einstigen Besitzes des Angenehmen sowie durch die Vorstellung seines künftigen Besitzes (Hoffnung) wird die Trauer über dessen Abwesenheit, durch das Bewußtsein, daß das Unangenehme nicht mehr oder noch nicht gegenwärtig ist, die Trauer über dessen Unannehmlichkeit gemildert (erhabener, elegischer Trost). Durch die Vorstellung, daß das Angenehme nicht mehr oder noch nicht gegenwärtig (und vielleicht nie wird: Furcht), wird die Freude an dessen Annehmlichkeit, durch das Bewußtsein, daß dasselbe nur scheinbar angenehm, in Wahrheit das Gegenteil (die vermeintliche Treue Treulosigkeit) sei, die Freude über dessen Anwesenheit getrübt (hoffnungslose, elegische Verzweiflung). Goethe und das Volkslied weisen alle Schattierungen der niedern L. auf; die erhabene Freude der höhern L. erscheint in den wedischen Hymnen und philosophischen Lehrgedichten Schillers, die erhabene Trauer in den Traueroden Klopstocks und Platens, der erhabene Trost in den Psalmen, die erhabene Verzweiflung (Weltschmerz) in Byrons und in der modernen L. des (Comteschen) Positivismus (Louise Ackermann) vertreten.

Wird die lyrische Gemütsstimmung von andern geteilt, so erscheint die soziale (gesellige), wird sie durch die gleiche oder entgegengesetzte andrer im Dichter verursacht, die sympathetische (gesellschaftliche) L. Form der erstern ist der gesellige (Chor-) Gesang, Form der letztern die Anrede (Apostrophe) an den (oder die) andern als (wirklichen oder doch vermeintlichen) Urheber der eignen (gleichen: Liebe um Liebe, Haß um Haß; oder entgegengesetzten: Liebe um Haß, Haß um Liebe) Gemütsstimmung. Zu jener gehört je nach der Beschaffenheit der gemeinsamen Gemütsstimmung der geistliche und weltliche Chorgesang, dagegen je nach dem gemeinsamen Grund, aus welchem die Gemeinsamkeit der Gemütsstimmung entspringt (Gleichheit der Abstammung, des Alters, des Standes und Berufs, des bleibenden oder vorübergehenden Zwecks), das Lied der Volks-, Alters-, Standes- und Berufs-, Trink-, Fest-, Bundes- etc. Genossen (Volks-, Jugend-, Jäger-, Soldaten-, Trink-, Fest-, Bundeslied etc.). Diese umfaßt, je nachdem der andre dem Dichter höher als er selbst (dem Menschen ein Gott, eine Göttin) oder ihm gleich (ebenbürtig) oder unter ihm stehend (der Mensch der Natur gegenüber sich als Gott) erscheint: die L. der Ehrfurcht (Lob- und Danklied), wenn jener Höhere als zugeneigt, der Furcht (Bitt- und Sühnelied), wenn er als abgeneigt gedacht wird; die L. der Sympathie, wenn jener Ebenbürtige als liebend (Freundschaftslied, wenn er desselben, Liebeslied, wenn er entgegengesetzten Geschlechts ist), der Antipathie, wenn jener Ebenbürtige als hassend gedacht wird (Kriegslied, wenn er desselben, Trutzlied, wenn er entgegengesetzten Geschlechts ist); die L. des Erbarmens, wenn das Schwächere als willig (Wiegen- und Pflegelied), des Machtgefühls, wenn dasselbe als unwillig (Triumph- und Siegeslied) sich fügend vorgestellt wird.

Wie die Form der naiven sympathetischen L. die unmittelbare, so ist die der reflektierenden die (durch die Schrift) vermittelte Anrede, der poetische Brief, welcher dort, wo der Gegenstand der Reflexion der Reflektierende selbst ist, in der humoristischen L., wieder zur Anrede (des Dichters an sich selbst), aber zur ironischen, zum Selbstzwiegespräch wird. Jene erscheint als Epistel, wenn bei der Reflexion über andre nur der Verstand, als Elegie, wenn das Gemüt, als Satire, wenn das Gewissen beteiligt ist. Die Epistel ist komisch, wenn der andre als thöricht, didaktisch, wenn er als (unverschuldet) unwissend vorausgesetzt, also im erstern Fall verspottet, im letztern aufgeklärt wird (des Horaz Brief ad Pisones). Die Elegie (gemütvolle Epistel) ist Mitteilung der eignen (römische) oder Mitgefühl mit fremder (heiterer oder trüber) Gemütsstimmung (griechische Elegie). Die Satire (die moralische Epistel) ist entweder Anklage (juvenalisch) oder Strafe (Archilochos’ Iamben, Goethes und Schillers Xenien). Zur römischen Elegie (Ovids „Ex ponto“) gehört auch die Heroide (das Schreiben aus der Unterwelt), zur Epistel und Satire das adressierte Epigramm.

Die über sich selbst reflektierende L. teilt mit der sympathetischen L. die Form der Anrede, mit dem Unterschied, daß der Angeredete nicht, wie bei dieser, als ein wirklicher andrer vorausgesetzt, sondern der selbsterfundene Doppelgänger des Dichters ist, wodurch der Gebrauch obiger Form ein ironischer wird. Weder das höhere Wesen, das er zu ehren oder zu fürchten, noch das ihm ebenbürtige, das er zu lieben oder zu hassen, noch das schwächere, dessen er sich zu erbarmen oder über das er zu triumphieren vorgibt, sind für den Dichter wirklich vorhanden. Himmel, Erde und Hölle sind für ihn nichts als Geschöpfe seiner Einbildungskraft, an welche zu glauben Thorheit wäre, an welche nicht glauben zu können sein Unglück ist. Glaube, Liebe und Hoffnung sind für des Dichters Kopf ein Wahn; die Wahrheit des Geglaubten, Geliebten, Gehofften ist für des Dichters Herz ein unauslöschliches Bedürfnis; Verstand und Gemüt, Wissen und Wunsch liegen im unauflöslichen Zwiespalt; aus der Zerrissenheit des Dichters, der sich verlacht, wenn er glaubt, und beweint, weil er nicht glaubt, der durch Elend klug und durch Klugheit elend geworden ist, entspringt die aus Spott und egoistischem Erbarmen gemischte Gemütsstimmung (der böse Humor, Weltschmerz), deren Ausfluß die vorzugsweise moderne humoristische L. (Lord Byron, Heine) ist. Dieselbe nimmt, je nachdem sie sich (asthenisch) in die Unabänderlichkeit (die Thatsache des hoffnungslosen Zwiespalts) ergibt (Heine) oder sich (sthenisch) gegen dieselbe und deren vermeintlichen Urheber empört (Byron, Shelley, A. de Musset), die Form der (komischen oder tragischen) Resignation (pessimistische L.) oder des heroischen (dem des Satans wider Gott ähnlichen) Widerstandes (satanische L.) an. Während die komische Resignation (Heine) auf der Stufe der niedern L. (ironisches Lied, humoristisches Epigramm) beharrt, hebt sich die tragische als pessimistisches Lehrgedicht, pessimistische Ode (Louise Ackermann) und pessimistischer Chorgesang (antike Tragödie) zur Stufe der höhern empor, welcher die satanische L. („Der Kampfruf wider und der Triumphgesang über die Götter und das Schicksal“ in Äschylos’, Goethes, Shelleys u. a. Prometheus-Dichtungen) durchaus angehört.

[15]
Geschichtliche Entwickelung der Lyrik.

Die Anfänge der L. fallen zusammen mit den Anfängen lyrischer Gemütsstimmung. Das lyrische Gedicht ist nach Goethes Ausdruck das „Gelegenheitsgedicht“; aus der durch irgend einen Anlaß erzeugten lyrischen Gemütsstimmung bricht der bezeichnende, rhythmisch den Rhythmus des erzeugenden Gefühls nachahmende Worterguß hervor. Die Volkslieder der Chinesen (Jagd-, Liebes-, Opfer-, Familienlieder etc.) in gereimten Versen reichen, im Schi-King gesammelt, bis anderthalb Jahrtausende v. Chr. zurück und haben, dem Volksgeist entsprechend, vorzugsweise lehrhaften (moralischen) Charakter. In Ägypten finden sich Hymnen, die an die Psalmen erinnern, und Totenklagen (Manerosgesang: Klagelied der Isis um Osiris). Vorzugsweise lyrisch ist der Charakter der L. der Hebräer: für sie ist die äußere Welt nur da, insofern sie das Gemüt erregt; die Phantasie geht von der Verwandtschaft der Bilder aus, springt je nach der Ähnlichkeit von einem zum andern. Ihre Bilder sind einfach, aber großartig, blitzähnlich schlagend; ihre Begeisterung ist hinreißend, ekstatisch, enthusiastisch; ihr Objekt das Höchste, der Nationalgott Jehovah; das Verhältnis zu ihm nicht kontemplativ, sondern sympathetisch: Anruf, Lob, Dank, Verehrung, Furcht, Hoffnung und Zuversicht. Ihre äußere Form ist Parallelismus der Gedanken und Strophenbau. Neben der geistlichen (Psalmen Davids, Propheten) bestand eine weltliche didaktische (Salomos Spruchweisheit), Liebes- (das Hohelied Salomos) und Kriegslyrik (Siegeslied der Deborah). Die L. der Inder ist in der ältesten Zeit Hymnengesang (die Hymnen des Rig-Weda), nach der Vollendung der großen Nationalepen didaktische Spruchdichtung (die Sprüche des Bhartrihari) und, im schroffen Gegensatz zu philosophischer Weltflucht und asketischem Büßertum, eine sinnlich-brünstige Liebeslyrik (Gitagowinda). Didaktisch in allegorischer Personifikation sind auch die ältesten Gesänge der Avesta des Zendvolkes in Iran. Bei den Griechen tritt die L., wie es naturgemäß ist, erst nach dem Zeitalter des (Homerischen) Epos als Chorgesang bei den Doriern, als Elegie (ursprünglich soviel wie Klagegesang) bei den Ioniern auf; jene war ursprünglich (bis auf Thaletas) in Hexametern, später in freien Rhythmen, diese im Distichon (abwechselnd Hexameter und Pentameter) verfaßt und durch Kallinos (7. Jahrh. v. Chr.) und Tyrtäos (7. Jahrh.) zum kriegerischen, von Solon im demokratischen und von Theognis (aus Megara) im aristokratischen Sinn zum politischen Gedicht ausgebildet, während Mimnermos (von Kolophon), der melancholische Sänger der vergänglichen Jugend und des Frühlings, ihren ursprünglich wehmütigen Ton beibehielt. Gleichzeitig erfand Archilochos das in Iamben verfaßte lyrische Spott- und Strafgedicht (die Satire), Theognis die Gnome, Simonides (von Keos) das Epigramm, Äsop die didaktische Fabel, während ein Jahrhundert später aus dem volkstümlichen Chorgesang das kunstmäßige, strophisch gegliederte Chorlied (durch Alkman), der Dithyrambos (durch Arion), das Skolion (Trinklied, durch Anakreon) und die Ode (durch Alkäos, die Dichterin Sappho und den erhabensten von allen, Pindar) entstanden. Auch bei den Römern war die älteste L., durch die Bedürfnisse des Gottesdienstes hervorgerufen, hymnischer Chorgesang (Lied der Arvalbrüder); der vorzugsweise auf das Praktische und Moralische gerichtete Sinn des Volkes aber rief in der besten Zeit der Republik die original-römische, reflektierende Dichtungsart, die Satire (durch Lucilius), als spottendes und strafendes Sittenbild hervor, während die verständige Nüchternheit römischer Aufklärung an die Stelle mythologischer Naturbeseeltheit eine rationalistisch-materialistische Naturauffassung im Lehrgedicht (durch Lucretius’ „Von der Natur der Dinge“) setzte und das Liebeslied (durch Catullus) den echt lyrischen Stempel des realistischen „Gelegenheitsgedichts“ gewann. Erstere ward im goldenen Zeitalter der römischen Litteratur (durch Horaz) im weltmännisch-heitern, im silbernen (durch Persius und Juvenal) im welthassend-ernsten Stil fortgebildet. Das Lehrgedicht, wie es dem immer mehr zum Nützlichen sich wendenden Geiste des Römertums entsprach, ward von der Stufe philosophischer Betrachtung auf jene einer praktischen Anleitung (Vergils „Gedicht vom Landbau“, des Horaz Brief „Von der Dichtkunst“) herabgedrückt. Das naive Gelegenheitslied wurde (durch Horaz) zur bewußten Gelegenheitsode (auf das kaiserliche Rom, dessen Herrscher und Größe) erhoben, büßte aber dafür das echt lyrische Gepräge des unmittelbaren Herzensergusses ein und gestaltete sich zum rhetorisch schwungvollen, aber innerlich kühlen Prunkgedicht um. Wie die Satire und das Epigramm (Martial), so entsprachen auch die übrigen Gattungen der reflektierenden L., die Epistel und die Elegie, der römischen Verständigkeit; jene wurde in klassischer Weise durch Horaz, diese als Liebeselegie durch Tibull und Properz, als Klage- und Sehnsuchtsepistel („Ex Ponto“) durch Ovid, durch letztern unter dem Namen Heroide auch als Trauerbrief Verstorbener an die Lebenden gepflegt.

Im Mittelalter entwickelte sich bei den islamitischen Völkern, Arabern und Neupersern, eine eigentümliche L., welche bei jenen mit Totenklagen, Liebes- und Spottversen (Hamâsa, Amrilkais) begann, nach dem Vorbild des Korans sich als Spruchdichtung (Motanebbi) entfaltete, in Sizilien und Spanien insbesondere als Liebeslyrik reiche Blüten trieb und nicht nur jüdischen, sondern auch christlichen Sängern zum Muster diente, bei diesen dagegen als mystische und moralisch-kontemplative Lehrdichtung (Dschelâl eddin Rumi, Saadi) sowie im Gegensatz dazu als sinnen- und lebensfrohe Wein- und Liebesdichtung (Hafis, Dschami) einen Reichtum künstlicher lyrischer Formen (Ghasel) schuf. Die christlichen Völker (Kelten, Germanen, Slawen) brachten nicht nur aus den Zeiten des Heidentums die Gewohnheit des Volksgesangs (keltisches, germanisches, slawisches Volkslied) mit, sondern durch die gemeinsame Institution des Rittertums, wohl auch durch die während der Kämpfe mit den Mohammedanern in Spanien und im Orient herbeigeführte Bekanntschaft mit der arabischen L. entstand zunächst in der Provence und verbreitete sich von da aus über das ganze christliche Europa eine gemeinsame weltliche L., zugleich aber durch die über die ganze abendländische Kirche ausgebreitete gemeinsame Institution des katholischen Klerus eine dieser wie himmlische Liebe der irdischen und Kampf mit geistigen jenem mit sinnlichen Waffen entgegengesetzte und doch durch den gemeinsamen Inhalt: Liebe und Kampflust, innig verwandte gemeinsame geistliche L. Mittelpunkt der erstern ist die weltliche (weltlicher Minnesang; Troubadoure, Minnesänger), der letztern die himmlische (geistlicher Minnesang; Marienlieder) Herrin (Madonna); der besungene Kampf entweder der Kampf gegen die Ungläubigen und unwürdigen Gläubigen (der Papst als Antichrist: Walther von der Vogelweide, Bertrand de Born) oder gegen die Sünde durch die Ausmalung der Schrecken des Weltgerichts („Dies irae“, Thomas von Celano). [16] Mit dem Verfall des Rittertums erstarrte durch einseitige Nachahmung der äußern metrischen Form der ritterliche Minnegesang in Deutschland zum handwerksmäßigen Meistergesang (Tabulatur; die Meistersinger), in Italien zum technisch gekünstelten Klinggesang (Sonett, Kanzone, Sestine, Triolett, Madrigal etc.; die Improvisatoren); jenem hauchte das Volkslied des Reformationszeitalters (Landsknechtslieder, Lieder der fahrenden Schüler, Studentenlieder etc.), diesem der Humanismus der Renaissanceperiode (Petrarcas Laura-Sonette und patriotische Kanzonen; Michelangelos, Raffaels Sonette etc.) frisches (volkstümliches und antikes) Leben ein. Aus jenem erwuchs durch Luther im protestantischen Europa das (unübertroffene deutsche) evangelische Kirchenlied, durch Goethe im goldenen Zeitalter der deutschen Litteratur das klassische weltliche Lied; dieser legte den Grund zu der formvollendeten, aber innerlich kühlen rhetorischen Kunstlyrik, wie sie bei den romanischen Völkern bis auf die neuere Zeit, zum Teil (Spanier, Portugiesen, Italiener) bis auf die Gegenwart sich erhalten hat, und welcher, dem Stammescharakter derselben entsprechend, die römischen Lyriker (insbesondere Horaz) zum Vorbild gedient haben. Neben derselben haben in Frankreich vor der Revolution Ronsard, der Hauptdichter der sogen. Plejade, J. B. Rousseau u. a. nach römischem, André Chénier nach griechischem Muster als Odendichter, Boileau nach dem Muster des Horaz als Satiriker und Epistolograph, Voltaire als Meister in der sogen. poésie fugitive Ruf erlangt; seit der Revolution gelten der „Vater des Chansons“, Béranger, die Romantiker: Lamartine, V. Hugo, die „Gottlosen“: A. de Musset, A. de Vigny, die Nihilisten der „Bohême“: Sully-Prudhomme, F. Coppée, die Propheten der sozialen Reformation: H. Murger, Louise Ackermann (die „Sängerin des Positivismus“) u. a. als dessen bedeutendste Lyriker. Unter den Italienern haben sich außer Metastasio V. Monti, I. Pindemonte, der schwermütige Leopardi, Giusti u. a. ausgezeichnet. Die aus französischer Schule entsprossenen englischen Lyriker des 18. Jahrh. (Pope, Gay, Thomson, der „englische Boileau“, Jonson, u. a.) werden durch die sogen. Seedichter (Southey, Wordsworth, Coleridge u. a.), diese sämtlich durch die sogen. satanische Schule (Lord Byron, Shelley) und die unvergleichlichen Liederdichter des schottischen und des irischen Volkes (Robert Burns und Thomas Moore) in Schatten gestellt, denen sich die modernen Lyriker Englands (Tennyson, Swinburne u. a.) und Amerikas (Longfellow, Edgar Poe u. a.) sowie die radikalen Poeten der sogen. Chartistenschule (Th. Hood u. a.) anreihen. In Deutschland sind auf die frommen Liederdichter des 16. und 17. Jahrh. (P. Gerhardt, S. Dach, P. Fleming u. a.) die barocken Pegnitzschäfer, die schlesischen Dichter (Opitz, der talentvolle Liederdichter Günther, der Epigrammatiker Logau), die Didaktiker (Brockes, Haller), Satiriker (Canitz) und moralischen Fabeldichter (Gellert), die Seraphiker (Klopstock) und Anakreontiker (Gleim, J. G. Jacobi), die patriotischen und realistischen Dichter (Göttinger Dichterbund: Bürgers Molly-Lieder), Goethe und Schiller, jener als klassisches Muster in allen Gattungen der niedern, dieser als unerreichter Meister im weltlich-kontemplativen Genre der höhern L., gefolgt. Nach ihnen haben sich die Romantiker vorzüglich als Übersetzer und Nachahmer romanischer L., Mystiker, wie Novalis-Hardenberg, als geistliche Liederdichter, Patrioten, wie Körner, Arndt, Schenkendorf, Follen, Rückert u. a., als politische, der (wie Rückert) sprachgewaltige Platen als Odendichter hervorgethan, während die schwäbischen Poeten (Uhland, Kerner), W. Müller u. a. sich als Sänger der Liebe und des Frühlings auszeichneten. Der Einfluß Lord Byrons und der französischen Julirevolution brachte auch in der deutschen L. eine Umwälzung hervor, indem die humoristische L. (Heine und dessen Schule) und die politische L. (A. Grün, Lenau, Freiligrath, Herwegh u. a.) in den Vordergrund traten, während E. Geibel u. a. zu dem Goetheschen Lied zurückstrebten, V. Scheffel, R. Baumbach u. a. aus dem humoristisch angehauchten Volksgesang eine neue L. des „fahrenden Spielmanns“ zurückriefen. Die skandinavischen Völker haben in dem Dänen Öhlenschläger, den Schweden E. Tegnér und Atterbom, die slawischen Völker in dem Russen Puschkin, den Polen Mickiewicz und Krasinski, die Tschechen in Czelakowsky, Kollar u. Macha, die Südslawen in Gaj, von den finnischen Völkern die Magyaren in Alexander Petöfi bedeutende lyrische Talente aufzuweisen. Vgl. über L. die Werke über Ästhetik von Carriere, Vischer, Zimmermann; über die Geschichte der L. Carriere, Die Kunst im Zusammenhang der Kulturentwickelung (3. Aufl., Leipz. 1876–86, 5 Bde.).