Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Hafer“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 7 (1887), Seite 10001001
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Hafer. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 7, Seite 1000–1001. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Hafer (Version vom 05.05.2024)

[1000] Hafer (Avēna L.), Gattung aus der Familie der Gramineen, ein- oder mehrjährige Gräser mit zwei- und mehrblütigen Grasährchen; die obere Kelchspelze ist so lang wie das untere Blütchen oder sehr wenig kürzer, die Grannen ragen in doppelter Länge aus den Grasährchen hervor, sitzen am Rücken der Blütenspelze und haben zwei Glieder, von welchen das untere etwas stärker ist und das obere schwächere sich nach der Blüte knieförmig biegt. Bei den Hafergräsern sind alle Blüten der zwei- bis fünfblütigen Grasährchen fruchtbar und mit einer Granne versehen, aber die untern, Rückengrannen tragenden Blütenspelzen gehen nicht in zwei Grannenspitzen aus. Hierher gehören der perennierende weichhaarige Wiesenhafer (Rainhafer, Avena pubescens L.), ausdauernd, 60 cm hoch, mit 1,3 cm langen Grasährchen, dicht behaarten untern Blattscheiden und Blättern, wächst auf trocknem, aber nicht dürrem, sonnigem Land und auf bessern Wiesen. Der perennierende Trifthafer (Berghafer, A. pratensis L., s. Abbildung), 30–60 cm hoch, mit reichblütigern Grasährchen und kahlen Blattscheiden, bildet kleine Stöcke mit breiten, kurzen Wurzelblättern auf Kalk-

Berghafer (Avena pratensis).

und Sandmergel, an dürren Rändern und auf Triften, gibt keine reiche, aber sehr gute, nahrhafte Weide und eignet sich mit Klee zur Besäung von Triften. Mehrere andre Arten (Wildhafer) sind einjährige Ackerunkräuter. Bei dem Kulturhafer trägt die aufrecht stehende Rispe zwei- bis vierblütige, fast zolllange oder längere Grasährchen, welche dünnhäutige, mit den untersten Blütchen ziemlich gleichlange Hüllspelzen haben. Nur das unterste Blütchen besitzt eine gekniete und gedrehte Granne auf dem Rücken der untern Deckspelze, die bei mehreren Kulturarten fehlschlägt. Der gemeine Saathafer (Rispenhafer, A. sativa L.) hat eine nach allen Seiten hin ausgebreitete Rispe mit zwei, drei, auch vier fruchtbaren Blüten in den Grasährchen. Der H. geht unter den Getreidearten im regelmäßigen Anbau am weitesten nördlich (in Norwegen bis 65° nördl. Br.), braucht aber eine längere Vegetationszeit als die kleine Gerste (16–22 Wochen) und verlangt deshalb frühe Saat. Er ist widerstandsfähiger gegen die Witterung als andre Halmfrüchte und kann sich vermöge seiner starken Wurzeln, welche sich nicht, wie die der Gerste, dicht und büschelartig verbreiten, auch auf geringerm Boden entwickeln und ebenso in noch nicht kultiviertem Land. Auf Neubruch jeder Art ist er die einzige Halmfrucht, welche, und zwar oft mehrmals hintereinander, angebaut werden kann. Er gedeiht jedoch am besten in kräftigem Land und verträgt auch frische Düngung, wenn er schon besser in zweiter und dritter Tracht steht. Man sucht Hackfrüchte, besonders Kartoffeln, oder Klee und analoge Futterpflanzen oder auch noch Roggen, aber diesen noch mehr im Anfang der Rotation stehend, zur Vorfrucht zu geben und bereitet schon im Herbste das Feld entsprechend vor, damit man im Frühjahr zeitig genug säen kann und die dem H. so nötige Winterfeuchtigkeit nicht verloren geht. Nur in schwerem, bindigem Boden muß nochmals geackert werden. Man säet sonst auf die rauhe Furche oder bringt den H. mit dem Exstirpator unter. Auf trocknem Boden muß die Walze, anderwärts die Egge die Vorbereitung vollenden. Die Aussaat geschieht [1001] dichter als bei andern Halmfrüchten, da viele Körner taub sind oder zu Grunde gehen, und überwalzt auf austrocknendem Boden die aufgelaufene Saat nochmals. Das Drillen ist mit Unrecht beim H. weniger als bei anderm Getreide gebräuchlich. Pro Hektar nimmt man 146–196 kg bei breitwürfiger Saat und 121–147 kg beim Drillen als Saatgut. Besonderer Pflege bedarf der H. nicht, ist für dieselbe aber sehr dankbar, zumal für das Behacken der Drillreihen, resp. das Eggen der handhohen breitwürfigen Saat. Mit der Ernte darf man nicht zu lange warten, da die Körner leicht ausfallen und anderseits ein Nachreifen in den Garben stattfindet. Man erntet auf 1 Hektar 69–103 Neuscheffel Körner und 2350–3520 kg vorzügliches Futterstroh, welches dem der Gerste vorzuziehen ist. Ein Neuscheffel H. wiegt durchschnittlich 22,75 kg. Die reiche Strohernte und der relativ höhere Preis haben neuerdings vielfach die Gerste hinter dem H. zurückstehen lassen; auf magerm Boden und in rauhem Klima kann ohnedies nur H. gebaut werden. Auch für den H. hat man in der Neuzeit vorzügliche Sorten verbreitet, unter welchen die schottischen und die gezüchteten deutschen Sorten obenanstehen. Der Rispenhafer nimmt in seinen gestrecktkörnigen, gelben Formen mit leichterm Boden fürlieb (z. B. Goldhafer), für üppigen Boden sind die gedrungenen, weißkörnigen Arten (Eichelhafer) geeigneter; die begrannten Sorten findet man in dürren und in hohen Lagen vorherrschend, die mit farbigen Körnern werden fast nur aus Liebhaberei gebaut. Der Fahnen-, Stangen-, Trauben-, Kamm- oder türkische H. (A. orientalis Schreb.), mit höhern, steif aufrechten Halmen und schon in noch grünem Zustand mit zusammengezogenen, einseitig gewendeten Rispen, verträgt Frühlingsfröste besser als der gemeine, bestockt sich mehr, lagert sich nicht leicht, gibt aber nur in sehr guten Lagen bessere Erträge als der Rispenhafer, braucht 1–2 Wochen länger zur Reife, drischt sich schwerer, und sein Korn ist meist weniger wertvoll wegen der stärkern Spelze. Der chinesische oder große, nackte H. (A. chinensis) gibt selbst auf reichem Land schlechte Erträge; seine durch Pressen aus den Spelzen entfernten Körner werden zur Grütze verwandt, wie der ebenfalls sehr selten und fast nur in Österreich gebaute kleine, nackte H. (A. nuda L.). Letzterer ist vorzüglich zu Gemengsaaten geeignet und gibt leidliche Ertrage. H. enthält in 100 Teilen im Mittel 11,73 eiweißartige Körper, 6,04 Fett, 55,43 Stärkemehl und Dextrin, 10,83 Holzfaser, 3,05 Asche, 12,92 Wasser. Die eiweißartigen Stoffe des Hafers bestehen vorzugsweise aus Pflanzenkasein von der Zusammensetzung und den Eigenschaften des Legumins, jedoch mit dem Schwefelgehalt und den Löslichkeitsverhältnissen des Glutenkaseins. Infolge dieses hohen Gehalts an Kasein erscheint der H. den Hülsenfrüchten sehr ähnlich. In geringer Menge enthält er außerdem sehr schwefelreichen Pflanzenleim (Gliadin). Die Asche enthält vorwiegend Kieselsäure, Phosphorsäure, Kali und Magnesia. Übrigens schwankt die quantitative Zusammensetzung nach Art, Varietät, Bodenbeschaffenheit und Klima. – Der H., dessen ursprüngliches Vaterland man nicht mehr kennt, obwohl das Donaugebiet dafür gelten mag, kann füglich als die ursprüngliche europäische Brotfrucht angesehen werden. Kelten und Germanen kultivierten ihn schon vor 2000 Jahren, und er scheint sich von da aus in den gemäßigten und kalten Erdstrichen aller Weltteile verbreitet zu haben. Ägyptern, Hebräern, Griechen und Römern war er nicht bekannt. Mit der Einführung nahrhafterer und besserer Cerealien wurde er immer mehr auf magern Boden und in unwirtliche Gegenden zurückgedrängt und dient gegenwärtig vorzüglich nur unsern Haustieren und ärmern Menschen zur Nahrung. In Schottland bäckt man, wie ehedem auch in Deutschland, Brot daraus. Jetzt ist bei uns die Hafergrütze noch gebräuchlich, auch wird zu einigen belgischen Weißbieren viel H. verbraucht.