Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Estienne“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 5 (1886), Seite 872873
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Estienne. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 5, Seite 872–873. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Estienne (Version vom 11.04.2021)

[872] Estienne (Etienne, gewöhnlich lat. Stephanus), berühmte franz. Buchdrucker- und Gelehrtenfamilie, deren namhaftesten Glieder folgende sind:

1) Henri I., geboren um 1460 in der Provence aus edler Familie, wurde enterbt, weil er sich der Buchdruckerkunst widmete, errichtete 1501 in Paris mit Wolfgang Hopyl eine Druckerei und starb 1520.

2) Robert, Sohn des vorigen, geb. 1503 zu Paris, studierte die alten Sprachen, arbeitete nach dem Tode des Vaters gemeinschaftlich mit seinem Stiefvater Simon de Colines, begründete 1526 eine eigne Druckerei, wurde 1539 von Franz I. zum Typographus regius für das Hebräische, Griechische und Lateinische ernannt, siedelte, um den bedrohlichen Angriffen der Theologen wegen seiner Verbreitung unliebsamer Bücher, besonders der Bibel, zu entgehen, 1551 nach Genf über, wo er zur reformierten Kirche übertrat, und starb 7. Sept. 1559 daselbst. In seinem Haus wurde schließlich sogar von der Dienerschaft lateinisch gesprochen. Seine Drucke (man zählt 382), welche namentlich die ganze Bibel wie das Neue Testament in den verschiedenen Sprachen, griechische und besonders römische Klassiker, meist von ihm selbst mit Vorreden und Noten versehen, Grammatiken, Schulbücher etc., aber auch die Schriften der Schweizer Reformatoren umfaßten, wurden wegen ihrer Schönheit und sprichwörtlichen Korrektheit selbst denen seines Sohns Heinrich vorgezogen. Franz I. ließ für ihn die berühmten characteres regii gießen. Als Autor ist E. besonders durch den unter Beihilfe von Jean Thierry de Beauvais verfaßten „Thesaurus linguae latinae“ (Par. 1531, 2 Bde., u. öfter; zuletzt Basel 1740, 4 Bde.) bekannt. Vgl. Crapelet, Rob. E., imprimeur royal (Par. 1839).

3) Charles, Bruder des vorigen, geb. 1504, studierte Medizin, übernahm bei der Übersiedelung Roberts nach Genf dessen Pariser Druckerei, geriet aber in Schulden und starb 1564 im Gefängnis. Er verfaßte: „Dictionnaire historique et poétique“ (1553) und „Praedium rusticum“ (1554).

4) Henri II., Sohn von E. 2, geb. 1528 zu Paris, durch die trefflichsten Lehrer gebildet, siedelte 1551 mit dem Vater nach Genf über, zunächst als Korrektor in dessen Druckerei, edierte seit 1554 selbständige Werke, begründete 1557 eine eigne Druckerei in Genf mit Unterstützung von Huldrich Fugger aus Augsburg, weshalb er sich diesem zu Ehren bis 1568 häufig auf den Titeln als dessen typographus bezeichnet, vereinigte aber 1559 dieselbe mit dem Geschäft seines Vaters und lebte nun diesem und den Wissenschaften. Schon 1547–49 und 1556–57 war er in Italien, 1550–51 in England und den spanischen Niederlanden, von Genf aus auch öfters in Frankreich, später besonders in Deutschland, für dessen Gelehrte er eine besondere Vorliebe hatte, so regelmäßig zur Messe in Frankfurt a. M. Als jedoch der „Thesaurus linguae graecae“ einen großen Teil seines Vermögens verbraucht hatte, ein entsprechender Absatz sich nicht fand, weil sein Korrektor Joh. Scapula hinterlistig einen handlichen und billigen Auszug desselben veröffentlicht hatte, noch dazu seine zweite Frau, die treffliche Barbe de Wille, starb (1581), bemächtigte sich seiner mit dem allmählichen Ruin des Geschäfts eine unstete Ruhelosigkeit. Er erkrankte [873] auf einer Reise in Lyon und starb dort Anfang März 1598 im Spital unter Spuren völliger Geisteszerrüttung. E. besaß eine seltene Kenntnis des Griechischen. Seine Ausgaben, darunter nahe an 30 editiones principes, umfassen fast die gesamte griechische Litteratur. Ausgezeichnet durch umfangreiche Benutzung von Handschriften und allerdings oft zu weit gehende Konjekturalkritik, sind sie zum Teil bis in die neuere Zeit die Grundlage des Textes geblieben. Seine lateinischen Ausgaben treten an Zahl und Bedeutung dahinter zurück. Sein Hauptwerk ist der schon von seinem Vater vorbereitete „Thesaurus linguae graecae“ (Genf 1572, 5 Bde.; 2. Ausg., Lond. 1815–25, 8 Bde.; 3. Ausg. von Hase, W. und L. Dindorf, Fix, v. Sinner, Par. 1831–65, 9 Bde.). Auch in seiner Muttersprache zeichnete er sich als eleganter Schriftsteller aus; wir nennen: „Traité de la conformité du langage français avec le grec“ (1565); „L’introduction au Traité de la conformité des merveilles anciennes avec les modernes, ou Traité préparatif à l’Apologie pour Hérodote“ (1566); „Discours mervellieux de la vie, actions et départements de Catherine de Médicis“ (1575). Seine lateinischen und griechischen Poesien hat er meist auf seinen Reisen zu Pferde sitzend niedergeschrieben. Vgl. Feugère, Essai sur la vie et les ouvrages de Henri E. (Par. 1853); Grautoff, Henricus Stephanus (Programm, Glogau 1862).

5) Paul, Sohn des vorigen, geb. 1566 zu Genf, übernahm 1598 das väterliche Geschäft, druckte sehr geschätzte Ausgaben des Euripides (1602) und Sophokles (1603), mußte aber 1605, politischer Umtriebe verdächtig, aus Genf fliehen und starb um 1627.

6) Antoine, ältester Sohn des vorigen, geboren im Juni 1592 zu Genf, wirkte seit 1618 als Buchdrucker zu Paris, ward 1623 Buchdrucker des Königs, druckte besonders für die Oratorianer, so den Chrysostomos, die Septuaginta u. a., und starb verarmt und erblindet 1674 im Hôtel-Dieu zu Paris. Er ist der letzte berühmte Buchdrucker der Familie; diese selbst starb erst in der Mitte des vorigen Jahrhunderts aus. Vgl. Renouard, Annales de l’imprimerie des E. (2. Aufl., Par. 1843, 2 Bde.); Dupont, Histoire de l’imprimerie (das. 1854, 2 Bde.); Bernard, Les E. et les types grecs de François I (das. 1856).