Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Krimkrieg“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 10 (1888), Seite 225226
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Krimkrieg. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 10, Seite 225–226. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Krimkrieg (Version vom 29.10.2022)

[225] Krimkrieg, der zwischen Rußland einerseits und der Türkei und ihren Verbündeten (England, Frankreich und Sardinien) anderseits 1853–56 geführte Krieg, welcher seine Entscheidung in den blutigen Kämpfen um Sebastopol auf der Halbinsel Krim fand. Der Kaiser Nikolaus von Rußland hielt 1853 die Zeit für gekommen, die Macht seines Reichs im Orient entscheidend zur Geltung zu bringen: die Revolution war mit seiner Hilfe niedergeworfen, Preußen und Österreich betrachtete er als seine Vasallen, England hielt er nicht für willens, Frankreich nicht für fähig, sich ihm zu widersetzen, die Türkei aber der Auflösung nahe. Er wollte diese nicht direkt erobern, aber die Donaufürstentümer, Serbien und Bulgarien als selbständige Staaten unter russischem Schutz losreißen. Da England eine Vereinbarung über die Teilung der Türkei ablehnte, schickte er im Februar 1853 den Fürsten Menschikow nach Konstantinopel, um neben der Anerkennung des Rechts der griechischen Kirche auf die heiligen Stätten in Jerusalem den Abschluß eines förmlichen Vertrags über die Garantie der Privilegien der griechischen Kirche in der Türkei zu verlangen. Menschikow brachte diese Forderungen überdies in so schroffer, herausfordernder Weise vor, daß die Pforte sie trotz der Zurückhaltung der Westmächte ablehnte, worauf 2. Juli 40,000 Russen unter Gortschakow in die Donaufürstentümer einrückten. Obwohl Rußland erklärte, daß die Fürstentümer nur ein Pfand für die Erfüllung seines gerechten Verlangens nach Schutz der christlichen Religion sein sollten, traten die Russen doch als wirkliche Herren auf und nahmen förmlich von der Regierung Besitz. Die Gesandten Englands, Frankreichs, Österreichs und Preußens traten daher 24. Juli in Wien zu einer Konferenz zusammen und machten in einer Note vom 2. Aug. einen Vermittelungsversuch, der jedoch scheiterte. Gedrängt durch die gereizte Stimmung der mohammedanischen Bevölkerung, erklärte der Sultan Abd ul Medschid nun 4. Okt. an Rußland den Krieg, während eine englische und französische Flotte, welche schon seit dem Frühjahr in der Besikabai ankerten, in den Bosporus einliefen. Erst als die russische Flotte unter Nachimow 30. Nov. eine türkische bei Sinope überfiel und vernichtete und Nikolaus einen neuen Friedensvorschlag der Wiener Konferenz hochmütig zurückwies, ließen die Westmächte ihre Flotten in das Schwarze Meer einlaufen, riefen ihre Gesandten aus Petersburg ab und schlossen 12. März 1854 mit der Türkei ein Bündnis.

Von den Voraussetzungen, mit denen Rußland den Krieg begonnen, erfüllte sich keine: weder empörten sich die Rajahs in den türkischen Provinzen, noch leisteten Österreich und Preußen den erwarteten Beistand, vielmehr vereinigten sie sich 20. April zur Forderung der Räumung der Donaufürstentümer und erklärten deren Einverleibung oder die Überschreitung des Balkans für einen Kriegsfall; auch entsprach der Fortgang des Kriegs an der Donau den gehegten Hoffnungen nicht: die Türken verteidigten sich tapfer und brachten den Russen wiederholt Verluste bei. Selbst Paskewitsch konnte Silistria nicht erobern; zwei Stürme wurden blutig abgeschlagen, und 21. Juni mußte die Belagerung der Festung nach einem Verlust von 12,000 Mann aufgehoben werden. Nur in Armenien hatte der Krieg einen für Rußland günstigen Verlauf. Unter diesen Umständen war es für die Russen eine Befreiung aus großer Verlegenheit, daß die Sommation Österreichs vom 14. Juni ihnen einen Vorwand gab, die Donaufürstentümer zu räumen und sich in dem nun entbrennenden Kampf mit den Westmächten auf die Defensive zu beschränken. Diese schickten eine große Flotte nach der Ostsee, welche aber nur die unbedeutende Festung Bomarsund auf den Alandsinseln (16. Aug.) eroberte, gegen Kronstadt und die übrigen Festungen, in denen die russische Flotte Schutz suchte, sich aber ohnmächtig erwies und ebensowenig ausrichtete wie die Streifzüge der englischen Schiffe in dem Nördlichen Eismeer und den ostasiatischen Gewässern. Das Landheer, 40,000 Franzosen unter Saint-Arnaud und 20,000 Engländer unter Raglan, sammelte sich erst im Juni in Gallipoli und kam erst im Juli nach Warna, als die Russen bereits nach Bessarabien zurückgegangen waren. Der verunglückte Einfall des Generals Espinasse in die Dobrudscha im August zeigte deutlich die Gefahren eines Vordringens in diesen ungesunden Ebenen.

Daher entschlossen sich die beiden Feldherren zu einem Angriff auf die Krim, um Sebastopol mit seinen großen Vorräten zu erobern sowie die russische Flotte zu nehmen oder zu einer Schlacht zu zwingen. Die Landung in der Bucht von Eupatoria 14. Sept. wurde glücklich bewerkstelligt und das rasch gesammelte russische Heer unter Menschikow 20. Sept. an der Alma durch Umgehung seines rechten Flügels von den Franzosen und Türken geschlagen. Aber die Überrumpelung Sebastopols und der Flotte mißlang, da die Russen durch Versenkung der letztern die Einfahrt in den Hafen gesperrt und die Nordseite desselben gut befestigt hatten. Die Alliierten mußten sich darauf beschränken, die Bucht von Balaklawa zu besetzen und die Festung von der Südseite zu zernieren, während dieselbe von der Nordseite her mit Baktschisarai, wohin sich Menschikow zurückgezogen, und mit dem Innern Rußlands in ungestörter Verbindung blieb. Am 9. Okt. begann unter dem Oberbefehl Canroberts, der seit Saint-Arnauds Tod (29. Sept.) die Franzosen befehligte, und Raglans die Belagerung Sebastopols, um die sich nun nicht nur die Anstrengungen der kriegführenden Mächte, sondern auch das lebhafteste Interesse ganz Europas elf Monate lang drehten. Die Versuche der Russen, durch den Angriff auf die Engländer bei Balaklawa (25. Okt.) und durch die Schlacht auf dem Plateau von Inkerman (5. Nov.) die Verbündeten vom Meer abzuschneiden, mißlangen; aber auch deren Belagerungsarbeiten rückten langsam vorwärts. Der strenge Winter unterbrach bald ihren Fortgang und richtete unter den Truppen durch Krankheiten furchtbare Verheerungen an. Namentlich die Engländer, deren militärische Führung überdies mangelhaft war, erlitten infolge der schwerfälligen, erbärmlichen Armeeverwaltung anfangs ungeheure Verluste. Jedoch hielten die Verbündeten trotz aller Mühsale bis zum Frühjahr 1855 aus und empfingen auch so bedeutende Verstärkungen, daß ihre Anzahl größer war als im Herbst. Die Russen ergänzten und erweiterten unter General Totlebens genialer Leitung während des Winters die Befestigungswerke und erhielten ebenfalls ansehnliche Verstärkungen, obwohl die Ergänzungstruppen durch die ungeheuern winterlichen Märsche in den öden Steppen mitunter fast aufgerieben wurden, ehe sie nach Sebastopol kamen, und die Verpflegung der Festung trotz enormer Kosten doch mangelhaft war.

Die Diplomatie war inzwischen auch thätig, teils um einen Frieden zu vermitteln, teils um die deutschen Mächte zur Teilnahme am Krieg zu bewegen. [226] Indes obwohl die Stimmung in Deutschland und Österreich entschieden für die Westmächte war, welche die Sache der Zivilisation gegen den russischen Despotismus zu verteidigen schienen, blieben Österreich und Preußen schließlich doch unthätig; nur Sardinien schloß sich 26. Jan. 1855 den Westmächten an und schickte im Mai 15,000 Mann nach der Krim. Die Russen begannen den Kampf 17. Febr. mit einem unglücklichen Angriff auf die Türken in Eupatoria und setzten ihn auch nach Kaiser Nikolaus’ Tod (2. März) fort. Die Alliierten hatten auf General Niels Rat ihren Angriffsplan geändert und ihn gegen die Schiffervorstadt und die diese beherrschende Befestigung des Malakow gerichtet. Der neue Befehlshaber Pélissier leitete den Kampf mit stürmischer Energie. Unaufhörlich wurde die Festung mit Geschossen überschüttet, und fast täglich wurden Batterien und Schanzen mit stürmender Hand angegriffen. Die Russen verteidigten sich mit zähster Tapferkeit und bauten in der Nacht die am Tag zerstörten Festungswerke wieder auf. Nachdem die Verbündeten sich der Außenwerke bemächtigt, versuchten sie 18. Juni den ersten Sturm auf den Malakow und den Redan. Derselbe ward abgeschlagen. Dagegen erlitten die Russen unter Gortschakow, als sie 16. Aug. von neuem einen Angriff in offenem Feld versuchten, an der Tschernaja eine Niederlage, und 8. Sept. eroberten die Franzosen wirklich in blutigem Kampf den Malakow, während der Sturm der Engländer unter Simpson (Raglan war 28. Juni gestorben) auf den Redan mißlang. In der Nacht sprengte Gortschakow die Festungswerke der Südseite in die Luft, versenkte den Rest der Flotte und zog sich auf die Nordseite der Bucht von Sebastopol zurück. Am 11. Sept. besetzten die Verbündeten die rauchenden Trümmer der Stadt, in der sie außer großen Vorräten noch 4000 Kanonen vorfanden.

Frankreichs Kriegslust und Ruhmsucht waren hiermit gestillt, und auch Rußland zeigte sich unter dem friedliebenden Kaiser Alexander II. zum Frieden geneigt, nachdem durch die Eroberung von Kars 28. Nov. auch seiner Waffenehre Genüge gethan war. In England hätte man eine Fortsetzung des Kriegs gewünscht, für die es mit unerschöpfter Kraft rüstete; indes als Rußland auf Österreichs Anregung 16. Jan. 1856 die 22. Juli 1854 von den Westmächten als Zweck des Kriegs und Grundlage des Friedens formulierten vier Punkte annahm, trat 25. Febr. in Paris der Friedenskongreß zusammen. Am 30. März 1856 wurde der Friede von Paris unterzeichnet. Rußland mußte die Donaumündungen nebst einem Landstrich Bessarabiens an die Donaufürstentümer abtreten, Kars wieder ausliefern und auf das einseitige Protektorat über die Donaufürstentümer und die Christen in der Türkei verzichten; die Organisation der erstern sollte von sämtlichen kontrahierenden Mächten ausgehen und von diesen auch gemeinsam die Reformen der Türkei, die selbst in das europäische Konzert aufgenommen wurde, überwacht werden. Die Schiffahrt auf der Donau wurde für frei erklärt, das Schwarze Meer neutralisiert und Rußland untersagt, mehr Kriegsschiffe auf demselben zu halten als die Türkei (welche Beschränkung 1871 auf der Londoner Konferenz wieder aufgehoben wurde). Dies Resultat schien geringfügig im Vergleich zu den ungeheuern Opfern, welche die Westmächte gebracht. Jedoch war es für den weitern Gang der Dinge von größter Bedeutung, daß die Türkei vor Rußlands Eroberungsgier nicht bloß gerettet, sondern auch die Macht dieses Staats, noch mehr der Nimbus derselben, gebrochen und Europa von dem drückenden Joch dieses Hortes der Reaktion befreit war. Den meisten Vorteil trug augenblicklich Napoleon III. davon, dessen Heer mit Ruhm und Erfolg für eine zivilisatorische Idee gekämpft hatte, und welcher nun der mächtigste Mann geworden war, dessen Bündnis viel umworben ward, und auf dessen Worte ganz Europa mit Spannung lauschte. Vgl. „Der Feldzug in der Krim 1854–55“, Sammlung der Berichte beider Parteien (Leipz. 1855–56); Anitschkow, Der Feldzug in der Krim (deutsch, das. 1857–60, 2 Bde.); Bogdanowitsch, Der orientalische Krieg 1853–56 (russ., Petersb. 1876, 4 Bde. mit 25 Karten); Kinglake, The invasion of the Crimea (6. Aufl., Lond. 1883, 7 Bde.); Bazancourt, Der Feldzug in der Krim (deutsch, Wien 1856); Rousset, Histoire de la guerre de Crimée (2. Aufl., Par. 1878, 2 Bde.); „Étude diplomatique sur la guerre de Crimée, par un ancien diplomate“ (Petersb. 1878, 2 Bde.); Geffcken, Zur Geschichte des orientalischen Kriegs 1853–56 (Berl. 1881).