MKL1888:Kriminalstatistik

Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Kriminalstatistik“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 10 (1888), Seite 224225
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Kriminalstatistik. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 10, Seite 224–225. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Kriminalstatistik (Version vom 24.11.2024)

[224] Kriminalstatistik (lat.), derjenige Zweig der Statistik (s. d.), welcher sich mit der Zusammenstellung und wissenschaftlichen Darstellung der Ergebnisse der Strafrechtspflege beschäftigt. Die K. ist ein wichtiges Hilfsmittel der modernen Strafgesetzgebung, weil sie die nötigen Anhaltepunkte zur Entscheidung der Frage gibt, gegen welche Verbrechen sich die strafrechtliche Wirksamkeit besonders zu richten hat. Diese Bedeutung der K. ist zuerst in Frankreich erkannt worden, woselbst man 1821 mit der regelmäßigen Veröffentlichung kriminalstatistischer Daten begann, die dann seit 1827 von Guerry-Champneuf fortgesetzt wurde. Ebenso entwickelte sich die K., namentlich unter dem Einfluß von Ducpétiaux, in Belgien, in England vorzugsweise infolge der Anregungen des großen Staatsmanns Sir Robert Peel. In Deutschland, wo von Karl Salomo Zachariä und von Mittermaier auf die Bedeutung der K. hingewiesen wurde, hat man eigentlich erst seit 1848 der K. die gehörige Aufmerksamkeit geschenkt. Seitdem jedoch inzwischen in allen deutschen Staaten statistische Büreaus gegründet worden sind, ist auch die K. von tüchtigen Statistikern, z. B. von E. Engel (s. d.), bearbeitet worden. Das nötige amtliche Material hierzu liefern die Justiz- und Polizeibehörden sowie die Direktionen der Gefängnisanstalten. Zu diesem Behuf werden von den Staatsanwalten und von den Gerichten besondere Tabellen (Kriminaltabellen, Straftabellen) geführt, in welche die einzelnen Untersuchungen und Verurteilungen mit Rücksicht auf die Art der verbrecherischen Handlungen, auf Zahl, Stand, Alter, Geschlecht und Rückfälligkeit der Verbrecher und auf die Strafarten eingetragen werden, und auf Grund deren dann die jährlichen Zusammenstellungen zu machen sind. Zunächst kommt es darauf an, den Prozentsatz der verurteilten Verbrecher von der Gesamtbevölkerung (die sogen. Kriminalität eines Landes oder nach Quételet in nicht zulässiger Weise als Maßstab für den „verbrecherischen Hang der Bevölkerung“ bezeichnet) statistisch festzustellen, wobei dann wiederum zwischen den einzelnen Landesteilen unterschieden, auch der statistische Vergleich mit andern Staaten gezogen wird. Hieran reiht sich dann die Statistik der einzelnen Verbrechensarten an, indem dabei gewöhnlich eine Einteilung der letztern in größere Gruppen, z. B. Verbrechen gegen das Eigentum und Verbrechen gegen die Person, stattfindet und besonders das alljährliche Vorkommen gewisser Verbrechen nach den verschiedenen Rubriken durch vergleichende Zusammenstellung der kriminalstatistischen Ergebnisse eines längern Zeitraums konstatiert wird. Dabei gilt es aber, auch die Einflüsse äußerer Umstände auf die Kriminalität zu beachten, so namentlich die geographischen Verhältnisse, indem z. B. die Verbrechen gegen das Eigentum in den großen Städten besonders häufig sind, während die Forstentwendungen naturgemäß vorzugsweise in Waldgegenden vorkommen. Dahin gehört auch der Einfluß der Jahreszeiten. Verbrechen gegen die Sittlichkeit kommen z. B. in der heißen Jahreszeit, wo der Geschlechtstrieb stärker ist, häufiger vor als im Winter, umgekehrt Verbrechen gegen das Eigentum häufiger im Winter als im Sommer, wo es mehr Verdienst gibt. Auch die Getreidepreise in wohlfeilen Zeiten und in Teurungsjahren stehen zu der Kriminalität in einem relativen Verhältnis: die Verbrechen gegen das Eigentum mehren sich in den Zeiten der Not, umgekehrt die Verbrechen gegen die Person, namentlich Körperverletzungen, bei günstigen Ernteverhältnissen, namentlich in guten Weinjahren; die Vergehen gegen die öffentliche Autorität mehren sich naturgemäß in Zeiten politischer Erregung etc. Besonders wichtig ist ferner die Personalstatistik der Verbrecher, wobei namentlich die Unterscheidung zwischen männlichen und weiblichen Verbrechern, die statistischen Beobachtungen über die Rückfälligkeit, welche bei dem weiblichen Geschlecht mehr hervortritt als bei dem männlichen, die verschiedenen Altersstufen, namentlich mit Rücksicht auf die jugendlichen Verbrecher, die Berufsklassen, die konfessionellen Verhältnisse, eheliche und uneheliche Geburt, die Bildungsverhältnisse, die Nationalität in Betracht kommen. Aber auch die statistischen Erhebungen über die Handhabung des Strafkodex, über Untersuchungen, Rechtsmittel, Freisprechungen, Verurteilungen, sind von Wichtigkeit. In sozial-ethischer Hinsicht ist die K. von großer Bedeutung, indem sie einen wichtigen Bestandteil der Moralstatistik (s. d.) überhaupt bildet. In den 80er Jahren wurden von je 100,000 Einwohnern wegen der unten bezeichneten strafbaren Handlungen angeklagt (a.), bez. verurteilt (v.):

in Mord und Tot­schlag Körper­ver­letzung Sitt­lich­keits­ver­brechen Dieb­stahl jeder Art, Raub u. Er­pressung
Deutschland a. 1,29 165,29 17,17 259,38
  v. 1,07 134,08 14,06 222,77
Österreich a. ? ? ? ?
  v. 2,44 230,96 9,33 ?
Ungarn a. 9,60 45,10 14,18 82,76
  v. 6,73 30,01 6,89 58,56
Italien a. 13,05 207,97 5,40 221,13
  v. 9,53 155,30 4,01 165,89
Spanien a. 10,86 54,01 1,69 74,75
  v. 8,25 43,18 1,03 59,64
Frankreich a. 2,19 68,46 11,57 121,93
  v. 1,54 63,41 10,26 110,96
Belgien a. 2,11 212,95 16,81 143,08
  v. 1,44 175,40 13,83 110,44
Großbritannien u. Irland a. 1,36 8,93 1,81 206,56
  v. 0,72 6,84 1,31 166,62

Aus vorstehender Übersicht lassen sich keine Schlüsse auf Charakter, Rechtssinn und Sinn für Sittlichkeit eines Volkes ziehen, mit Ausnahme der Verbrechen wider das Leben. Diese Gruppe hat sich im Deutschen Reich wie folgt gestaltet:

  (1882) (1883) (1884)
a. v. a. v. a. v.
Mord 192 151 198 153 177 139
Totschlag 181 169 185 164 147 131
Tötung auf Verlangen des Getöteten 5 3 2 2
Kindesmord 196 171 217 175 198 161
Vergiftung 16 13 14 11 18 15
Zusammen: 590 507 614 503 542 448

[225] Vgl. A. v. Öttingen, Die Moralstatistik in ihrer Bedeutung für eine Moralethik (3. Aufl., Erlang. 1882).