MKL1888:Geißlersche Röhre

Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Geißlersche Röhre“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 7 (1887), Seite 2933
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Geißlersche Röhre. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 7, Seite 29–33. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Gei%C3%9Flersche_R%C3%B6hre (Version vom 01.12.2021)

[29] Geißlersche Röhre (von dem Glaskünstler Geißler ausgeführt, von Plücker angegeben) nennt man eine zugeschmolzene Glasröhre, welche ein sehr verdünntes Gas enthält, und in welche an geeigneten Stellen eingeschmolzene Platin- oder Aluminiumdrähte hineinragen, welche außerhalb mit Ösen zum Einhängen von Zuleitungsdrähten versehen sind. Von den zahlreichen und mannigfaltigen Formen, welche man diesen Röhren zu geben pflegt, ist eine

Fig. 1.
Geißlersche Röhre.

der einfachsten in Fig. 1 dargestellt. Verbindet man die an ihren Enden eingeschmolzenen Platindrähte, welche man Elektroden nennt, mit den Polen eines Funkeninduktors (s. Induktion) oder den Elektroden einer Influenzmaschine (s. d.), so entwickelt sich in der Röhre eine prachtvolle Lichterscheinung. Befindet sich mäßig (z. B. auf 1/300) verdünnte Luft in der Röhre, so erscheint der negative Pol von einer zarten tiefblauen Lichthülle, dem Glimmlicht, umgeben; vom positiven Pol aber ergießt sich eine pfirsichblütrote Lichtgarbe durch die ganze Röhre fast bis zur negativen Lichthülle, bleibt aber von dieser durch einen dunkeln Zwischenraum getrennt; diese Garbe zeigt sich häufig, namentlich wenn Dämpfe von Terpentinöl, Schwefelkohlenstoff oder andre brennbare Gase in der Röhre gegenwärtig sind, in eine Reihe abwechselnd heller und dunkler Schichten zerlegt, welche zur Achse der Röhre senkrecht stehen und in wellenartiger Bewegung vom positiven nach dem negativen Pol fortzuschreiten scheinen. Einem genäherten elektrischen Strom oder einem Magnet gegenüber verhält sich der positive Strom wie ein beweglicher Stromleiter; er wird z. B. von einem Magnet abgelenkt nach denselben Gesetzen wie ein beweglicher Leitungsdraht (s. Elektrodynamik) und kann in fortgesetzte Umdrehung um einen Magnet versetzt werden. Hierzu dient am bequemsten die Vorrichtung Fig. 2; in ein eiförmiges Glasgefäß, in welchem die Luft (mittels einer Quecksilberluftpumpe) hinreichend verdünnt ist, ragt ein mit einer Glashülle bedeckter Eisenstab E hinein; der Lichtstrom ergießt sich parallel zum Eisenstab zwischen den beiden Platinelektroden, deren eine (a) am obern Ende des Eies angebracht ist, während die andre (b) weiter unten den Eisenstab ringförmig umgibt; stellt man das Ei auf den Pol eines Elektromagnets M, so wird der Eisenstab magnetisch, und der Lichtstrom dreht sich nun um ihn in derselben Weise, wie sich ein drehbar aufgehängter Leitungsdraht um einen Magnet

Fig. 2.

drehen würde; die Richtung der Drehung kehrt sich um, wenn man mittels des Kommutators K die Pole des Elektromagnets wechselt. Obgleich eine G. R. ihr sanftes Licht ohne Unterbrechung auszustrahlen scheint, so besteht dasselbe doch nur aus einer raschen Reihenfolge sehr kurz dauernder einzelner Entladungen, deren Bilder, wenn sie in unserm Auge auf dieselbe Stelle der Netzhaut fallen, zu einem einzigen ununterbrochenen Lichteindruck verschmelzen; versetzt man aber die Röhre vermittelst einer Schwungmaschine in rasche Umdrehung um ihr eines Ende, so fallen die Bilder der einzelnen Entladungen auf verschiedene Stellen der Netzhaut, und man erblickt einen aus vielen leuchtenden Röhren gebildeten prachtvollen Stern. Die Farbe des positiven Lichtstroms ist je nach der Beschaffenheit des in der Röhre enthaltenen Gases verschieden, z. B. in Wasserstoffgas purpurrot, in Kohlensäure grünlich. Immer aber ist sein Licht reich an jenen violetten und ultravioletten Strahlen, welche das als „Fluoreszenz“ bezeichnete Selbstleuchten des Glases hervorzurufen im stande sind; indem man Teile der Röhre aus stark fluoreszierenden Glassorten, z. B. dem hellgrün leuchtenden Uranglas, in zierlichen Formen herstellt, wird die Pracht und Mannigfaltigkeit der Lichterscheinungen noch bedeutend gesteigert.

Wird die Luft in einer Röhre weiter verdünnt als in den gewöhnlichen Geißlerschen Röhren, so dehnen sich das bläuliche negative Licht und der dunkle Raum, der es vom positiven Lichte trennt, immer weiter aus, das positive Licht aber zieht sich zurück und verschwindet endlich ganz. Jener dunkle Raum läßt sich sehr

Fig. 3.

schön zeigen mit Hilfe der von Crookes angegebenen Röhre (Fig. 3), die in der Mitte eine runde Platte aus Aluminiumblech als negativen Pol und an den Enden eingeschmolzene Drähte enthält, welche mit dem positiven Pol des Funkeninduktors verbunden werden; [30] man sieht von der mit bläulichem Licht umhüllten Platte den dunkeln Raum sich nach beiden Seiten hin etwa 3 cm weit erstrecken bis zur scharfen Grenze des positiven Lichts. Während der positive Lichtstrom in einer gewöhnlichen Geißlerschen Röhre wie ein beweglicher Stromleiter die Verbindung nach dem negativen Pol herstellt, sich stets nach diesem hinwendet und allen etwa vorhandenen Krümmungen der Röhre folgt, pflanzt sich in Röhren, in denen die Luft bis auf ungefähr ein Milliontel einer Atmosphäre verdünnt ist, das negative Licht nur in geraden Linien fort, welche senkrecht von der Oberfläche der negativen Elektrode ausgehen und in ihrer Richtung durch die Lage der positiven Elektrode nicht im mindesten beeinflußt werden. Dieses Verhalten hat Hittorf sehr einfach mittels der

Fig. 4.

in Fig. 4 dargestellten Röhre veranschaulicht. Die Platindrähte a und b sind in Glasröhrchen eingeschmolzen, so daß nur ihre eben geschliffenen Endflächen frei bleiben; die Endfläche des Drahtes b ist von derjenigen des Drahtes a abgewendet. Macht man b negativ, a positiv, so durchstrahlt das von der Endfläche b ausgehende negative Licht die Strecke bc, entfernt sich also immer mehr von dem positiven Pol und dem die Strecke ab erfüllenden positiven Licht. Macht man dagegen a negativ, b positiv, so krümmt sich der positive Lichtstrang unmittelbar hinter der Endfläche b und nimmt die Richtung auf a; das negative Licht von a flutet dagegen geradlinig fort und geht über b hinaus bis ans Ende c der

Fig. 5.

Röhre, unbekümmert darum, daß es auf seinem Weg den positiven Pol b kreuzt. Crookes bediente sich zum Nachweis dieser Eigentümlichkeit des negativen Lichts der folgenden Einrichtung. In eine V-förmige Röhre (Fig. 5) sind drei Drähte abc eingeschmolzen, deren jeder eine kleine kreisförmige Blechplatte trägt; setzt man a mit dem negativen, b mit dem positiven Pol des Induktionsapparats in Verbindung, so pflanzt sich das negative Licht in gerader Linie nur bis c fort, ohne dort um die Ecke zu biegen, und verbindet man a mit dem positiven, c mit dem negativen Pol, so ergießt sich das negative Licht in der zur Polplatte senkrechten Richtung geradlinig nach b hin, ohne sich um den bei a liegenden positiven Pol im geringsten zu kümmern. Es hat den Anschein, als ob die Teilchen der sehr verdünnten Luft von dem negativen Pol mit großer Gewalt senkrecht zur Polfläche fortgeschleudert werden und nun wie Lichtstrahlen geradlinig dahinschießen. Crookes hat daher die Materie in dem Zustand höchster Verdünnung, bei welcher sie dieses Verhalten zeigt, als strahlende Materie bezeichnet. Da, wo die Strahlen des negativen Lichts auf die Glaswand des Gefäßes treffen, erregen sie das Glas zu lebhaftem Selbstleuchten oder Phosphoreszieren; das Thüringer Glas, aus welchem diese Gefäße gewöhnlich verfertigt werden, leuchtet hell apfelgrün, Uranglas dunkler grün, englisches Glas blau. Um die Phosphoreszenz andrer Körper unter der Einwirkung des negativen Lichts zu beobachten, schließt man sie in Röhren wie Fig. 6 ein; Rubin leuchtet unter diesen Umständen mit roter Farbe, Kalkspat ebenfalls rot, Phenakit

Fig. 6.

blau, Pektolith schwefelgelb, und gewisse Spielarten von Diamant strahlen helles grünes Licht aus. Der wesentliche Unterschied zwischen der elektrischen Entladung in mäßig verdünnter und sehr stark verdünnter Luft läßt sich sehr auffallend an den beiden ganz gleichen, kugelförmigen Gefäßen (Fig. 7 A und B)

Fig. 7.

wahrnehmen, deren ersteres nur bis zu einem gewöhnlichen Grade, das andre aber bis auf etwa ein Milliontel Atmosphäre ausgepumpt ist. Verbindet man die Elektrode a, welche die Form einer Schale hat, mit dem negativen, die Elektroden b, c, d der Reihe nach mit dem positiven Pol, so sieht man in dem ersten Gefäß einen roten Lichtstrom von dem jeweiligen positiven Pol nach der negativen Polplatte sich ergießen und an dieser die blaue negative Lichthülle auftreten; in dem andern Gefäß indes sieht man nichts von einer positiven Lichtgarbe; von dem schalenförmigen negativen Pol indes gehen die Strahlen des negativen Lichts aus, laufen im Mittelpunkt der Kugel, von welcher die Schale ein Abschnitt ist, wie in einem Brennpunkt zusammen, gehen darüber hinaus

Fig. 8.

wieder kegelförmig auseinander und erzeugen auf der gegenüberliegenden Glaswand einen Fleck grünen Phosphoreszenzlichts, der sich heiß anfühlt; diesen Weg schlagen sie unbeirrt ein, welchen der Drähte b, c, d man auch zum positiven Pol machen mag. Die Strahlen des negativen Lichts werden [31] von einem festen Körper, auf den sie treffen, aufgefangen; in dem birnförmigen Gefäß (Fig. 8) trägt der positive Poldraht ein aus Aluminiumblech ausgeschnittenes Kreuz b; da nur die an dem Kreuz vorbeigehenden Strahlen (ac, ad) des negativen Pols a zur gegenüberliegenden Glaswand gelangen und deren Phosphoreszenz erregen, so erscheint daselbst auf hellgrün leuchtendem Grunde der dunkle Schatten des Kreuzes. Wirft man jetzt das um ein Scharnier drehbare Kreuz durch eine leichte Erschütterung des Apparats um, so daß die Strahlen des negativen Pols die gegenüberliegende Glaswand ungehindert treffen, so tritt das vorhin dunkle Kreuz jetzt hell auf dunklerm Grund hervor; das Glas hat sich nämlich an den schon vorher von den Strahlen getroffenen Stellen erwärmt und dadurch sein Phosphoreszenzvermögen teilweise verloren; der Teil aber, welcher vorher beschattet war, ist nicht ermüdet, sondern besitzt noch frische Empfänglichkeit. Daß der vom negativen Pol ausgehende Lichtstrom aus fortgeschleuderten Massenteilchen besteht, welche vermöge ihrer

Fig. 9.

Wucht auf die getroffenen Körper einen Stoß ausüben, beweisen die von Crookes entdeckten mechanischen Wirkungen der „strahlenden Materie“. In der Röhre (Fig. 9) ist eine gläserne Schienenbahn angebracht, auf welcher ein kleines Rad mit Glimmerschaufeln

Fig. 10.

rollen kann; verbindet man die oberhalb der Bahn gelegenen Elektroden mit den Polen des Induktors, so wird das Rad vom negativen nach dem positiven Pol hingetrieben, als ob von jenem her ein Luftstrom gegen die Schaufeln bliese. In dem Gefäß (Fig. 10) ist ein kleines Rad mittels eines Stahlhütchens auf eine Stahlspitze leicht beweglich aufgesetzt; die Flügel des Rades bestehen aus Aluminiumblech und sind auf der einen Seite mit Glimmer bekleidet; verbindet man das Rädchen mit dem negativen, den oben am Gefäß eingeschmolzenen Draht mit dem positiven Pol, so gerät das Rädchen durch den Rückstoß, welchen die von den Aluminiumflächen fortgeschleuderten Moleküle ausüben, in rasche Umdrehung, mit den Glimmerseiten voran. Auch der negative Lichtstrom unterliegt der Einwirkung des Magnets, und zwar verhält er sich nach Plücker, als wenn er aus frei beweglichen Teilchen eines magnetischen Stoffs bestände. Diese Einwirkung läßt sich mittels der in Fig. 11 dargestellten, von Crookes angegebenen Vorrichtung sehr schön nachweisen. Im Innern einer in hohem Grad ausgepumpten Röhre ist ein mit einer phosphoreszierenden Substanz überzogener

Fig. 11.

Schirm ef angebracht, in der Nähe des negativen Pols a befindet sich ein Glimmerblättchen bd mit einer Öffnung e, durch welche sich ein Bündel negativer Strahlen nach dem positiven Ende der Röhre ergießt und auf dem Schirm seine leuchtende, zunächst geradlinige Spur zeichnet. Bringt man nun einen Magnet M unter die Röhre, so krümmt sich das leuchtende Strahlenbündel (eg) nach unten, wenn der Nordpol des Magnets vorn, nach oben, wenn er

Fig. 12.

hinten liegt. Der Strom strahlender Materie, welcher vom negativen Pol ausgeht, wird von einem zweiten negativen Pol abgestoßen. Am einen Ende der Röhre (Fig. 12) bei c ist ein gerader Draht, am andern Ende sind zwei Elektroden a und b mit geneigten Endplatten eingeschmolzen; quer vor denselben steht ein Schirm von Glimmer mit zwei Öffnungen (d und e) und entlang der Röhre ein phosphoreszierender Schirm def. Macht man c zum positiven, a zum negativen Pol, so bezeichnet der nach abwärts geneigte Lichtstreifen df den Weg der strahlenden Materie; setzt man nun auch die Elektrode b mit dem negativen Pol in Verbindung, so sieht man den Lichtstreifen df infolge der von b ausgehenden Abstoßung nach dg sich zurückbiegen, und der von b ausstrahlende Lichtstreifen, welcher für sich nach ef gegangen wäre, wird nach eh abgelenkt. Läßt man ein Bündel negativer Strahlen an einem zweiten drahtförmigen negativen Pol nahe vorübergehen, so erleidet es in der Nähe dieses Drahtes eine plötzliche Knickung, nach welcher es in der neuen Richtung wieder geradlinig weitergeht. – Ein Körper, der von strahlender Materie getroffen wird, erwärmt sich; die Wucht der gehemmten Bewegung verwandelt sich in Wärme. Die Strahlen, welche in der Röhre (Fig. 13a) von dem schalenförmigen negativen Pol ausgehen, vereinigen sich in einem Brennpunkt, welcher durch einen von außen genäherten Magnet nach der Glaswand hinübergezogen wird (Fig. 13b); das Glas wird heiß an dieser Stelle, beginnt zu zerspringen, indem sich Risse sternförmig um den erhitzten Mittelpunkt bilden, endlich wird das Glas weich, und der Druck der äußern Luft drückt es einwärts. In der Glaskugel (Fig. 14) ist im Brennpunkt des schalenförmigen negativen Pols (a) ein Stück Iridio-Platin (b) angebracht, welches durch die gesammelten Strahlen bis zur Weißglut erhitzt und schließlich geschmolzen wird.

Die Erscheinungen des negativen Lichts entwickeln [32] sich am vollkommensten bei einem gewissen Grade der Verdünnung, etwa bei einem Druck von ein Milliontel Atmosphäre; darüber hinaus werden sie schwächer, und in einem völlig leeren Raum geht gar keine Elektrizität über. An der Röhre (Fig. 15) ist an einem Ende noch ein kleines Hilfsröhrchen k

Fig. 13. Fig. 14.

angeschmolzen, welches Stückchen von kaustischem Kali (Kaliumhydroxyd) enthält; füllt man die Röhre mit Kohlensäuregas und pumpt sie möglichst leer, so werden die letzten, durch die Luftpumpe nicht entfernbaren

Fig. 15.

Reste der Kohlensäure von dem Kali verschluckt; alsdann befinden sich zwischen den Polen n und p gar keine Stoffteile mehr, welche die Leitung vermitteln könnten, die Elektrizität geht nicht über, und die Röhre bleibt dunkel. Erwärmt man jetzt das Kali ein wenig, so entwickelt sich ein wenig Wasserdampf aus denselben, und nun erscheint zuerst der negative Lichtstrom und die durch ihn hervorgerufene grüne Phosphoreszenz des Glases, bei weiterm Erwärmen sieht man auch den positiven Lichtstrom mit seinen Schichtungen auftreten und sich immer weiter gegen die negative Elektrode hin ausbreiten.

Bei den geschilderten Erscheinungen der elektrischen Entladung in verdünnten Gasen fällt vor allem die Thatsache auf, daß die Vorgänge am positiven und am negativen Pol so durchaus voneinander verschieden sind. Dieser Unterschied findet durch folgende Betrachtung seine Erklärung. Es ist bekannt, daß jeder von Luft umgebene Körper sich mit einer Luftschicht bedeckt, welche vermöge der zwischen seinen Teilchen und denjenigen der Luft bestehenden Anziehungskraft fest an ihm haftet. Von solchen verdichteten Gasschichten sind demnach auch die metallischen Pole, welche in die Glasröhre hineinragen, überzogen. Wird ein Pol elektrisch, z. B. negativ elektrisch, gemacht, so geht seine Elektrizität auch auf die Teilchen seiner Gashülle über, und diese werden von dem Pol fortgeschleudert, sobald die elektrische Abstoßung groß genug geworden ist, um jene Anziehungskraft zu überwinden. Nun ist ferner bekannt, daß bei dem Zerreißen von Körpern, z. B. bei dem Zerstäuben des Wassers, Elektrizität entwickelt wird; Volta hat z. B. gefunden, daß der unter einem Wasserfall sich erhebende Wasserstaub negativ elektrisch ist. Nehmen wir daher an, daß auch die von den elektrischen Polen sich losreißenden Teilchen durch diesen Vorgang negativ elektrisch werden, so müssen die vom negativen Pol abgestoßenen Teilchen zu der vom Pol aufgenommenen negativen Elektrizität noch die im Augenblick des Losreißens entwickelte negative Elektrizität hinzu gewinnen und daher stärker negativ elektrisch sein, als sie es durch bloße Mitteilung der Elektrizität von seiten des Pols sein würden. Die am positiven Pol positiv elektrisierten Teilchen dagegen müssen, weil die beim Losreißen entstandene negative Elektrizität ihre positive teilweise aufhebt, schwächer positiv sein, als es bei bloßer Mitteilung der Fall sein würde. Am negativen Pol erfahren daher die Gasmoleküle eine kräftigere Abstoßung und fliegen mit größerer Wucht davon als am positiven. Vermöge ihrer beträchtlichen Wucht sind sie bestrebt, störenden Einflüssen gegenüber ihre geradlinige Bahn zu behaupten, und diese Wucht befähigt sie auch, beim Stoß gegen feste Körper Bewegung, Licht und Wärme hervorzurufen, Wirkungen, zu welchen die geringere Wucht der am positiven Pol abgestoßenen Teilchen nicht ausreicht.

Es bleibt nun noch die Frage zu beantworten, warum die elektrische Entladung in einem stark verdünnten Gas so ganz anders vor sich zu gehen scheint als in einem mäßig verdünnten Gas. Die Antwort auf diese Frage wird in dem Wesen des luftförmigen Zustandes zu suchen sein. Man denkt sich die Gase bekanntlich (s. Wärme) aus sehr kleinen Teilchen oder Molekülen bestehend, welche unter sich keinen Zusammenhang haben, sondern den Raum völlig frei nach den verschiedensten Richtungen mit großer Geschwindigkeit durchfliegen, indem sie unzählige Male miteinander und mit entgegenstehenden Hindernissen zusammenstoßen und wie elastische Bälle zurückprallen. In einem Gas von gewöhnlicher Dichte, z. B. in der atmosphärischen Luft, bilden die Moleküle gleichsam ein wimmelndes Gedränge, in welchem das einzelne Molekül nach jedem Schritte durch andre, welche ihm entgegenkommen oder seinen Weg kreuzen, zurückgeworfen und genötigt wird, einen andern Weg einzuschlagen, so daß es nicht im stande ist, sich eine erhebliche Strecke weit geradlinig fortzubewegen, sondern eine vielfach verschlungene zickzackförmige Bahn durchlaufen muß. Wenn man aber das in einem Gefäß enthaltene Gas durch Auspumpen verdünnt, so lichtet sich das Gedränge der Moleküle, und der freie Weg, welchen jedes geradlinig durchlaufen kann, ohne mit andern zusammenzustoßen, wird durchschnittlich immer größer. Die am negativen Pol kräftig abgestoßenen Moleküle werden die ihnen hier senkrecht zur Polfläche erteilte geradlinige Bewegung um so weiter fortsetzen und in um so größerer Entfernung erst mit begegnenden Molekülen zusammenstoßen, je verdünnter das Gas ist; beim Zusammenstoß wird ein Teil der Wucht ihrer fortschreitenden Bewegung verbraucht, um Schwingungen innerhalb der Moleküle hervorzurufen, infolge deren sie mit der dem Gas eigentümlichen Farbe leuchten; vor dem Zusammenstoß leuchten sie nur wenig oder gar nicht, der von ihnen frei durchlaufene Raum erscheint daher dunkel. Der dunkle Raum um den negativen Pol ist daher nichts andres (nach Crookes) als die mittlere freie Weglänge in dem verdünnten Gas. An seiner Grenze, wo die [33] Moleküle im Zusammenprall mit andern leuchtend werden, beginnt das sogen. positive Licht; die gestoßenen Moleküle prallen zurück und durchlaufen, ehe sie mit entgegenkommenden zusammentreffen, unter nur schwacher Lichtentwickelung von neuem einen der freien Weglänge entsprechenden dunkeln Raum, an dessen Grenze sie beim Zusammenstoß wieder hell aufleuchten; so bildet sich der aus abwechselnd hellen und dunkeln Schichten bestehende positive Lichtstrang. Dieser kann sich aber nicht mehr bilden, wenn die Verdünnung so weit fortgeschritten ist, daß die freie Weglänge sich bis zum positiven Pol oder darüber hinaus erstreckt oder gar die Größe des Gefäßes übertrifft; jetzt schießen die am negativen Pol fortgeschleuderten Moleküle geradlinig dahin, unbekümmert um die Lage des positiven Pols, bis zur gegenüberliegenden Gefäßwand, und erregen durch ihre Stöße die Moleküle des Glases zu phosphorischem Leuchten. In einem bis zu diesem Grad verdünnten Gas ist die Materie in einen Zustand versetzt, welcher von dem gewöhnlichen Gaszustand so verschieden ist, daß Crookes glaubte, denselben als vierten Aggregatzustand, als den strahlenden Zustand der Materie (strahlende Materie), bezeichnen zu müssen.