Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Getreidezölle“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 7 (1887), Seite 273274
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Getreidezölle. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 7, Seite 273–274. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Getreidez%C3%B6lle (Version vom 06.05.2024)

[273] Getreidezölle sind die Zölle, welche bei Ausfuhr oder Einfuhr von Getreide erhoben werden. Im Mittelalter herrschte meist das Bestreben, das im Inland erzeugte Getreide auch demselben zu erhalten. Deswegen wurde vielfach auch bei guten Ernten die Ausfuhr verboten. Auch den merkantilistischen Anschauungen entsprach jenes Bestreben. Getreide als unentbehrliches Lebensmittel der Arbeiter sollte nicht zu teuer werden. Darum sollte die Ausfuhr durch Zölle erschwert oder auch wohl durch Verbot verhindert werden, während die Einfuhr freizulassen war. Wo etwa Einfuhrzölle vorkamen, hatten sie vorwiegend einen fiskalischen Zweck. Auch Fr. List hielt es für unnötig, die heimische Landwirtschaft durch Auflegung von Zöllen auf eingeführtes Getreide gegen fremde Konkurrenz zu schützen, weil sie vor letzterer schon durch die Höhe der Transportkosten einen genügenden [274] Vorsprung voraus habe und den besten Schutz in einer erstarkenden Industrie finde. In der spätern Zeit des Merkantilsystems, vorher auch schon in England, war man bemüht, dem Land eine normale Höhe des Getreidepreises zu sichern. Bei niedrigem Preis wurde deshalb die Ausfuhr gestattet, die Einfuhr verboten. Bei höhern Preisen sollten Einfuhrzölle erhoben werden, die sich mit steigenden Preisen verminderten (Zölle nach gleitender Skala, Skalasystem, engl. sliding scale, franz. échelle mobile). Von einem gewissen Punkt an war die Einfuhr frei, während die Ausfuhr verboten wurde. Einen echt protektionistischen Charakter im Interesse der Landwirtschaft erlangten die G. besonders in England und Frankreich mit Beginn dieses Jahrhunderts. In England hatte man schon im 15. Jahrh. versucht, einen Normalpreis zu sichern. Wenn der Preis eines Quarters Weizen auf 61/3 Schilling gesunken war, sollte die früher verboten gewesene Ausfuhr gestattet, die Einfuhr verboten sein. 1670 ward dieser Satz auf 531/3 Schill. bemessen, bei einem höhern Preis wurde die Einfuhr mit einem Zoll von 8 Schill. belastet, während sie, wenn der Preis auf 80 Schill. und höher stand, frei war. Unter Wilhelm III. wurden die Ausfuhrzölle beseitigt und an ihrer Stelle eine Prämie gewährt, sobald der Preis nicht über 48 Schill. stand. Später wurde die Prämie wieder beseitigt, die Ausfuhr bei jedem Preis gestattet (1814), die Einfuhr erst von einem bestimmten Preis an (1791 bei 54, 1804 bei 66, 1822 bei 85 Schill.) gegen eine mäßige Abgabe von 1/2–1 Schill. zugelassen, bei einem niedrigern Preis (1791 bei 50, 1804 bei 63, 1822 bei 70 Schill.) durch einen sehr hohen Zoll (23–24 Schill.) erschwert. Bei einem zwischen jenen Sätzen liegenden Preis wurden früher 21/2 Schill. Zoll erhoben, 1828 eine konsequente gleitende Skala eingeführt, indem der Zoll bei einem Preis von 66 Schill. auf 202/3 Schill. mit der Maßgabe festgesetzt wurde, daß er um ebensoviel Schillinge steigen sollte, als der Preis unter diesen Satz sinken würde, während er in stärkerm Verhältnis fallen sollte, wenn der Preis über 66 steigen würde. Das formelle Einfuhrverbot wurde aufgehoben. Auch der holländische Zoll wurde in jener Zeit nach einer streng gleitenden Skala bemessen, an deren Stelle später (1847) ein fester Satz trat. Gegen den englischen Getreidezoll kämpfte mit Erfolg die Anti-cornlaw-league (s. d.) an. Nachdem 1842 einige Ermäßigungen eingetreten waren, wurde 1846 bestimmt, daß der Getreidezoll allmählich aufgehoben werden sollte. 1869 kam auch der letzte kleine Überrest (3 Pence für den Zentner Weizen) in Wegfall. – In Frankreich wurde erst 1819 ein Getreidezoll zum Schutz der Landwirtschaft eingeführt. Das Land wurde in drei (1832 in vier) Gruppen zerlegt mit Minimalpreisen von 20, 18 und 16 Frank für 1 hl. Sank der Preis unter diese Sätze, so wurde die Einfuhr verboten, während bei höhern Preisen ein nach gleitender Skala bemessener Zoll erhoben und die Ausfuhr durch einen Zoll erschwert, bez. verboten wurde. Im J. 1822 verstärkt, wurde der Schutz 1832 wieder gemildert (Beseitigung der Verbote), bis man dann 1861 feste Sätze einführte, welche im Tarif vom 7. Mai 1881 unbeträchtlich vermindert, dagegen durch Gesetz vom 28. März 1885 auf das Fünffache erhöht wurden. Dieselben waren für 100 kg in Franken:

  1861 1881 1885
Weizen in Körnern 0,62 0,60 3,00
Weizenmehl 1,25 1,20 6,00
Roggen, Gerste, Hafer frei frei 1,50

In Deutschland und Österreich war der Getreidezoll kein eigentlicher Schutzzoll, die Sätze waren hierfür zu mäßig (z. B. in Österreich 1853: 20 Kreuzer für den Zentner Weizen, 15 Kr. für den Zentner Roggen etc.). In den östlichen Provinzen Preußens war der Zoll 1818 für 100 kg Weizen 0,44, Roggen 0,16, Gerste 0,18, Hafer 0,125 Mk. etc. Von 1824 ab wurde für alle Getreidearten gleichmäßig 0,50 Mk. für einen Scheffel erhoben, 1857 trat eine Ermäßigung ein. Der Zoll war für 100 kg Weizen und Hülsenfrüchte 0,44–0,47, Roggen, Gerste und Hafer 0,12 bis 0,20 Mk. 1865 wurde derselbe ganz beseitigt. Gerade mit jener Zeit aber gewann infolge der Vermehrung und Verbesserung der Transportmittel der Getreidehandel andre Gestaltung. Dieselbe machte sich für die deutsche Landwirtschaft besonders fühlbar, als nach dem volkswirtschaftlichen Aufschwung von 1876 ab ein Rückschlag eintrat. Viele Landwirte, welche früher freihändlerisch gesinnt waren, verlangten jetzt die Einführung von Schutzzöllen zu gunsten der Landwirtschaft. Das Tarifgesetz vom 15. Juli 1879 setzte einen Zoll fest für 100 kg auf Weizen, Roggen, Hafer und Hülsenfrüchte sowie nicht besonders genannte Getreidearten 1 Mk., auf Gerste, Mais und Buchweizen 0,50 Mk., auf Mühlenfabrikate aus Getreide und Hülsenfrüchten 2 Mk., welcher Satz bereits 1881 auf 3 Mk. erhöht wurde. 1882 ward für die Mühlenindustrie eine Erleichterung dahin getroffen, daß ihr bei der Ausfuhr von aus fremdem Getreide hergestellten Mühlenfabrikaten ein voller Nachlaß des Eingangszolles zugestanden wurde. Voraussetzung hierfür ist, wie auch jetzt in Frankreich (vgl. Acquit à caution), der Identitätsnachweis. Da die Zollsätze von 1879 als zu niedrig betrachtet wurden und gleichzeitig der Reichskasse mehr Einnahmen zugeführt werden sollten, so wurden sie durch Gesetz vom 22. Mai 1885 erhöht bei Weizen und Roggen von 1 auf 3, bei Buchweizen und Gerste von 0,50 auf 1 Mk. Vgl. Oppenheim, Zur Geschichte der englischen Kornzölle (Berl. 1879); Conrad, Die neueste Litteratur über G. („Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik“, Bd. 33, 1879); Derselbe, Die G. (ebenda, Bd. 34, 1879); Schmoller, Die amerikanische Konkurrenz etc. (in dessen „Jahrbuch für Gesetzgebung etc.“ 1882); Derselbe, Analekten und Randglossen zur Debatte über Erhöhung der G. (1885).