MKL1888:Flecht- und Webekunst

Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Flecht- und Webekunst“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 19 (Supplement, 1892), Seite 312
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Flecht- und Webekunst. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 19, Seite 312. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Flecht-_und_Webekunst (Version vom 13.04.2024)

[312] Flecht- und Webekunst. (Prähistorisches.) Daß die Anfänge der F. sehr weit in die Vergangenheit zurückdatieren, ist zweifellos. Das Bedürfnis des Bindens, Zusammenheftens, Befestigens ist eins der ursprünglichsten; auch mußte das natürliche Geflecht der Bäume und Sträucher der Thätigkeit des Menschen hierbei zum Vorbild dienen, während Halme der stärkern Grasarten, der Bast gewisser Bäume, zerfaserte Tiersehnen, Darmstreifen, zu Riemen geschnittene Tierfelle und andre Substanzen sich dem vorgeschichtlichen Menschen als Bindemittel, bez. als Stoff zur Herstellung von Geweben darboten. Aus gewissen an Geräten des diluvialen Menschen sich findenden Verzierungen, deren Motive der textilen Kunst entnommen sein sollen, wird vielfach gefolgert, daß bereits dem Höhlenbewohner der Diluvialzeit die Anfänge der textilen Künste: das Drehen eines Fadens oder einer Schnur und die Grundzüge der Flechttechnik bekannt waren. Anderseits beweisen die in Fundstätten der jüngern Steinzeit (neolithische Periode) aufgefundenen Geräte, Gewebereste u. dgl., daß während dieser prähistorischen Epoche die F. schon sehr bedeutende Fortschritte gemacht hatte. So wurden z. B. in den Höhlen der Fränkischen Schweiz aus Knochen hergestellte, zur Weberei und zum Netzstricken dienende Geräte (Weberschiffchen, Häkelnadeln u. dgl.) angetroffen. Die reichste Ausbeute an Geräten und Erzeugnissen der vorgeschichtlichen F. haben die jungsteinzeltlichen Pfahlbauten der Schweiz, insbesondere die Stationen Robenhausen, Wangen u. a., ergeben. Die daselbst aufgefundenen Reste von unbearbeitetem Flachs werden von Heer dem Linum angustifolium zugeschrieben, einer perennierenden Pflanze, die sich von dem gewöhnlichen Lein (Linum usitatissimum) durch geringere Länge, aber größere Feinheit der Faser unterscheidet. Zu Robenhausen wurden neben dem in Stengeln aufgefundenen unbearbeiteten Flachs roher Flachs in Bündeln, Stränge von diesem Stoff nebeneinander gelegt und von ähnlichen Strängen umschlungen und zusammengehalten, ferner Bündel von einfachem Garn sowie stärkere, aus zwei oder mehreren Teilen zusammengedrehte Fäden und Stricke bis zur Dicke eines halben Zolles angetroffen. Von den Geflechten sind die einfachsten die Netze; die Gewebe sind von größerer oder geringerer Feinheit und offenbar mit Hilfe eines Apparats hergestellt, welcher aus einem Rahmen zum Aufspannen von Langfäden und einer Vorrichtung zum Durchziehen von Querfäden bestanden hat. Die Zahl der Fäden, welche auf einen Quadratzoll des Gewebes kommt, sowie die Dicke derselben ist bei verschiedenen Geweberesten verschieden. Bei einigen Gewebefragmenten hat offenbar eine Imprägnierung der Gewebsmaschen stattgefunden. Neben einfachern Geweben haben die zu Robenhausen gemachten Ausgrabungen solche mit Fransen sowie solche mit sogen. Quastenfransen, ferner façonniertes und Dickstoffgewebe sowie Bandgewebe zu Tage gefördert. Ebenso wie aus den Pfahlbauten aus der Faser des Flachses hergestellte Gewebe erhalten wurden, haben gewisse in bronzezeitlichen Gräbern aufgefundene Bekleidungsgegenstände (so z. B. die aus den Treenhoi- und Borum-Eshoi-Grabhügeln in Jütland zu Tage geförderten Gewänder und sonstigen Kleidungsstücke) den Beweis geliefert, daß man sich während des durch die Bearbeitung der Bronze charakterisierten Abschnittes der Prähistorie auf die Verarbeitung der Wollfaser zu Geweben sehr wohl verstanden hat. Buschan bemerkt, daß die ältesten Gewebe, die wir (abgesehen von denen aus den süddeutsch-schweizerischen Pfahlbauten) aus dem Bereich des heutigen Deutschland kennen, den Moorfunden der nordischen Bronzezeit entstammen. Er gelangt zu folgenden Schlüssen: 1) In der prähistorischen Zeit Deutschlands wurden Wolle (meistens Schafwolle) und Flachs zu Geweben verarbeitet, dagegen kein Hanf. 2) Die Anfertigung der Gewebe aus Wolle ging in Deutschland derjenigen von Flachs voraus. In der nordischen Bronzezeit finden sich ausschließlich wollene Gewebe, in der Eisenzeit neben wollenen auch solche aus Leinen, speziell im Anfang der nordischen Eisenzeit nur Wolle. 3) Die Wolle der in prähistorischer Zeit gezüchteten Schafe war eine dunkle, keine weiße. 4) Die größte Anzahl der Stoffe ist Köper, nie finden wir atlasartige Gewebe. Daß sich mit außerordentlich einfachen Vorrichtungen sehr gute und verschiedenartige Gewebe herstellen lassen, lehren uns die gegenwärtig noch in Arabien, Persien, Indien etc. gebräuchlichen Apparate sowie jene, welche auf aztekischen Gemälden Mexikos zur Darstellung gebracht sind. Auch besitzen wir von den Altägyptern nicht nur in den Mumiengewändern die thatsächlichen Beweise ihrer Leistungen auf diesem Gebiet, sondern es sind uns auch auf den Denkmälern Altägyptens Darstellungen des ganzen Herganges der Flachszubereitung und -Verarbeitung, des Hechelns, Spinnens, Zwirnens etc. erhalten worden. Was speziell das Spinnen in vorgeschichtlicher Zeit anlangt, so war die in früher Zeit erfundene, jetzt in Vergessenheit geratene Kunst des Handspinnens damals weit verbreitet. Die Technik des Spinnens wird uns ebenfalls auf den altägyptischen Denkmälern vor Augen geführt. Die ägyptischen Spindeln sind meist von ansehnlicher Größe und in der Regel aus Holz hergestellt. Zur Erhöhung der Drehkraft derselben war der an der Spindel befindliche scheibenförmige Kopf nicht selten aus Gips oder Metall hergestellt; in andern Fällen, bez. bei andern Völkern wurde der besagte Zweck dadurch erreicht, daß man einen jener thönernen Spinnwirtel, wie sie in vor- und frühgeschichtlicher Zeit im allgemeinen Gebrauch waren, an die Spindel steckte.