Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Ionĭer“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 8 (1887), Seite 10131014
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Ionĭer. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 8, Seite 1013–1014. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Ion%C4%ADer (Version vom 23.05.2023)

[1013] Ionĭer, einer der vier Hauptstämme der Hellenen, den die Sage auf Ion (s. d.) zurückführt, den Adoptivsohn des Xuthos, eines Nachkommen des Deukalion. In Wirklichkeit war die Heimat der I. die Westküste Kleinasiens, wo sie von den Phönikern die Seefahrt lernten und unter dem Namen „Kinder Javan“ den Morgenländern bekannt wurden. Allmählich besetzten sie die Inseln des Ägeischen Meers und besiedelten die Ostküste von Hellas, namentlich Attika, Südböotien, den Isthmus und Ägialeia, die Nordküste des Peloponnes. Von hier infolge der Dorischen Wanderung durch die Achäer vertrieben, wanderten sie im 11. Jahrh. v. Chr. nach Kleinasien zurück, ließen sich in der alten Heimat, inmitten der zurückgebliebenen Stammesgenossen, nieder, drängten die vorgerückten Lydier zurück und gründeten neue Städte. Die zwölf Städte, welche den Ionischen Städtebund bildeten, waren in der Richtung von N. nach S. folgende: an der lydischen Küste: Phokäa, Erythrä, Klazomenä, Teos, Lebedos, Kolophon, Ephesos; an der karischen Küste: Priene, Myus, Miletos; auf den der Küste nahen Inseln: Samos und Chios; später (um 700 v. Chr.) kam auch das äolische Smyrna zum Ionischen Bunde, der seitdem 13 Städte umschloß. Das ganze von den Ioniern bewohnte Küstenland hieß Ionien (Ionia).

In diesen neuen Wohnsitzen zwischen andern griechischen Niederlassungen, den äolischen im N. und den dorischen im S., gelangten die I., durch die alle Vorteile für den Verkehr in sich vereinigende Lage ihres Landes, dessen herrliches Klima und ausnehmende Fruchtbarkeit begünstigt, sehr bald zu einer hohen weltgeschichtlichen Bedeutung und wurden in politischer wie in wissenschaftlicher Thätigkeit die Vorbilder ihrer europäischen Brüder. Jeder einzelne Freistaat entwickelte sich bei demokratischer Verfassung völlig selbständig; einen vereinigenden Mittelpunkt jedoch gewährte das jährliche Fest des Poseidon Helikonios in einem heiligen Hain am Vorgebirge Mykale (Panionion), wo die I. ihre Bundestage abhielten. Geraume Zeit hindurch hatte der Bund in unbeeinträchtigter Freiheit und ungestörter Ruhe auf die Weise bestanden und zahlreiche Ansiedelungen nach allen Richtungen hin entsendet, welche sich zu gleicher Blüte entfalteten, als seit des Gyges Regierung (689–654 v. Chr.) die lydischen Könige ihre Angriffe auf die blühenden Freistaaten begannen und zwar mit solchem [1014] Erfolg, daß unter Krösos sämtliche ionische Besitzungen in Kleinasien der lydischen Herrschaft unterworfen waren. Mit dem lydischen Reich aber kamen sie 546 unter die persische Herrschaft des Kyros. Durch drückende Tribute, die Verpflichtung, Kontingente zum persischen Heer zu stellen, und die Willkürherrschaft der übermütigen Satrapen wurde die Fremdherrschaft den Ioniern bald unerträglich, und es brach daher 500 der Ionische Aufstand gegen die persische Oberherrschaft aus, welcher die Perserkriege zur Folge hatte. Der frühere Tyrann von Miletos, Histiäos, und dessen Schwiegersohn Aristagoras waren die vornehmsten Leiter dieser Empörung, durch welche alle kleinasiatischen Hellenen in die größte Aufregung gerieten. Von den Athenern und der ionischen Kolonie Eretria unterstützt, drangen die Aufständischen bis Sardes, der Residenz des persischen Satrapen, vor und steckten die Stadt in Brand (499), wurden aber durch die überlegene Macht der Perser wieder bis Ephesos zurückgedrängt und hier in einer blutigen Schlacht gänzlich geschlagen. Aristagoras ward von den Thrakern erschlagen, Histiäos von den Persern ergriffen und gekreuzigt. Miletos wehrte sich am längsten und wurde dafür nach der Niederlage der I. bei Lade 494 fast gänzlich zerstört; die übrigen ionischen Städte unterwarfen sich nicht nur der persischen Herrschaft wieder, sondern mußten auch mit ihren Schiffen und ihrer streitbaren Mannschaft in den Perserkriegen gegen ihre Stammesgenossen in Hellas fechten. Erst die Siege der letztern und insbesondere die Schlacht bei Mykale (479), in welcher die I. zu ihren Landsleuten übergingen, sowie Kimons Sieg am Eurymedon (466) machten der persischen Oberherrschaft im hellenischen Kleinasien ein Ende. Dafür gerieten aber die ionischen Städte von jetzt an in ein abhängiges Verhältnis zu Athen, dem Haupte der attisch-ionischen Symmachie, und verschmolzen mit den übrigen kleinasiatischen Griechen immer mehr zu einem Ganzen, so daß von Ioniern im Gegensatz zu Äoliern und Doriern fortan wenig mehr die Rede ist. Durch den Frieden des Antalkidas (387) kamen die ionischen Städte wieder unter persische Oberherrschaft und wurden dann von dem makedonischen und endlich von dem römischen Weltreich verschlungen. Die höchste Blüte der ionischen Städte endigte eigentlich schon unter der persischen Oberherrschaft, obschon sie unter der makedonischen von neuem Wohlhabenheit und eine gewisse politische Bedeutung erlangten; unter der römischen Obergewalt aber sanken sie zu bloßen Provinzialstädten herab, wiewohl sie auch jetzt noch als Handelsplätze und Sitze der Künste und Wissenschaften sich ein hohes Ansehen zu bewahren wußten. Erst unter den rohen Händen der Osmanen verschwanden die letzten Spuren ihrer frühern Größe.

Was den Charakter der I. anlangt, so waren sie trotz ihres Leichtsinns, ihrer Weichlichkeit, Genußsucht und sinnlichen Reizbarkeit doch der geistig empfänglichste und thätigste hellenische Stamm, und ionische Bildung, Sprache, Kunst und Wissenschaft haben daher lange Zeit als Muster dem Abendland vorgeleuchtet. Ionien war die Wiege der griechischen Kunst und Litteratur, und namentlich nahmen von hier die griechische Dichtkunst, Philosophie und Historiographie nicht nur ihren Ausgang, sondern gediehen hier auch schon zu einer gewissen Vollendung. Hier sang Homer seine unsterblichen Gesänge, hier ward Hesiod geboren, hier dichteten Mimnermos aus Kolophon u. Anakreon aus Teos ihre entzückenden Lieder. Hier ward auch zuerst der Geist philosophischer Forschung rege, denn hier traten Thales, Anaximandros und Anaximenes, alle drei aus Miletos, Xenophanes aus Kolophon und Anaxagoras aus Klazomenä mit ihren Systemen zuerst auf; hier endlich machten die Logographen Kadmos, Dionysios, Hekatäos, sämtlich aus Miletos gebürtig, die ersten Anfänge mit griechischer Geschichtschreibung und Erdbeschreibung. Auch Herodot, der „Vater der Geschichte“, war ein Ionier aus Halikarnassos, ebenso Hippokrates, der Begründer der ärztlichen Wissenschaft, der von der Insel Kos gebürtig war. Die ionische Baukunst galt im ganzen Altertum für die geschmackvollste, und daß auch die übrigen Künste sich einer eifrigen Pflege erfreuten, beweist schon der Umstand, daß die größten Maler des Altertums, Apelles und Parrhasios, in ionischen Städten geboren und gebildet waren. Als Handelsvolk übertrafen die I. aber sehr bald ihre Lehrer in der Schiffahrt, die Phöniker, und standen in dieser Hinsicht keinem andern Volk des Altertums nach.

Durch das in hohem Grad ausgebildete Kolonisationssystem wurden ionische Bildung, Industrie, Kunst und Wissenschaft in die entferntesten Länder verpflanzt. Wir geben dazu schließlich eine Übersicht der namhaftesten ionischen Niederlassungen, die sich in östliche und westliche einteilen lassen. Die östlichen Kolonien an den Küsten des Hellespont, der Propontis und des Pontos Euxeinos, von denen mehrere durch Schiffahrt und Handel zu hoher Blüte gediehen, wurden früher als die westlichen, nämlich in dem Zeitraum zwischen 800 und 600 v. Chr., größtenteils von Miletos aus gegründet. Es waren folgende: an der Südküste der genannten Meere und zwar am Hellespont: Abydos, Lampsakos, Kolonä, Parion, Päsos, Priapos, sämtlich milesischen Ursprungs; an der Propontis: Kyzikos, ebenfalls milesisch; am Pontos Euxeinos: Sinope, Hauptstapelplatz der Milesier und selbst wieder Gründerin vieler andrer Kolonien am Pontos Euxeinos, Kerasus, Trapezus etc., ferner Amisos und Phasis; an der Nordküste der genannten Meere und zwar am Pontos: Pantikapäon, Olbia, Istros, Tomi, Odessos und Apollonia, sämtlich von Miletos aus gegründet; an der Propontis: Byzantion, Perinthos und Bisanthe, Kolonien der Samier; am Hellespont: Eläos, von Teos oder von Ephesos aus gegründet; am Ägeischen Meer: Abdera, von Teos, und Samothrake, von Samos aus bevölkert; in Ägypten: Naukratis. Die westlichen Pflanzstädte der I., deren Gründung in den Zeitraum zwischen 750 u. 650 v. Chr. fällt, lagen an den Küsten von Unteritalien, Sizilien, Sardinien, Corsica und Gallien. Mit Sicherheit lassen sich als ionische Niederlassungen nachweisen in Unteritalien: Elea, von Phokäern gegründet, Rhegium und Cumä, unter Beihilfe der Chalkidier und Eretrier von Äoliern erbaut, Dikäarchia und Neapolis, wenigstens mittelbar ionischen Ursprungs; auf Sizilien: Naxos, Leontinoi, Catana, Tauromenium, Zankle und Himera; auf Sardinien: Olbia und Ogryle, von Thespiern unter Iolaos gegründet; auf Corsica: Aleria, u. in Gallien: Massilia.