MKL1888:Jugendschriften

Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Jugendschriften“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 9 (1887), Seite 303304
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Jugendschriften. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 9, Seite 303–304. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Jugendschriften (Version vom 30.05.2021)

[303] Jugendschriften, Schriften, welche bestimmt sind, der Jugend zur anregenden Unterhaltung außerhalb des eigentlichen Unterrichts zu dienen. Da selbstverständlich auch die freie Lektüre der Jugend dem allgemeinen Gesichtspunkt der Erziehung untergeordnet sein muß, berührt sich die Jugendlitteratur nach der einen Seite hin mit derjenigen der Schul- und Lehrbücher. Das unterscheidende Merkmal liegt in der Bestimmung der J. für die Unterhaltung der Jugend in ihren Freistunden. Den Übergang zwischen beiden Arten bildet das Lesebuch (s. d.), das, zunächst Schulzwecken dienend, doch, richtig eingerichtet und verständig behandelt, den Schülern lieb werden und auch außer den Schulstunden manche Stunde verkürzen wird. Anderseits ist die Jugend ein Teil der Nation und soll für das nationale wie für das kirchliche Leben erzogen werden. Eine besondere Jugendlitteratur hat daher nur so weit Berechtigung, wie die Nationallitteratur nicht schon selbst das für die junge Welt Geeignete darbietet. Mit der allgemeinen Nationallitteratur berührt sich daher diejenige der J. in dem Kreis der volkstümlichen Litteratur und namentlich der volkstümlichen Dichtung. Immerhin behandelt aber auch dieser seit Herder in seinem hohen Wert erkannte Teil des Schrifttums vielfach Lebensverhältnisse und Lebensfragen, die dem Verständnis des unmündigen Alters fern liegen oder demselben ohne Gefahr für dessen sittliche Erziehung noch nicht vorgeführt werden können. Hieraus geht hervor, daß J. für die erwachsene Jugend, das Jünglings- und Jungfrauenalter, im allgemeinen keine Berechtigung mehr haben; denn diesem Alter geziemt schon die, wenn auch nur nach und nach sich ausbreitende, Teilnahme an der Nationallitteratur. Wohl aber ist innerhalb der Jugendlitteratur eine gewisse Abstufung nach dem Alter und namentlich der Unterschied zwischen eigentlichen Kinderschriften (etwa bis zum 10. oder 11. Lebensjahr) und Schriften für die reifere Jugend berechtigt, weil durch die natürliche Stufenfolge der kindlichen Entwickelung bedingt, wenn auch dieser Unterschied stets ein fließender bleiben wird. In der folgenden Übersicht der Geschichte und des gegenwärtigen Zustandes der Jugendlitteratur sind jedoch beide Arten zusammengefaßt.

Wenn auch der Begriff eines besondern Schrifttums für die Jugend vor Erfindung des Buchdrucks nicht wohl aufkommen konnte, so ist doch schon dem Altertum der Gedanke einer Aussonderung desjenigen aus der Dichtung und aus der Göttersage, was für die Knabenjahre geeignet sei, nicht fremd gewesen. Namentlich findet sich derselbe bei Platon im zweiten Buch „vom Staat“ (Kap. 17, S. 377 ff.) ausführlich erörtert, wo der Philosoph mit demselben die nicht ganz abzuweisende, aber ebensowenig ohne großen Vorbehalt zuzulassende Hoffnung verbindet, daß bei angemessener Auswahl und Gestaltung des unterhaltenden Stoffes die Kinder spielend das Nötige lernen würden. Daß gewisse Zweige der Dichtung, wie z. B. die Äsopischen Fabeln, als vorzugsweises Eigentum der Jugend angesehen wurden, bezeugen vielfache Andeutungen der alten Schriftsteller und Dichter. Auch im Mittelalter gab es neben rein religiösen Katechismen Beispielsammlungen für die Jugend, die doch aber mehr auf gelegentlichen Gebrauch der Eltern, Lehrer und Paten als zur eignen Lektüre der Kinder berechnet waren. Diesen Standpunkt nimmt unter andern auch Luther ein, der sich der wundersamen Historien und Märchen seiner Kinderjahre um kein Gold entschlagen wollte und für Fabel und Weltgeschichte im Interesse der Jugend thätigen Eifer bewies, auch selbst den rechten Ton für die Kinderwelt, wo es ihm darauf ankam, meisterhaft traf. Gegen Ende des Reformationsjahrhunderts ist der „Froschmeuseler“ des Magdeburger Schulrektors G. Rollenhagen (1595) ausdrücklich der zu Weisheit und Regimenten (Staatsämtern) erzogenen Jugend zur anmutigen, aber sehr nützlichen Lehre gewidmet, allein doch wohl mehr für herangewachsene Schüler oder Studenten gemeint. Die pädagogischen Realisten des 17. Jahrh. streifen den Begriff der J. öfters, so Comenius mit seinem berühmten „Orbis pictus“ (1657); aber bei ihnen hat sich die Scheidung desselben von dem der Schulbücher noch nicht vollzogen. Aus dem Ende des Jahrhunderts ist der Zittauer Rektor Chr. Weise (1642–1708) wegen seiner Schulkomödien wie wegen seiner „Überflüssigen, reifen und notwendigen Gedanken der grünenden Jugend“ zu nennen. Den eigentlichen Anfang der modernen Jugendlitteratur bezeichnen aber zwei ausländische Werke: Fénelons „Télémaque“ (1690, erschien 1717) und Daniel Defoes „Robinson Crusoe“ (1719), die in ihrer Heimat überaus anregend wirkten und sich bald über die ganze gebildete Welt verbreiteten. Anerkanntes Vorbild für J. wurde Defoes „Robinson“ namentlich durch Rousseaus Empfehlung (im „Émile“, 3. Buch). Aus diesen Anfängen entwickelte, wie in England und Frankreich, so auch in Deutschland das „pädagogische Jahrhundert“ eine reiche Litteratur für die Jugend. Schon 1761 begründete Adelung in Leipzig ein Wochenblatt für Kinder. Aber in rechten Fluß kam die Bewegung erst in dem um Basedow sich sammelnden Kreis der Philanthropen. Von dessen unmittelbaren Mitarbeitern widmeten sich vorzugsweise J. H. Campe (1746–1818) und Ch. G. Salzmann (1744–1811) der Jugendschriftstellerei. Des erstern J. füllen eine Sammlung von 37 Bänden, die vom 17. Band an Reisebeschreibungen, in Bd. 36 und 37 die Lehrschriften: „Väterlicher Rat für meine Tochter“ und „Theophron, der erfahrene Ratgeber der Jugend“ enthalten. Unter allen Campeschen J. haben sich wohl nur „Robinson der Jüngere“ (109. Aufl., Braunschw. 1884) und „Geschichte der Entdeckung Amerikas“ (26. Aufl. 1881) bis heute in den Händen der Jugend erhalten. Auch Salzmanns „Unterhaltungen für Kinder und Kinderfreunde“ (Leipz. 1811, 4 Bde.) wie des gleichzeitigen und gleichgesinnten Ch. F. Weiße (1726–1804) „Kinderfreund“ (Zeitschrift, das. 1773–84, 12 Bde.) und „Briefwechsel der Familie des Kinderfreundes“ (Zeitschrift, das. 1784–95) haben ihre Zeit längst gehabt. Vor 100 Jahren galten sie jedoch als hochbedeutende Erscheinungen und riefen eine Hochflut von mehr oder minder gelungenen Nachahmungen [304] hervor. Während der Grundton dieser Schriften der sittlich ehrenwerte, aber nüchterne und oft kleinlich lehrhafte des damaligen Rationalismus ist, versuchte Herder (1744–1803) in seinen „Palmblättern“ (mit Liebeskind, 1787–1800) der Jugendlitteratur ein edleres, mehr auf Phantasie und Gemüt wirkendes Gepräge zu geben. Noch stärker betonte die christliche Grundansicht in seinen J. der Erfurter Geistliche K. Fr. Lossius (1735–1817), dessen „Gumal und Lina“, die Geschichte einer Art Missionsstation unter den Heiden enthaltend, sich noch bis heute hier und da behauptet hat. Aus der folgenden Generation sind der protestantische Österreicher J. Glatz (1767–1831), die Preußen J. A. Ch. Löhr (1764–1823), F. Ph. Wilmsen (1770–1821) und der berühmte Thüringer Philolog Fr. Jacobs (1764–1847) hervorzuheben.

In eine neue, vorwiegend auf das religiöse Leben gerichtete Bahn lenkte die Jugendschriftstellerei Christoph v. Schmid (1768–1854), zuletzt Domherr in Augsburg, der liebens- und ehrwürdige Verfasser der „Ostereier“ und noch etwa 60 andrer Erzählungen, dem auf protestantischer Seite die Theologen F. A. Krummacher (1768–1845), K. Stöber (gest. 1865), Chr. G. Barth (1799–1862) und der theosophische Naturforscher G. H. v. Schubert (1780 bis 1860) folgten. Bis an die Gegenwart und teilweise in dieselbe reichen dann deren Epigonen G. Nieritz (1795–1876), Franz Hoffmann (1814–82), beide mehr durch Fruchtbarkeit und liebenswürdige Breite als durch Kraft und Frische ausgezeichnet, Fr. Wiedemann (1821–82) und R. Baron (geb. 1809). Auch schriftstellernde Frauen, denen auf diesem Gebiet am wenigsten ihr Recht streitig gemacht werden kann, haben sich mit günstigem Erfolg an der litterarischen Versorgung der Jugend beteiligt, wie die Württembergerin Ottilie Wildermuth (1817–77) und Thekla v. Gumpert (Frau v. Schober, geb. 1810), die letztere Herausgeberin des verbreiteten „Töchteralbums“ (Glogau, seit 1855). In der unmittelbaren Gegenwart ergießt sich der Strom der in der Art dieser Vorgänger und Vorgängerinnen erdichteten Erzählungen für die Jugend immer breiter, Gutes und Schlechtes mit sich führend. Auch kann manches aus der volkstümlichen Erzählungslitteratur, wie die meisten Schriften von W. O. v. Horn (Örtel, 1798–1865), ebensogut zur Jugendlitteratur gerechnet werden. Horn unterscheidet sich anderseits dadurch von den meisten der früher genannten Schriftsteller, daß er mit Vorliebe geschichtliche Heldengestalten oder wichtige historische Thatsachen in gemeinfaßlicher Weise darstellt. Er bildet darin den Übergang zu einer andern Gruppe von Jugendschriftstellern, die es vorzogen, der jungen Welt statt der eignen Dichtungen altbewährte Stoffe aus Sage und Geschichte vorzusetzen. Mit „Erzählungen aus der alten Welt“ (1801–1803; 17. Aufl. von Masius, Halle 1881) ging der bekannte Geschichtschreiber K. Fr. Becker (1777–1806) voran; G. Schwab (1792–1850) folgte mit den „Schönsten Sagen des klassischen Altertums“ (Stuttg. 1840, 3 Bde.; 14. Aufl. 1882). Durch die Brüder Grimm, deren eigne berühmte Märchensammlung mehr für die Mütter als für die Kinder bestimmt ist, wurde die Aufmerksamkeit auch auf den deutschen Sagenschatz gelenkt und dieser durch Simrock (1802–76), Osterwald (1820–87), Ferdinand Schmidt (geb. 1816) u. a. für die deutsche Jugend flüssig gemacht. Besondere Anerkennung verdient es, daß neuerdings mit Vorliebe die Heldengestalten der vaterländischen Geschichte dem jungen Volk durch gute, auf wissenschaftlicher Grundlage ruhende Darstellungen, wie z. B. die „Geschichtsbilder“ von E. Ramdohr u. a., nahegebracht werden. Gewichtigen Bedenken unterliegt es, wenn entweder die Geschichte nach Scheffelscher und Freytagscher Art der Jugend in novellistischer Form nahegebracht wird, oder größere historische Romane von anerkanntem Wert, wie Grimmelshausens „Simplicius Simplicissimus“, Bulwers „Letzte Tage von Pompeji“ oder Manzonis „Verlobte“, für junge Leser zugeschnitten werden. Doch ist nicht zu verkennen, daß auch auf diese Weise manches treffliche Buch für jugendliche Leser entstanden ist, wie z. B. unter den Arbeiten von O. Höcker und F. Schmidt sich deren finden. Nimmt man zu dem allen, daß die Ausstattung der J., namentlich mit bildlichem Schmuck, sich im letzten Jahrzehnt wesentlich gehoben hat, und daß neben Sage und Geschichte auch Geographie (Reisebeschreibungen), Naturkunde (wie namentlich Grubes „Naturbilder“) etc. nicht vernachlässigt werden, und beachtet man, daß neben der Litteratur der J. auch ein sehr erfreulicher Reichtum an les- und lernbaren wie namentlich an sangbaren Kinderliedern (s. d.) in der deutschen Litteratur des Jahrhunderts sich angesammelt hat, so muß man anerkennen, daß die deutsche Jugendlitteratur im ganzen ihrer Aufgabe erfreulich gerecht wird. Freilich steckt in der unabsehbaren Masse viel Spreu neben dem Weizen, und es verdient dem gegenüber Lob, daß neuerdings auch die Kritik der Jugendlitteratur erwacht ist und namentlich der deutsche Lehrerstand sich bemüht hat, die Eltern in der Auswahl des wahrhaft Guten für ihre Kinder zu beraten. Aus der gleichfalls bereits zu ansehnlichem Umfang angewachsenen Litteratur über die J. vgl. Merget, Geschichte der deutschen Jugendlitteratur (3. Aufl. von Berthold, Berl. 1882); Theden, Führer durch die Jugendlitteratur (Hamb. 1883); Fricke, Grundriß der Geschichte deutscher Jugendlitteratur (Mind. 1886); Lübens regelmäßige Berichte über Jugend- und Volksschriften (im „Pädagogischen Jahresbericht“); Ellendt, Entwurf eines Katalogs für die Schülerbibliotheken höherer Lehranstalten (2. Aufl., Königsb. 1886). Vom katholischen Gesichtspunkt aufgefaßt sind: Fischer, Die Großmacht der Jugend- und Volkslitteratur (2. Aufl., Wien 1877); Rolfus, Verzeichnis ausgewählter J. (2. Aufl., Freiburg 1876). Außerdem haben verschiedene Lehrervereine „Wegweiser“ (Dresd. 1881 ff.), „Ratgeber“ (Frankf. a. M. 1882 ff.), „Verzeichnisse“ (Bresl., evangelisch und katholisch) erscheinen lassen.