Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Kriegskunst“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 10 (1888), Seite 213214
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Kriegskunst. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 10, Seite 213–214. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Kriegskunst (Version vom 07.10.2023)

[213] Kriegskunst, die Kunst, durch zweckmäßigen Gebrauch der sich darbietenden Kriegsmittel den Kriegszweck (vgl. Krieg) auf die beste Weise zu erreichen. Die Aufgaben, welche der Krieg stellt, sind so vielseitig, die zu verwendenden Mittel nach Zeit und Ort so verschieden, die jedesmaligen besondern Verhältnisse der kriegführenden Parteien, der Kriegsschauplätze etc. so mannigfaltig, daß die Führung eines jeden Kriegs wieder andre Anforderungen stellt. Daneben gibt es aber doch gewisse unveränderliche Grundsätze für die Kriegführung aller Zeiten und aller Völker, und diese systematisch darzustellen, ist die Sache der Kriegswissenschaften (s. d.). Die Geschichte der K. und des Kriegswesens stellt den Gang dieser Entwickelung in Kriegs- und Friedenszeiten, also die militärischen Einrichtungen, die Waffen, Taktik, Operationskunst etc. aller oder einzelner Völker und Zeiten dar sowie die Einwirkungen der Kriegserfahrungen, der Wissenschaften, der Erfindungen auf die K. Sie ist demnach etwas andres als die Kriegsgeschichte (s. d.). Im Altertum war auch die Kriegführung einfach. Erst als man entferntere Züge unternahm, wurden auch die Vorkehrungen verwickelter. Unter dem Perserkönig Kyros scheint die K. der Asiaten den höchsten Gipfel erreicht zu haben. Die politischen Verhältnisse der griechischen Bundesstaaten waren der Entwickelung der K. nicht günstig; erst auswärtige Feldzüge führten zu eingehender Beschäftigung mit derselben. Ihren Glanzpunkt erreichte die K. der Griechen unter Alexander d. Gr. Die Römer bildeten sich nach den Griechen, führten aber bald den Krieg auf eigne Weise; Cäsar brachte die K. auf die höchste Stufe der Ausbildung. Unter den Kaisern geriet sie allmählich in Verfall, obschon es nicht an großen Feldherren fehlte. Die Völker, welche sich in das große römische Reich teilten, folgten mehr ihrem Instinkt als den Grundsätzen einer Kunst. Ebensowenig war im Mittelalter von einer K. die Rede; sogar untergeordnete Zweige derselben, wie die Taktik, blieben fast unkultiviert. Die höchst mangelhafte Heerverfassung jener Zeiten erschwerte entfernte Heereszüge und eine planmäßige Kriegführung. Die neuere K. beginnt mit dem Aufschwung der Wissenschaften, zunächst in den südwestlichen Staaten Europas, und demnächst mit der Errichtung stehender Heere. Heinrich IV. von Frankreich, Prinz Moritz von Nassau, Alexander Farnese u. a. machten sich besonders um die Entwickelung der K. verdient. Einen Abschluß in dieser Entwickelung brachte der Dreißigjährige Krieg, während dessen Gustav Adolf wichtige Veränderungen in der Taktik vornahm, leichtere Waffen einführte und namentlich um die Verbesserung der Artillerie sich große Verdienste erwarb. Nach ihm ging die Pflege der K. zunächst nach Frankreich über. Unter Ludwig XIV. fanden durch seinen Kriegsminister Louvois als Organisator, Vauban als Ingenieur und die lange Reihe französischer Feldherren, denen ein Wilhelm von Oranien, Prinz Eugen von Savoyen, Herzog von Marlborough, Kurfürst Friedrich Wilhelm und Leopold von Anhalt entgegentraten, alle Zweige der K. reiche Entfaltung. Friedrich Wilhelm I. erhob Preußen zu einer ansehnlichen Militärmacht, und durch seinen Sohn Friedrich d. Gr. erhielt die K. eine hohe Ausbildung; seit dem Siebenjährigen Krieg wurde die preußische Taktik (Saldern, Lascy) das Vorbild für alle Heere Europas, aber seit ihr der Geist Friedrichs fehlte, verfiel sie bald in mechanisches Drillen und taktische Künstelei. Der nordamerikanische Unabhängigkeitskrieg und die französischen Revolutionskriege brachten neue Elemente in die K., welche dann durch Napoleon I. weiter entwickelt wurden. Die Kunst, große Massen auf dem entscheidenden Punkt zu vereinigen und zu siegen, indem der Feind strategisch wie taktisch zersprengt wurde, war die Form des Napoleonischen Verfahrens, ein Gegensatz zu demjenigen Friedrichs d. Gr., welcher den Feind [214] durch Angriff auf einen Flügel gewissermaßen beiseite schob. Die Erfahrungen dieser langen Kriegsperiode führten zu der Aufstellung eines wissenschaftlichen Systems der K. (vgl. Kriegswissenschaft). Die Kriegsmittel haben indes in der neuesten Zeit durch die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht, die Fortschritte der Waffentechnik, der Chirurgie, vor allem aber in der Entwickelung des Verkehrswesens eine so tiefgreifende Umgestaltung gewonnen, daß mit dem Krieg von 1859 auch eine neue Epoche der K. beginnt, die im deutsch-französischen Krieg 1870/71 zu großartiger Bethätigung kam. Auch die allgemeine Teilnahme der Völker am öffentlichen Leben förderte die Teilnahme aller am Krieg und das Eintreten ganzer Völker in den Krieg, der um große nationale Zwecke geführt wird. Je größer aber die aufgebotenen Massen sind, um so weniger kann die Entscheidung lange hingezogen werden; sie muß rasch erfolgen, daher im Frieden sorgsamst vorbereitet sein und dann der Schlag mit aller Kraft und in der entscheidenden Richtung geführt werden. In Amerika rächte sich die Vernachlässigung der K. und der Wehrhaftigkeit im Frieden durch ungeheure Opfer und jahrelange Kämpfe, in Europa aber fanden große Kriege 1859 und 1866 in wenigen Wochen, ja 1871 ein wahrhafter Volkskrieg in wenigen Monaten ihr Ende. Vgl. Hoyer, Geschichte der K. von Anwendung des Pulvers bis zum Ende des 18. Jahrhunderts (Götting. 1797–1799, 2 Bde.); G. v. Berneck, Geschichte des Kriegswesens (3. Aufl., Berl. 1867); Meynert, Geschichte des Kriegswesens (Wien 1868, 3 Bde.); J. v. Hardegg, Anleitung zum Studium der Kriegsgeschichte (Berl. 1868–78, 3 Bde.); Jähns, Handbuch einer Geschichte des Kriegswesens von der Urzeit bis zur Renaissance (Leipz. 1880, mit Atlas); Derselbe, Heeresverfassungen und Völkerleben (Berl. 1885); v. d. Goltz, Das Volk in Waffen (3. Aufl., das. 1885); Köhler, Entwickelung des Kriegswesens und der Kriegführung in der Ritterzeit (Bresl. 1886 ff.).

Über das Kriegswesen in prähistorischer Zeit lassen sich aus den erhaltenen Verteidigungswerken, Heidenschanzen und einzelnen uns überkommenen Waffenstücken nur wenige Schlüsse ziehen. Ursprünglich waren Jagd- und Kriegswaffen dieselben, und vielfach dienten axt- und messerförmige Werkzeuge auch zugleich als Waffen. Man wird wohl annehmen dürfen, daß die Keule aus Holz und der geschleuderte Stein die ersten Waffen waren, denen sich später der Holzspeer, anfangs nur mit Holzspitze, und Bogen und Pfeil, letzterer anfangs ebenfalls nur mit Holzspitze, zugesellten. Mit der Erfindung der schneidenden Werkzeuge und der Vervollkommnung derselben ging auch die Vervollkommnung der Waffen Hand in Hand; die ursprünglich ganz aus Holz hergestellten Waffen wurden mit Stein- und Knochenschärfen armiert, bis schließlich die Erfindung der Metallbearbeitung auch diese unvollkommenen Stücke beseitigte. Jetzt findet man Pfeilspitzen aus Feuerstein noch in Gräbern der Merowingerzeit, eigentliche Steinwaffen, d. h. Steinäxte und Speere, waren aber zu jener Zeit in diesen Gegenden längst außer Gebrauch. Aus dem Kampf des Einzelnen gegen wilde Tiere und seinesgleichen bildete sich allmählich mit der sozialen Entwickelung der Familie, des Stammes und Volkes auch die Kampfesweise vom Einzelkampf bis zur Heeresschlacht heraus.