Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Geschmackssinn“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 19 (Supplement, 1892), Seite 374375
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Geschmackssinn. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 19, Seite 374–375. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Geschmackssinn (Version vom 02.02.2024)

[374] Geschmackssinn.[WS 1] Nach dem von Joh. Müller aufgestellten Prinzip der spezifischen Energie der Nerven erklärt man bei gewissen Sinnesorganen die verschiedenen Qualitäten der Empfindung, also z. B. die Fähigkeit, verschiedene Farben wahrzunehmen, verschiedene Tonhöhen zu unterscheiden, in der Regel durch die Annahme spezifischer, in dem betreffenden Sinnesnerv nebeneinander befindlicher Nervenfasern. Diese Annahme hat beim Gesichtssinn zu der Aufstellung dreier Fasergattungen der Sehnerven, einer rot empfindenden, einer grün und einer violett empfindenden, geführt (Young-Helmholtzsche Farbentheorie); ebenso soll der Hörnerv sich aus Fasern zusammensetzen, die auf die in das Bereich unsers Hörens fallenden Töne gewissermaßen abgestimmt sind. Für die durch die Haut vermittelten Empfindungen des Druckes, der Wärme und der Kälte haben neuere Untersuchungen von Blix und von Goldscheider wahrscheinlich gemacht, daß diesen einzelnen Empfindungen nicht nur spezifische Nervenfasern entsprechen, sondern daß die Endigungen derselben in der Haut sogar räumlich voneinander getrennt sind. Es gelang den genannten Beobachtern nämlich, festzustellen, daß gewisse Hautpunkte zwar deutlich Druckreize zu empfinden im stande sind, daß sie dagegen keine Empfindlichkeit für Temperaturen besitzen, während andre lediglich auf Kältereize, noch andre ausschließlich auf Wärmereize reagieren. Eine solche räumliche Trennung der spezifischen Nervenelemente hat kürzlich Holmgren auch für die Endigungen des Sehnervs in der Netzhaut beweisen zu können geglaubt. Aus ähnlichen Gesichtspunkten sind die Untersuchungen hervorgegangen, die Oehrwall über den G. angestellt hat. Derselbe hat versucht, die Geschmack empfindenden Papillen der Zunge mit schmeckbaren Substanzen verschiedener Art gewissermaßen abzutasten. Er benutzte bittere, saure, süße und salzige Lösungen, die er vermittelst eines Pinsels unter Leitung eines Vergrößerungsspiegels auf beschränkte Stellen der Zunge auftrug. Es zeigte sich nun in der That, daß die verschiedenen Papillen unter sich nicht gleichwertig sind, daß die einzelnen, obwohl für den einen Geschmacksreiz zugänglich, andern gegenüber unempfindlich sind. Von 98 Papillen reagierten:

auf Weinsäure, aber nicht auf Zucker 19
Zucker Weinsäure 7
Weinsäure Chinin 24
Chinin Weinsäure 4
Zucker Chinin 15
Chinin Zucker 7

Die Versuche mit gesättigten Kochsalzlösungen ergaben unsichere Resultate. Die Ergebnisse des Verfassers zusammen mit gewissen frühern Erfahrungen scheinen geeignet zu sein, die Annahme einer Existenz spezifisch verschiedener Geschmacksfasern zu stützen; ob sich aber, ähnlich wie beim Gesichtssinn die Fülle der verschiedenen Farbenempfindungen aus Kombinationen der drei Grundempfindungen, die so ungemein mannigfaltigen Geschmacksempfindungen aus einer beschränkten Anzahl von Grundgeschmäcken werden herleiten lassen, ist noch die Frage. Auf weit größere Schwierigkeiten würde man indessen stoßen, wenn man für jede der möglichen Geschmacksempfindungen eine spezifische Nervenfaser-Kategorie postulieren wollte. Oehrwall hat auch den sogen. elektrischen Geschmack untersucht, d. h. die Geschmacksempfindung, die infolge elektrischer Reizung der Zunge einzutreten pflegt; er fand auch dabei die Annahme verschiedenartiger, spezifischer Nervenendigungen bestätigt.

Auch Hermann und Laserstein haben den elektrischen Geschmack zum Gegenstand einer neuen Untersuchung gemacht. Die am positiven Pol eintretende Geschmacksempfindung finden sie, wie allgemein zugegeben wird, deutlich sauer, die am negativen Pol deutlich laugenhaft, etwas bitterlich. Die Stromstärke, die zur Erregung des Geschmacksorgans ausreicht (Schwellenwert des Reizes), ist nach ihren Beobachtungen außerordentlich gering; zur Erzeugung der sauern Geschmacksempfindung genügte nämlich ein Strom von nur 1/156 Milli-Ampère. Mit andern Sinnesorganen verglichen, ist demnach die Erregbarkeit des Geschmacksorgans sehr hoch; Auge und Haut werden erst bei viel größerer Stromstärke erregt. Wie schon Volta und Joh. Müller wußten, tritt der saure elektrische Geschmack selbst durch alkalische Flüssigkeiten hindurch auf. Hermann und Laserstein konnten dies bestätigen; sie fanden ihn noch deutlich, wenn die Zunge vorher mit Sodalösung oder mit Zucker, Chinin, Salzsäure bestrichen worden war. Dagegen vermag der alkalische Geschmack des negativen Poles andre gleichzeitige Geschmäcke nicht zu durchdringen. Cocain, welches bekanntlich die Empfindungsnerven der Haut lähmt, scheint in der Regel die gesamte Geschmacksfunktion der Zunge aufzuheben; der saure Geschmack und damit auch der durch Aufsetzen des positiven Poles bewirkte scheint sich bei der Cocainisierung am längsten zu erhalten. [375] Bezüglich der Erklärung des elektrischen Geschmacks schließen sich Hermann und Laserstein der elektrolytischen Theorie an, nach welcher die Erscheinungen durch das Auftreten saurer, resp. alkalischer Elektrolyten in den Endorganen der Geschmacksnerven gedeutet werden.

Einen Beitrag zur Lehre vom Geschmack hat auch Michelson geliefert. Er vermochte darzuthun, daß die untere, dem Innern des Kehlkopfes zugewendete Fläche des Kehldeckels mit Geschmacksvermögen begabt ist. Sowohl süße als bittere Substanzen wurden, wenn sie durch Vermittelung einer Kehlkopfsonde mit der genannten Fläche in Berührung gebracht wurden, in vielen Fällen deutlich geschmeckt; auch der elektrische Strom zeigte sich wirksam. Veranlaßt wurde diese Untersuchung durch die schon von Verson und andern gemachte Beobachtung, daß die untere Kehldeckelfläche mit ähnlichen Gebilden versehen ist, wie wir sie an den der Geschmacksfunktion dienenden Teilen der Zunge kennen. Es sind das die von Schwalbe und Lovén entdeckten Schmeckbecher oder Geschmacksknospen, Gebilde, die sicher als nervöse Endapparate aufzufassen sind. Da man nun nach ihrer Verbreitungsweise vermuten mußte, daß sie die der Geschmacksfunktion dienenden Sinnesorgane seien, war es wünschenswert, zu untersuchen, ob wirklich auch alle mit ihnen versehenen Teile mit Geschmacksempfindung begabt sind. Durch die Untersuchung von Michelson ist nun der Beweis geführt, daß ein mit Schmeckbechern ausgestatteter, aber von den schmeckenden Abschnitten der Mundrachenhöhle entfernt liegender Teil, von dem man von vornherein kaum Beziehungen zum Geschmack annehmen konnte, deutliche Geschmacksempfindlichkeit besitzt. Die Auffassung der Schmeckbecher als Geschmacksinnsorgane erhält durch diesen Nachweis eine neue Stütze.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vgl. Geschmack in Band 7 und 18.