Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Kochkunst“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 9 (1887), Seite 907909
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Kochkunst. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 9, Seite 907–909. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Kochkunst (Version vom 02.04.2023)

[907] Kochkunst, die Kunst, alle Arten von Speisen und Getränken schmackhaft zu bereiten. Die zweckmäßige Zubereitung der Speisen erfordert in oft unterschätztem Grad eine Berücksichtigung des chemischen Verhaltens der Nahrungsmittel beim Kochen und eine Kenntnis der Bedeutung der einzelnen Nahrungsstoffe für den Ernährungsprozeß. Das ungleiche Verhalten des Fleisches beim Aufsetzen mit kaltem oder heißem Wasser, die Unbrauchbarkeit harten Wassers zum Kochen der Hülsenfrüchte sind naheliegende Beispiele. Die neuere Zeit hat daher auch vielfache Bestrebungen aufzuweisen, die Chemie für die K. nutzbar zu machen und zu diesem Zweck chemische Kenntnis in der Frauenwelt zu verbreiten. Dies erscheint um so notwendiger, als jetzt auch neue Präparate, wie Fleischextrakt, Gewürzextrakte etc., in die Küche eindringen, manche Chemikalien häufiger benutzt werden und mannigfache, sehr empfehlenswerte Maschinen und Apparate (z. B. der Dampfkochtopf) die alten einfachen Geräte mehr und mehr verdrängen. Der Wert der K. ist nicht zu unterschätzen, denn eine gute Küche befördert drei große Angelegenheiten: 1) die Volkswirtschaft durch Sparsamkeit bei der Zubereitung der Speisen, indem die wahre Kunst darin besteht, nicht aus dem Vollen zu schöpfen, sondern mit möglichst geringen Mitteln möglichst viel zu erreichen; 2) die öffentliche Gesundheit, weil schlechte Küche den Magen verdirbt, während eine gute Zubereitung die Speisen gesünder und nahrhafter macht, und 3) den ästhetischen Sinn, den gesellschaftlichen Verkehr und die Gastfreundschaft. Vgl. Küche.

Geschichtliches. Schon im Altertum finden wir die K. bis zu einem hohen Grad ausgebildet und zwar zuerst in den asiatischen Ländern, von wo aus sie sich über die Inseln Chios und Sizilien, über Griechenland und später über Italien verbreitete. Obwohl die Griechen im allgemeinen mehr einer einfachen Lebensweise huldigten, so riß doch auch bei ihnen, vorzüglich in Athen, mit dem überhandnehmenden Luxus zugleich der Aufwand bei den Tafelfreuden ein, und wie sehr zur Befriedigung derselben die K. selbst beitragen mußte, erhellt aus der ziemlich vollständigen Aufzählung der ausgewählten Gerichte und der mannigfachen Küchengeräte, die uns Athenäos in seinen „Deipnosophisten“ geliefert hat, sowie aus dem Umstand, daß man in Prosa und Poesie die Gegenstände einer feinen Tafel und die Regeln der K. abhandelte, wie dies von Archestratos von Gela (494 v. Chr.), dessen Werk von Quintus Ennius ins Lateinische übersetzt wurde, und andern geschah. Noch höher wurde der Luxus in dieser Beziehung in Rom getrieben. Noch während des zweiten Punischen Kriegs gab es Köche, die in den Städten auf dem Markt öffentlich ausstanden und sich dingen ließen. Besonders berühmt waren die sizilischen Köche. Viele Freigelassene verdankten der K. ihr Glück, und während früher der Kochsklave den niedrigsten Rang eingenommen hatte, rückte derselbe nach und nach in die erste Stelle vor. Seit der Bekanntschaft mit der asiatischen Üppigkeit nahm aber der Hang zu kostbaren und ausländischen Tafelgenüssen so überhand, daß der strenge Cato einst ausrief: „Die Stadt kann nicht bestehen, in welcher ein Fisch teurer bezahlt wird als ein Ochs“, und man für nötig hielt, Gesetze zur Beschränkung der Schmausereien zu erlassen, die indes ohne besondere Wirkung blieben. Die Verschwendung eines Lucullus und Hortensius, welche Mahlzeiten gaben, deren Kosten sich auf viele Tausende beliefen, ist sprichwörtlich geworden. In der Kaiserzeit, unter Augustus und Tiberius, gab es förmliche Schulen und Lehrer der K., an deren Spitze Apicius stand. Der Kaiser Vitellius soll einmal in einer einzigen großen Schüssel, welche über eine Million Sesterzien kostete, das Gehirn von Fasanen und Pfauen, die Zungen von Flamingos, die Milz und Leber der kostbarsten Seefische haben auftragen lassen.

Die Wiege unsrer modernen K. ist Italien. Dieses Land nahm im 16. Jahrh. auch in der K. unbestritten die erste Stelle unter den Ländern Europas ein; dieselbe wurde künstlerisch-wissenschaftlich betrieben. Katharina von Medici, die Mutter Karls IX., führte diese Kunst in Frankreich ein. Aber erst unter Ludwig XIV. gelangte sie auf den Gipfel der Vollkommenheit, und von dieser Zeit an blieb Frankreich dasjenige Land, welches in Sachen der K. als allein maßgebend anerkannt wurde. Die Regentschaft und die Regierungszeit Ludwigs XV. übten auf die Entwickelung dieser Kunst den günstigsten Einfluß aus, während unter Ludwig XVI., der in der Hauptsache mehr ein Vielesser als ein Feinschmecker war, Stillstand eintrat. Dagegen führte die Revolution einen ganz enormen Rückschlag herbei; erst unter dem ersten Kaiserreich war ein Wiederaufblühen zu bemerken, aber unter ganz wesentlich veränderten Verhältnissen. Es wurde teilweise mit den alten Traditionen der Überfeinerung gebrochen. Im Mittelalter waren die Leistungen der K. nicht sehr erhebliche: Das Hauptgewicht wurde nicht auf gute Zubereitung, sondern auf Masse und Nahrhaftigkeit gelegt. Außer den Erträgnissen der Jagd und des Fischfanges, Hülsenfrüchten, eingesalzenen Fischen, gepökeltem und geräuchertem Fleisch aß man in der Hauptsache Rindfleisch und Rindsbraten, und frisches Fleisch wurde überhaupt nur bei besondern Gelegenheiten auf den Tisch gebracht. Selbst für die Herren im Gefolge der Fürsten galt es als ein Leckerbissen. Wir lesen z. B. über die Seltenheit des Genusses von frischem Fleisch in England zu dieser Zeit, daß Anna Boleyn zum Frühstück ein Pfund Speck und eine Kanne Bier verzehrte und die Hofdamen der Königin Elisabeth zur gleichen Mahlzeit Pökelfleisch, Brot und Bier erhielten. Später trat allerdings eine Zeit der Überfeinerung ein; durch die Zubereitung, den starken Zusatz von Würzen aller Art, die Hinzufügung wohlschmeckender Saucen etc. gelangte man dahin, daß die Nebendinge zur Hauptsache wurden, so daß Goethe in einem Brief (1779) mit Recht tadeln konnte, daß die Köche bei den Speisen einen Hautgout von allerlei anbringen, darüber Fisch wie Fleisch und das Gesottene wie das Gebratene schmeckt. Aber auch davon ist man in der Neuzeit wieder zurückgekommen. Es gilt jetzt in der K. der Grundsatz: jedes Fleischgericht muß sein eignes, natürliches Aroma, jedes Gemüse seinen natürlichen Geschmack, seine eigne, natürliche Färbung haben.

An dieser Entwickelung der K. haben nicht nur die Köche und Köchinnen gearbeitet, sondern es haben auch an sich schon berühmte Männer auf diesem scheinbar so heterogenen Gebiet eine zweite Berühmtheit gewonnen, ganz abgesehen von denjenigen, deren Name lediglich als Feinschmecker und durch ihre hervorragenden Leistungen auf dem Gebiet der Küche auf die Nachwelt gelangt sind. In frühern Zeiten nahmen die großen Herren selbst ebenso wie auch Dichter und Philosophen thätigen Anteil an der Förderung dieser Kunst. Richelieu, Mazarin, der Connétable Montmorency erfanden neue Gerichte, die heute noch deren Namen führen, und der Philosoph Montaigne (1533–92) hielt es nicht unter seiner Würde, [908] ein Buch über die Wissenschaft des Essens („Science de la gueule“) zu schreiben. Papst Pius V. ließ durch seinen Leibkoch Bartolommeo Scuppi ein Kochbuch des Papstes publizieren (1570), und Ludwig XIII. legte ganz besondern Wert auf seinen Ruhm als Verfertiger feinerer Konfitüren. Unter Ludwig XIV. erfand der Sieger von Rocroi, Condé, die berühmte, nach ihm benannte Bohnensuppe, und der Minister Colbert fügte seinem Ruhm als Staatsmann den als Erfinder der vortrefflichen Sauce Colbert hinzu. Ebenso führte der Haushofmeister des Königs, Herr v. Béchamel, Marquis von Nointal, die weitgehendsten Verbesserungen in der Zubereitung der Speisen, namentlich der Fische, ein, erfand die heute noch als unübertroffen geltende sauce à la Béchamel und das vol-au-vent, um schließlich die Summe seiner Erfahrungen unter dem Pseudonym Le Bas in dem Buch „Sur l’art du cuisinier“ niederzulegen. Ein 1655 in Paris erschienenes Buch: „Le pâtissier Elzepries“, ist heute noch von praktischem Wert und wurde 1867 in einer Auktion mit 1050 Frank bezahlt. So hoch wurde damals der durch die Küche erworbene Ruhm gestellt, daß ein namhafter Mißerfolg den Leibkoch des Königs, Vatel, zum Selbstmord treiben konnte (1671). Auch in Deutschland erschienen zu dieser Zeit die ersten nennenswerten Werke über die K., z. B. 1643 in Hamburg der Jugendspiegel von Christ. Actatius Hagerius Francommont Missn. („Über die Art zu essen“) und 1655 das „New köstliche und nützliche Kochbuch der Fraw Anna Wecker“; endlich in Nürnberg 1702 „Der aus Parnasse ehemals entlaufenen vortrefflichen Köchin Gemerkzettel, woraus zu erlernen, wie man 1928 Speisen wohlschmeckend zubereiten solle“. Unter Ludwig XV. förderte namentlich der Sieur de la Varenne, Küchenmeister des Marquis d’Uxelles, die Weiterentwickelung dieser Kunst durch sein epochemachendes Werk „L’école des ragoûts“ (1730). Gleichzeitig erschien in Nürnberg (1734) „Die in ihrer Kunst vortrefflich geübte Köchin, oder auserlesenes und vollständig vermehrtes Nürnbergisches Kochbuch“. Selbst Friedrich d. Gr. wendete der Prüfung und Korrektur der täglichen Speisezettel eine ganz besondere Aufmerksamkeit zu, und sein Koch Noël, genannt der Saucenkünstler, war eine einflußreiche Person. Montier, der Leibkoch Ludwigs XV., hatte, um sich in seiner Kunst zu vervollkommnen, Medizin und Chemie studiert. Der Prinz von Soubise hat durch die Hammelkoteletten mehr Ruhm erworben als durch seine Feldherrnthaten; wer Truthahn à la Régence oder pains à la d’Orléans ißt, denkt milder über den Regenten, ebenso über die Frau, wer filets à la Pompadour genießt. Zur Regierungszeit Ludwigs XVI. glänzen als Sterne erster Größe am Firmament der Küche die Marschälle von Richelieu und Duras, der Herzog von Lavallière, der Marquis von Brancas und Graf Tessé. Kaum waren die Schrecken der Revolution vorüber, so begann in Frankreich die eigentliche Blütezeit der K.; sie wurde sogar eine politische Macht. Der Anfang des Jahrhunderts brachte zunächst einen Dichterkoch, Barchoux, welcher ein didaktisches Gedicht: „La gastronomie“, in der Hauptsache eine Übersetzung der Hauptstücke des Werkes von Quintus Ennius (s. oben), herausgab. Es entstanden damals zwei sich scharf bekämpfende Richtungen, die romantische und die klassische Schule. Als Vertreter der erstern gilt Beauvillers’ „L’art de la cuisine“ (grundlegendes Werk), der letztern M. A. Carême (s. d.), der, wie auch Montmireil, als der historische Koch des Wiener Kongresses zu nennen ist. Der Herzog-Kanzler Cambacérès, von der Ansicht ausgehend, daß man zum großen Teil durch die Tafel regiere, und daß also ein Staatsmann, der keinen guten Tisch führe, überhaupt keine diplomatischen Erfolge erringen könne, beherrschte mit seinem Küchenchef Benaud einen Teil Europas. Auf gleichen Bahnen wandelte Talleyrand mit seiner berühmten Küchenbrigade (Véry etc.). Über den Parteien aber thronte als allseitig anerkannte Autorität Alexander Balthasar Laurent (s. Grimod de la Reynière). Diese gute Zeit hielt auch nach der Restauration an, denn Ludwig XVIII. war zugleich Feinschmecker und Vielesser (vgl. Vard, Le cuisinier royal, 1815). In Deutschland war man in dieser Zeit auch in Bezug auf die Küche ganz unter französischer Herrschaft, obgleich Kant zu den Gourmands gehörte und sich eingehend über das Essen und dessen Zubereitung zu unterhalten pflegte. Erst Königs „Geist der K.“ (neue Ausg. von Rumor, 1822; 2. Aufl., Stuttg. 1832) brachte den deutschen Namen auf diesem Gebiet wieder zu Ehren. Freilich wurde dieser bald wieder verdunkelt durch Brillat-Savarins weltberühmtes, bisher unerreichtes Buch „La physiologie du goût“ (1825; deutsch von K. Vogt, 4. Aufl., Braunschw. 1878). Hiermit gelangte die Entwickelung der K. zu einem vorläufigen Abschluß. Die spätern Werke, unter denen die „Gastrosophie“ des Barons Vaerst (Leipz. 1851) und „Das Menü“ von E. v. Malortie (2. Aufl., Hannov. 1883) besonders hervorzuheben sind, bauen sich in der Hauptsache auf den Resultaten der klassischen Periode auf. Ganz originell ist das „Grand dictionnaire de cuisine“ von Alex. Dumas dem ältern (Par. 1873). – Von Kochbüchern im eigentlichen Sinn des Wortes sind zu erwähnen: die von Henriette Davidis, Wilhelmine v. Sydow, Graf Münster („Gute Küche“, nach Lady St. Clairs „Dainty dishes“; 3. Aufl., Berl. 1877), Scheibler, Buckmaster („Cookery lectures“); das „Universallexikon der K.“ (3. Aufl., Leipz. 1887, 2 Bde.). Vgl. auch Kudriaffsky, Die historische Küche (Wien 1878); Eckardt, Wörterbuch der Küche und Tafel (das. 1886). Ein Verzeichnis der neuern Litteratur gibt Malorties „Menü“, Bd. 1, S. 273 ff.

[Kochkunst in prähistorischer Zeit.] Zahlreiche Funde von Kohlenstücken in den ältesten menschlichen Niederlassungen, in den Höhlen Deutschlands, Frankreichs und Englands, im Löß des Rheinthals u. a. O. neben den Gebeinen der Hyänen und des Mammuts weisen darauf hin, daß der Mensch in ältester Vorzeit bereits angefangen habe, Feuer zu erzeugen und für seine Zwecke zu verwenden, zu einer Zeit schon, wo er noch nicht einmal verstand, ein Thongeschirr anzufertigen, eine Kunst, welche sich bis in die Renntierzeit hinein verfolgen läßt. Es ist demnach sicher anzunehmen, daß man damals trotz des Fehlens irdener Geschirre auch schon Methoden des Kochens gehabt. Über letztere geben die noch jetzt bei vielen auf primitiver Kulturstufe stehenden Völkerschaften gebräuchlichen Arten des Kochens Aufschluß. Man kann nämlich zwei Methoden unterscheiden, einmal das Kochen über hellem Feuer, sodann das Kochen durch glühend heiße Steine, die sogen. Steinkocherei. Dazu kommt, daß man kleineres Wildbret und Fische, auf einen Stock gespießt, direkt über dem Feuer braten kann. Einige Indianerstämme Brasiliens braten in dieser Weise kleinere Affen, Stücke von Schlangen und die ungarischen Fischer manchmal auch Fische. Aber auch größere Tiere kann man über hellem Feuer in ihrer eignen Haut gar machen, wie Herodot z. B. von den Skythen erzählte, daß sie die [909] Knochen der Tiere als Brennmaterial benutzten und die Tiere in ihrer eignen Haut mit Wasser kochten. Statt der Haut des Tiers wird von manchen Völkern Baumrinde als Umhüllung oder Kochbehälter angewendet. Bei der Steinkocherei werden bis zum Glühen erhitzte Steine in die zu kochende Substanz oder in das zum Kochen zu benutzende Wasser gethan (so beschreibt Musters die Zubereitung eines frisch erlegten Straußes bei den Patagoniern durch erhitzte Steine); doch läßt sie sich natürlich auch in Gefäßen von Holz, Baumrinde und Fruchtschalen (Kürbissen) anwenden, wie dies bei nordamerikanischen und nordasiatischen Stämmen der Fall ist. Man kann die glühenden Steine aber auch in einfache mit Thon ausgeschmierte Gruben legen, wie dies in Südaustralien vorkommen soll. An letzteres erinnern uns auch die Befunde in unsern Gegenden. Nicht selten findet man in und neben den Gräberfeldern, z. B. bei Giebichenstein bei Halle, bei Schmöckwitz und bei Selchow in der Nähe Berlins, mit Steinen ausgesetzte Gruben, welche mit Kohlen und Asche gefüllt sind, und in denen sich Tierknochen, allerdings aber auch Scherben von Thongefäßen befinden. Obwohl man verstand, Thongefäße anzufertigen, behielt man doch die Sitte, in Gruben zu kochen, bei; denn wahrscheinlich waren doch diese Gruben nicht außerhalb, sondern innerhalb der Wohnung belegen und die Anlage der Grube nicht durch die Rücksicht auf Wind und Zugluft geboten, wie dies sonst beim Kochen im Freien der Fall ist.