Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Huß“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 8 (1887), Seite 817818
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Huß. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 8, Seite 817–818. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Hu%C3%9F (Version vom 16.11.2024)

[817] Huß (richtiger Hus, „Gans“), Johann, böhm. Reformator, geb. 1369 zu Hussinetz, war der Sohn von Bauern slawischer Abstammung. Er studierte in Prag, nahm die Weihen, wurde 1393 Bakkalaureus der freien Künste, 1394 der Theologie und im Januar 1396 Magister an der Artistenfakultät. 1398 begann er Vorlesungen an der Universität zu halten und wurde 1402 zum Predigeramt an der bei den Tschechen in besonderm Ansehen stehenden Bethlehemskapelle der Altstadt Prag berufen. Über die innere geistige Entwickelung des hochbegabten Mannes ist man leider nur sehr ungenügend unterrichtet. Jedenfalls brachten die Schriften Wiclefs eine Umwandlung in ihm hervor, zu welcher auch Lehrer der Prager Universität, wie Magister Niklas von Leitomischl, Stephan Palec und vor allen Magister Stanislaus von Znaim, den Grund gelegt haben mochten. Auf einer Disputation von 1399 zeigte es sich, daß H. die Lehren des englischen Reformators schon in umfassender Weise angenommen hatte. Bald darauf (1403) ward die Ausbreitung Wiclefscher Lehren jedem Magister bei seinem Universitätseid verboten. Inzwischen hatte sich H. durch seine Predigten in der Bethlehemskapelle nicht nur bei der großen Masse des Volkes, sondern auch bei dem König und bei dem klugen, aber in die wissenschaftlich-theologischen Fragen nicht eingeweihten Erzbischof Sbynko Ansehen verschafft. Am Hof erhielt er die Stelle eines Beichtvaters bei der Königin, während der Erzbischof 1403 ihm das wichtige Amt eines Predigers bei den Diözesansynoden erteilte. Vom Erzbischof mit der Untersuchung über die durch die Reliquie des Bluts Christi [818] zu Wilsnack angeblich bewirkten Heilungen betraut, erreichte H., daß 1405 die Wallfahrt an den Gnadenort verboten wurde. Kaum zu bestimmen ist der Anteil, welchen H. an dem Vorgehen des Königs gegen die nichtböhmischen Nationen genommen hat, infolge dessen 1409 die sämtlichen nicht zur böhmischen Nation gehörenden Magister und Studenten von Prag nach Leipzig übersiedelten. Er selbst hat später die Urheberschaft dieser Maßregel für sich beansprucht. Inzwischen hatte schon der Erzbischof Sbynko mit H. und seinen Genossen gebrochen und sich mit der von H. in Predigten und Büchern angegriffenen Geistlichkeit verbündet, welche sich in ihren Rechten, Privilegien und Einkünften bedroht sah, während der Adel den Anschauungen der neuen Lehren immer mehr Sympathien entgegenbrachte. Aber auch an der Universität war nach dem Abzug der Deutschen der Bruch zwischen den ältern und jüngern Magistern nicht mehr aufzuhalten. Schon 20. Dez. 1409 gab Alexander V. dem Erzbischof Sbynko Vollmacht, die Verbreitung Wiclefscher Lehrsätze bei Strafe der Exkommunikation und das Predigen außer in den Kollegiat-, Pfarr- und Klosterkirchen an jedem andern Ort zu verbieten. Die schärfste Reaktion begann nun, und 18. Juli 1410 ward H. von Sbynko exkommuniziert. Während in Rom der Prozeß gegen H. eingeleitet und gegen die von ihm entsendeten Vertreter geführt wurde, predigte er selbst in Prag gegen die päpstlichen Kreuzbullen und fing an, das kirchliche System in seinen entscheidendsten Stellen, in der Lehre vom Ablaß und von der Infallibilität des Papstes, zu bekämpfen. Der Mut und die Ausdauer, mit welchen er sodann seine Sache fortsetzte, auch als Alexanders V. Nachfolger Johann XXIII. die große Exkommunikation über ihn verhängte und Prag selbst 1411 vom Erzbischof Albik (seit 1411) mit dem Interdikt belegt wurde, zeigten klar, daß die Kirche es hier mit einer in die Tiefen der Bevölkerung gedrungenen Bewegung zu thun hatte. Auf König Wenzels eignen Wunsch entfernte sich H. 1412 von Prag und lebte seitdem auf den Schlössern des Landadels, wo er eine Reihe von Briefen und Traktaten schrieb, welche seiner Lehre einen zusammenhängendern und systematischern Ausdruck gaben, als bisher der Fall gewesen. 1413 verfaßte er sein Werk „De Ecclesia“, woraus später das Anklagematerial in Konstanz wider ihn entnommen wurde. In einer Schrift gegen Stephan Palec, seinen frühern Freund und Genossen, stellte sich H. bereits vollständig auf den Standpunkt der Schrift als Quelle des Glaubens. Doch war von H. selbst noch an ein Konzil in seiner eignen Prozeßsache appelliert worden, und die konziliare Autorität in der Kirche leugnete er nicht. Er ging überhaupt viel weiter mit der Kirche als vor ihm Wiclef; von der Wandlungslehre, der Anrufung der Heiligen u. a. ist er nie zurückgetreten, und zu gewissen Konsequenzen des von ihm erfaßten Prinzips hat er sich überhaupt erst im Kampf mit den Vätern des Konzils hindurchgearbeitet. Wahrscheinlich von König Siegmund selbst ist der Gedanke ausgegangen, H. zur Reise nach Konstanz zum Zweck einer Aussöhnung mit der Kirche und zur Beilegung der in Böhmen bestehenden Wirren zu bestimmen.

Nach manchen Zweifeln und trotz mancher Warnungen nahm H. 1. Sept. 1414 die Einladung zum Konzil an und erhielt vom König einen vom 18. Okt. datierten polizeilichen Geleitsbrief, genau in derselben Form, wie solche auch andern zum Konzil reisenden Personen ausgestellt wurden. H. äußerte nicht geringes Erstaunen, als er in allen Städten Deutschlands, durch die er auf seiner Reise nach Konstanz kam, von weltlichen und geistlichen Obrigkeiten aufs ehrenvollste behandelt wurde. Für die Verurteilung des H. auf dem Konzil selbst aber war der Umstand entscheidend, daß die für die Glaubenssachen eingesetzte Kommission die feierliche dogmatische Verwerfung der Wiclefschen Lehren schon 4. Mai 1415 in der achten Sitzung des Konzils bewirkt hatte und dadurch der freien Verteidigung H.’ bei dem ersten und zweiten Verhör (5. und 7. Juni 1415) in jeder Weise durch vorhergegangene synodale Entscheidungen präjudiziert war. Fast gleichzeitig mit H. waren seine bittersten Feinde und Ankläger, unter ihnen Stephan Palec, aus Böhmen in Konstanz angekommen und suchten die Kardinäle noch vor der Ankunft König Siegmunds zur Wiederaufnahme des kirchlichen Prozeßverfahrens gegen H. zu bestimmen. Da H. überdies in Konstanz Messe las und in Predigten seine Lehren verteidigte, wurde er 28. Nov. 1414 auf Befehl des Papstes verhaftet. Nach der Ankunft Siegmunds traten bald politische, bald kanonische Hindernisse einer erfolgreichen Vermittelung seitens des Königs entgegen. In der Nacht des Palmsonntags 1415 ließ der Bischof von Konstanz H. in sein Schloß Gottlieben zu strengerer Haft bringen. Proteste der Geleitsmänner und eine Erklärung vieler böhmischer Herren blieben vollständig erfolglos. König Siegmund und die einer freiern Anschauung huldigenden Väter des Konzils, wie d’Ailly, begnügten sich, dem böhmischen Magister auf jede Weise zuzusprechen, daß er sich mit dem Konzil und der Kirche versöhnen möge. Am 8. Juni wurde das dritte Verhör gleichfalls in Gegenwart des Königs vorgenommen. Allein H. beharrte auf seiner Weigerung, die gerichtliche Kompetenz des Konzils über ihn anzuerkennen. Danach konnte die 15. allgemeine Sitzung des Konzils, in welcher die Angelegenheit 6. Juli zu Ende gebracht werden sollte, nur noch von formeller Bedeutung sein. H. war für seine Überzeugung zu sterben entschlossen. Gleich von der Sitzung hinweg vom Pfalzgrafen als Urteilsvollstrecker „auf den Brühl“ geführt, bestieg er unerschüttert den Scheiterhaufen und litt unter lang andauernden Qualen den Tod standhaft und mit Seelengröße. Sein Todestag ward in Böhmen lange als kalendermäßiges Fest gefeiert und erst durch die Heiligsprechung des sogen. Johann von Nepomuk (s. d.) verdrängt. An Sagenbildung, welche ihm Nachfolger in der Reformation verhieß, fehlte es nicht, und in der That vermochte es die deutsche Reformation über sich, die großen Verdienste des böhmischen Johann H. anzuerkennen und die gehässige Seite seiner nationalen Agitation darüber fast der Vergessenheit anheimzugeben. S. Hussiten. Vgl. die treffliche Ausgabe der Briefe und Schriften von Palacky: „Documenta Magistri Joannis Hus vitam, doctrinam, causam etc. illustrantia“ (Prag 1869); Becker, H. und Hieronymus von Prag (Nördling. 1858); Höfler, J. H. und der Abzug der deutschen Professoren und Studenten aus Prag (Prag 1864); Berger, J. H. und König Siegmund (Augsb. 1872); Denis, H. et la guerre des Hussites (Par. 1878).