Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Kiew“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 9 (1887), Seite 725727
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Kiew. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 9, Seite 725–727. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Kiew (Version vom 25.02.2022)

[725] Kiew (besser Kijew, poln. Kijow), russ. Gouvernement, begreift den größten Teil der ehemaligen polnischen Ukraine und die Stadt K. mit ihrem Kreisgebiet in sich, grenzt im N. an das Gouvernement Minsk, im O. an Poltawa und Tschernigow, von denen es durch den Dnjepr geschieden wird, im S. an Podolien und Cherson und im W. an Wolhynien und Podolien und umfaßt 50,998,1 qkm (926 QM.). Das Land ist im allgemeinen flach; doch findet man malerische Punkte längs des Dnjepr, dessen Ufer an einigen Stellen gegen 50 m Höhe haben. Im Kreis von Tschigrin trennt sich eine kleine Reihe Hügel vom Fluß und bildet, nordwestlich bis nach Podolien sich erstreckend, leichte Wellungen, während der südlichste Teil eine große Steppe ist. In geognostischer Hinsicht gehört der östliche Teil des Gebiets dem alttertiären (Eocän-) System an, während im westlichen plutonische Formationen zu Tage treten. In den Tertiärformationen finden sich schöne Lager von Lehm, Thon, Sandstein, Schleifstein, Eisen, Lignit und Torf. Der Boden besteht im südlichen Teil aus Schwarzerde, einer fast meterhohen Humusschicht, welche nach N. immer dünner wird und mit Lehm und Sand gemischt auftritt, bis sie im nördlichen Teil in reinen Sand und Lehm übergeht. Der bedeutendste Fluß ist der Dnjepr, der zwar nur die Grenzen berührt, zu dessen System aber die Flüsse, welche das Land bewässern, gehören. Berühmt sind die Kajetanowschen Quellen. Das Klima ist sehr trocken, namentlich in den waldlosen Strichen. Die mittlere Jahrestemperatur beträgt +6,5° C., die des Sommers +12,5°, die des Winters −10° C. Die Bevölkerung beträgt (1883) 2,492,112 Einw. (49 pro QKilometer), wovon die überwiegende Mehrzahl Kleinrussen, gegen 11 Proz. Juden und ein geringer Prozentsatz Polen und Litauer sind. Dem Religionsbekenntnis nach gehören die Einwohner meist der griechisch-katholischen Kirche an, und nur ein kleiner Teil ist römisch-katholisch, jüdisch, protestantisch und Sektierer. Vom Areal kommen auf Ackerland 57 Proz., auf Wiesen 16, auf Wälder 20 und auf Unland 7 Proz. Die Jagd ist bei dem Reichtum an Wild nicht unbedeutend, weniger bedeutend die Fischerei. Das Pflanzenreich liefert in Fülle Roggen und Hafer, dann Weizen, Gerste, Runkelrüben, Hirse, türkischen und Buchweizen, Kartoffeln, Gemüse, Obst, Hanf und Lein. Die Ernte betrug 1884 pro Hektar der betreffenden Ackerfläche bei Roggen 13,8 hl, bei Winterweizen 14,7, bei Sommerweizen 9,6, bei Hafer 17,9, bei Kartoffeln 79,5 hl. In K. selbst gedeihen welsche Nüsse, Birnen, Kastanien, Wassermelonen, Melonen, Tabak und Kardendisteln sehr gut; in vielen Gärten findet man Maulbeerbäume in großer Üppigkeit. Der Viehstand belief sich 1883 auf 454,000 Stück Hornvieh, 866,000 Schafe, 373,000 Schweine und 283,000 Pferde (1861: 117,000, 1851: 112,000, woraus auf einen bedeutenden Aufschwung der Pferdezucht zu schließen ist). Jährlich finden 13 Pferdemärkte mit sehr bedeutendem Umsatz statt; die ansehnlichsten sind die von Berditschew und von Bjelaga Zerkowj. Die Viehzucht wird durch die fetten Weiden sehr begünstigt, und die in K. gezogenen ukrainischen Ochsen gehen in Masse nach dem Innern des Reichs bis nach Petersburg. Die Industrie ist in raschem Steigen begriffen. Während 1843 der Produktionswert aller Fabrikate sich auf 2½ Mill. Rubel belief, betrug derselbe 1859: 14¼ Mill. und 1883: 75 Mill. Rub. Die Zahl sämtlicher industriellen Etablissements war 1882: 594 mit 39,403 Arbeitern. Die erste Stelle nimmt die Runkelrübenzuckerfabrikation ein, welche in großartigem Maßstab betrieben wird, in der Kampagne 1883–84 in 68 Fabriken mit 22,868 Arbeitern für 47 Mill. Rub. In zweiter Linie steht die Branntweinbrennerei (14,8 Mill. Rub.); dann folgen Tabaksindustrie (2,8 Mill. Rub.), Getreidemüllerei (2,3 Mill. Rub.), Maschinenindustrie (1,9 Mill. Rub.), Gerbereien (1,5 Mill. Rub.). In geringerm Maß werden produziert: Seife, Talg, Wachs, Metallwaren, Watte, Papier, Öl, Fayence und Ziegelsteine. Die ukrainischen Bauern fertigen fast alle ihr Hausgerät sowie Boote, Wagen, Schlitten etc. selbst und haben in Holzschnitzereien eine bewundernswerte Fertigkeit. Der Handel befindet sich gänzlich in den Händen der sehr zahlreichen jüdischen Bevölkerung. Die wichtigsten Ausfuhrartikel sind Korn und Zucker. In den Städten werden jährlich Messen gehalten. Die Zahl aller Lehranstalten ist 1299, die aller Schüler 54,176; darunter eine Universität, 28 mittlere Lehranstalten mit 8134 Schülern, 1262 Elementarschulen mit 42,457 Schülern und 8 Fachschulen mit 1876 Lernenden. Die Exarchie von K. und Galitsch datiert von den Zeiten des heil. Wladimir her und war die erste Rußlands; die Diözese begreift 1421 Kirchen (1359 griechisch-katholische, 51 römisch-katholische, 9 der Sektierer und 2 lutherische), worunter 12 Kathedralen und 30 Klöster. Daneben gibt es 68 Synagogen und 268 jüdische Bethäuser. Das Gouvernement zerfällt in zwölf Kreise: Berditschew, Kanew, K., Lipowetz, Radomysl, Skwira, Swenigorodka, Taraschtscha, Tscherkassy, Tschigirin, Uman und Wassilkow. – Das gegenwärtige Gouvernement K. ist nicht mit dem von Peter d. Gr. 1708 gebildeten zu verwechseln. Letzteres bestand aus der ganzen östlichen Ukraine und einem großen Teil von Mittelrußland mit den Städten Orel, Kursk u. a. (im ganzen 55). 1782 wurde die Statthalterschaft [726] K. aus Teilen des jetzigen Kiewschen, Poltawaschen und Tschernigowschen Gouvernements gegründet; 1796 erhielt sie die jetzige Form.

Die gleichnamige Hauptstadt ist die alte Residenz der Großfürsten, eine der ältesten Städte Rußlands und die Wiege des Christentums daselbst. Sie liegt 200 m ü. M. am rechten Ufer des Dnjepr, über den eine großartige Kettenbrücke führt, und an den Eisenbahnen K.-Kursk und K.-Schmerinka (mit Anschluß nach Galizien und Odessa), auf 100–130 m sich erhebenden Anhöhen erbaut, und besteht eigentlich aus drei Teilen, die untereinander verbunden sind und den gemeinschaftlichen Namen K. führen. Der erste Teil, Podol genannt, liegt unmittelbar am Dnjepr auf einer Art Vorland, welches sich hier zwischen dem Wasser und dem steilen Ufer erstreckt. Hier hat sich der Handel konzentriert; zugleich bildet dieser Stadtteil den Übergang zu den zwölf Vorstädten. Über Podol auf der Höhe liegen Altkiew und Petschersk, welche durch den Kreschtschatik, die eleganteste Straße, miteinander verbunden sind. Petschersk ist der Stadtteil des Militärs und der Geistlichkeit, Altkiew der der administrativen Behörden und Beamten. Die bergige Lage und die gewaltigen goldenen Kuppeln der vielen Kirchen geben K. ein ungemein malerisches Ansehen. Im südlichen Teil von Petschersk liegt das berühmte Kloster gleichen Namens, das älteste Rußlands, welches schon sehr frühzeitig zum Schutz seiner Heiligtümer von Festungswerken umgeben war, und tief unter demselben das unterirdische sogen. Höhlenkloster, wo in weitverzweigten Gängen die zahlreichen Heiligen, jeder in einer besondern Nische, ruhen. Die Zahl der Pilger, welche jährlich dieses Kloster besuchen, läßt sich annähernd beurteilen, wenn man erwägt, daß im Logierhaus des Klosters 1882: 107,669 Pilger einkehrten. Das goldgedeckte Michaelskloster (1008 gegründet) liegt auf einem Berg und enthält ein 1825 vom Kaiser Nikolaus geschenktes, reich mit Brillanten verziertes Bild des Erzengels Michael, des Schutzpatrons der Stadt, und das silberne Grabmal der heil. Barbara. K. hat 67 Kirchen (60 griechisch-katholische, 5 römisch-katholische, eine lutherische und eine der Raskolniken), 7 Klöster und 4 jüdische Bethäuser. Die 1037 gegründete Kathedrale der heil. Sophia steht auf demselben Platz, wo Jaroslaw 1036 mit seinem Gefolge von Warägern und Nowgorodern über die Petschenegen siegte. Der mit reichem Mosaikschmuck bedeckte Altar ist sowohl durch die Reinheit der Ausarbeitung als durch seine Größe berühmt und nimmt drei ganze Stockwerke ein. Das Innere der Kirche stellt eine Art von Labyrinth dar, das aus Galerien, Scheidemauern, Säulen und Gewölben besteht; in den Zwischenräumen befinden sich die Gräber der Großfürsten sowie das Marmorgrab von Jaroslaw Wladimirowitsch. Die Kathedrale zur Himmelfahrt Mariä ward auf Kosten des Warägers Simon von vier Baumeistern aus Konstantinopel erbaut, welche in dem Fundament die von dort mitgebrachten Gebeine von sieben Heiligen niederlegten. Der prächtige Glockenturm mit zehn Glocken besteht aus vier Stockwerken. Noch sind bemerkenswert die 969 vom Großfürsten Wladimir I. erbaute, später von den Tataren zerstörte und wieder renovierte Zehntkirche zu Mariä Geburt und die Kirche des heil. Andreas des Erstberufenen, auf dem höchsten Punkt von Altkiew 1744 in Anwesenheit der Kaiserin Elisabeth gegründet. Hervorragende Profanbauten sind: 2 Theater, ein Opernhaus, ein Arsenal mit Gewehrfabrik.

Die Zahl der Einwohner betrug 1884: 127,251, wovon 77,48 Proz. Rechtgläubige, 10,85 Proz. Juden, 8,18 Proz. Katholiken, 2,15 Proz. Protestanten waren. Während des Jahrs 1882 hat sich die inzwischen sehr gestiegene jüdische Bevölkerung durch die Ausweisung von 13,728 Personen auf 11,200 vermindert. Von der Gesamtbevölkerung gehören 56,47 Proz. dem männlichen, 43,53 Proz. dem weiblichen Geschlecht an. Auf industriellem Gebiet ragen Lohgerbereien und Talglichtefabriken hervor; auch hat K. eine Anstalt zur Bereitung künstlicher Mineralwässer. Der Handel ist beträchtlich. K. hat eine Börse und Bankinstitute, unter welchen eine Agrarbank (auf Aktien), die mit einem Grundkapital von 2,570,850 Rubel 1883 für 26,090,000 Rub. Pfandbriefe emittiert hat. Berühmt ist der Kreschtschensche Jahrmarkt, der vom 15. Jan. bis 1. Febr. abgehalten wird. K. hat ein Krankenhaus, ein Findelhaus, verschiedene Wohlthätigkeitsanstalten. Die 1833 aus Wilna hierher übergeführte Wladimir-Universität ist sehr reich ausgestattet, hat wertvolle Sammlungen, ein schönes physikalisches Kabinett, ein Anatomikum und einen bedeutenden meteorologischen Apparat nebst botanischem Garten. Das zoologische Kabinett enthält namentlich eine schöne Sammlung von Steppensäugetieren. Sie hat eine historisch-philologische, eine juristische, eine mathematische und eine medizinische Fakultät und zählte 1883: 1700 Studierende. Zwölf Buchhandlungen unterstützen die Bildungsbestrebungen. K. hat außer der Universität 56 Lehranstalten mit 10,761 Schülern, nämlich 34 Elementarschulen mit 2521 Schülern, 16 mittlere Schulen mit 6556 Schülern und 6 Spezialschulen mit 1674 Lernenden. Unter den letztern befinden sich eine Infanteriejunkerschule, 2 Priesterseminare, 2 Feldscherschulen, eine Handwerkerschule. Unter den mittlern Lehranstalten sind 4 Gymnasien, ein Progymnasium, ein Militärgymnasium, eine Realschule und 2 Pfarrschulen für die männliche, 5 Gymnasien (darunter 2 private), ein Fräuleininstitut und eine Pfarrschule für die weibliche Jugend. K. ist Sitz eines Metropoliten, eines Generalgouverneurs und des Kommandos des 12. Armeekorps sowie eines deutschen Berufskonsuls.

K., der Sage nach schon vor Christi Geburt von Griechen und Skythen, nach andern 430 n. Chr. von Slawen gegründet, war in der vorchristlichen Zeit Hauptsitz des altslawischen Götzendienstes. 862 gründeten die warägo-russischen Fürsten Askold und Dir das Fürstentum K. Schon um das J. 882 war K. die Hauptstadt des russischen Reichs. Von 988 an, als Wladimir der Heilige hier die heidnischen Götzen beseitigte und das Christentum einführte, wurde K. für lange Zeit auch die geistliche Metropole Rußlands. Wie rasch K. danach aufgeblüht sein muß, kann man daraus schließen, daß alte Urkunden besagen, bei einer großen Feuersbrunst 1124 seien allein 600 Kirchen abgebrannt. 1169 ward K. von dem Großfürsten Andrej Bogoljubskij erobert und hörte seitdem auf, Hauptstadt des russischen Reichs zu sein. 1240 wurde es von den Tataren verwüstet, 1320 von den Litauern unter dem Großfürsten Gedimin erobert. Es blieb nun unter litauischer Herrschaft bis 1569, wo es an das Königreich Polen fiel, unter dessen Herrschaft es bis 1654 blieb, in welchem Jahr es die Russen wieder in Besitz nahmen, denen es 1686 förmlich abgetreten ward. Die wichtige Festung K. liegt 7 km südlich von der Mündung der Desna, auf dem rechten, über 100 m hohen Ufer des Dnjepr, von wo aus sie das linke sandige und sumpfige Ufer vollkommen beherrscht. Die Befestigungen, [727] welche schon Peter d. Gr. 1706 zu bauen anfing, bestehen aus einer Citadelle mit mehreren Lünetten und einer etwas über 6 km langen Linie besonderer Befestigungen, bombenfesten Kasernen und ebensolchem Hospital, die mit dem andern Ufer durch eine eiserne und eine Kettenbrücke verbunden sind. Nach N. erstrecken sich große Wälder und Sümpfe, die für ein größeres Armeekorps unpassierbar sind, so daß K. ein wichtiger strategischer Punkt ist. Außerdem dient es als Hauptstapelplatz für Kriegsmaterial, Vorräte, Zeughäuser etc. In K. rastete Katharina II. mehrere Wochen auf ihrer berühmten Reise in die Krim 1787.