Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
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Band 5 (1886), Seite 834837
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Erziehung. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 5, Seite 834–837. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Erziehung (Version vom 21.03.2023)

[834] Erziehung, der Abstammung des Wortes und dem allgemeinen Sprachgebrauch wie dem lateinischen educare nach, dessen wörtliche Übersetzung es ist, das „Emporziehen“ der Unmündigen durch die mündigen Erwachsenen. Man versteht demgemäß unter E. die absichtliche und planmäßige Einwirkung der Erwachsenen auf die Unmündigen, welche den natürlichen Vorgang des Erwachsens begleitet und wie dieser in der natürlichen Reife, so ihrerseits in der geistigen Mündigkeit der Erzogenen ihren Zielpunkt findet. Fast ganz fällt der Begriff der E. mit dem der Bildung zusammen; nur sind die zu Grunde liegenden bildlichen Anschauungen verschiedene und ist der Begriff der Bildung insofern näher bestimmt, als derselbe das Bewußtsein eines Ideals voraussetzt, nach welchem der Bildner den noch gestaltlosen Stoff des zu bildenden Menschen zu formen sich bemüht. Nimmt man auch den Begriff der E. in diesem bestimmtern Sinn, so kann man mit Herbart sagen, daß derselben die Ethik das Ziel, die Psychologie den Weg weise. Ebenso ist es unbestreitbar, daß dem Geschäfte der E. die Annahme der Erziehungsbedürftigkeit und der Erziehungsfähigkeit der Kinder zu Grunde liegt. Allein in der Wirklichkeit nimmt die E. nicht von derartigen theoretischen Voraussetzungen ihren Ausgang, sondern von dem natürlichen Trieb der Eltern, namentlich der Mutter, für das hilflose Kind zu sorgen und es mit dem Erstarken an Körper und Geist allmählich zur selbstthätigen Mitarbeit an seiner Erhaltung zu befähigen. Diese durch die Nötigung des Lebens unmittelbar bedingte Thätigkeit geht naturgemäß mit dem Heranwachsen des Kindes in das Bestreben über, die Kinder zu Gehilfen in der häuslichen Arbeit und im Beruf der Eltern zu befähigen oder, wenn in der häuslichen Gemeinschaft für erwachsene Gehilfen kein Raum ist, ihnen die Möglichkeit des demnächstigen eignen Fortkommens durch Ausbildung ihrer Fähigkeiten zu gewähren. Mit dem Fortschreiten der E. scheidet sich dieselbe naturgemäß in die beiden Richtungen der leiblichen und der geistigen E. und diese wieder in unmittelbare E. durch Zwang, Anleitung und Gewöhnung im praktischen Verhalten (E. im engern Sinn; Zucht) und in mittelbare E. durch Belehrung und Unterricht. Neben beiden unterscheidet Herbart noch die Regierung der kleinen Kinder als den gemeinsamen Stamm, aus dem jene erwachsen, da in dem unmündigen Alter der ersten Kindheit nach ihm von eigentlicher E., d. h. von geistiger Einwirkung, noch kaum die Rede sein kann. Dieser Unterscheidung liegt ein richtiger Gedanke zu Grunde; allein sie ist doch nicht unbedenklich, wenn unter Regierung etwas von der Zucht wesentlich Verschiedenes verstanden werden soll. Die E. beginnt mit dem Eintritt des Kindes in das Leben; sie soll mit der Mündigkeit des erwachsenen Menschen schließen. Zu später Beginn der erziehenden Thätigkeit beruht auf Sorglosigkeit der Eltern und läßt bei den Kindern leicht eine falsche Freiheit und verfrühte Selbständigkeit entstehen, deren nachträgliche Bekämpfung selten ganz gelingt. Zu weite Ausdehnung der erziehenden Fürsorge, mag sie auf Selbstsucht oder auf übertriebener Zärtlichkeit der Erzieher beruhen, schädigt dagegen die Freiheit des Erzogenen, die dabei entweder verkümmert, oder sich dagegen auflehnt. Bei reicherer Gestaltung des Lebens und seiner Anforderungen an den Einzelnen kann die E., namentlich die mittelbare E. durch Unterricht, von den natürlichen Erziehern in der Familie nicht mehr allein beschafft werden; das Bedürfnis drängt zu besondern Veranstaltungen für den Unterricht der Jugend. Daraus entsteht der Unterschied der häuslichen und der Schulerziehung. Beide pflegen unter regelrechten Verhältnissen ergänzend nebeneinander herzugehen; doch rechtfertigen außergewöhnliche Umstände auch die Verlegung der ganzen E. oder wenigstens des wesentlichsten Teils derselben in die Schulanstalten (Anstaltserziehung, Alumnate) oder umgekehrt die Verlegung der Schule ins Haus (E. durch Hofmeister, Hauslehrer, Erzieherinnen etc.). Wenn auch noch nach dem Zweck die E. für die Familie, die Gesellschaft, den Staat und die Kirche unterschieden wird, so hat doch nur falsche Einseitigkeit diese Richtungen in Gegensatz zu einander bringen können, während gesunde E. bemüht sein wird, dieselben zu vereinigen und den Zögling fürs Leben, so wie es in seiner Gesamtheit sich ihm voraussichtlich bieten wird, vorzubilden. Dasselbe gilt von der allgemein menschlichen und der Berufs- und Standesbildung, zwischen denen, wo beide recht aufgefaßt werden, kein Widerspruch (wie Rousseau annahm), sondern eine natürliche Wechselbeziehung besteht.

Die Wissenschaft von der E. ward zuerst bei den Griechen gepflegt und wird daher gewöhnlich griechisch als Pädagogik (s. d.) bezeichnet. Ihre Geschichte hat, wenn auch beide nicht zusammenfallen, viele Punkte gemein mit derjenigen der E. selbst. Zur Ergänzung der nachfolgenden Skizze der Geschichte der E. ist daher auf den Artikel „Pädagogik“ zu verweisen.

[835]
Geschichtliches.

Als die älteste, urwüchsige Gestalt der E. tritt uns in der Geschichte der Menschheit die patriarchalische E. entgegen, wie sie die Genesis schildert, und wie sie noch heute in den Sippen der Nomadenvölker zu beobachten ist. Die E. ist hier reine Familiensache und besteht lediglich in der Anweisung der Jüngern zur Teilnahme an dem durch einfache natürliche Bedingungen und feststehendes Herkommen geregelten Leben des ältern Geschlechts. Von der E. durch Unterricht zeigen sich kaum die bescheidensten Anfänge. Wo sich die Familien zu Gemeinden und demnächst zu Völkern entwickeln oder zusammenschließen, gewinnt die Volkssitte und die Verfassung der Gemeinde oder des Staats Einfluß auf die E., die damit aus den engen Schranken des Hauses teilweise heraustritt und sich je nach der Eigentümlichkeit der einzelnen Völker verschieden gestaltet.

Wenig Charakteristisches läßt sich in dieser Beziehung von denjenigen Völkern sagen, welche schon vor den Griechen auf den Schauplatz der Geschichte traten oder wenigstens unabhängig von der hellenischen Bildung ihr Volksleben in staatliche Ordnung verfaßten. Wenn es auch bei Chinesen, Indern, Ägyptern an interessanten einzelnen Zügen nicht fehlt, so sind doch die geistigen Anlagen dieser Völker so früh in die Fesseln starrer Gesetzlichkeit, namentlich durch das Kastenwesen, geschlagen, daß von lebendiger Entfaltung ihrer geistigen Eigenart kaum die Rede sein kann. Unter den Völkern Vorderasiens, mit denen die Griechen in Verkehr standen, erwecken die Perser durch das, was von der E. ihrer Jugend zur mannhaften Tüchtigkeit im Rat wie im Krieg, zur Wachsamkeit, Nüchternheit, Wahrhaftigkeit berichtet wird, besondere Aufmerksamkeit. Allein die Berichte Herodots, Xenophons u. a. sind nur kurz und teilweise von dem Wunsch beeinflußt, den eignen Volksgenossen einen Spiegel vorzuhalten. Auch hielten die Perser ihr arisches Volkstum nicht fest, als sie die Herrschaft in Asien erlangt hatten. Obgleich in vielen einzelnen Richtungen von diesen und andern morgenländischen Vorgängern beeinflußt, zeigen die Hellenen von vornherein ausgeprägte Eigenart auch auf dem Boden der E. Diese Eigenart kündigt sich schon in der noch fast ganz patriarchalischen E. während der alten Heldenzeit an, die uns die Homerischen Gedichte schildern. Die Wertschätzung körperlicher Gewandtheit und Anmut sowie der Kunstübung in Gesang, Saitenspiel, Bildnerei, bei den Weibern auch der Weberei, ist neben dem verhältnismäßig reichen Schatz ererbter Lebensweisheit für Haus und Markt und Krieg bezeichnend, und in wenigen Jahrhunderten treiben diese Keime bis zur schönsten Blüte empor. Besonders wirkte dazu in den Jahrhunderten vor dem Höhepunkt des staatlichen Lebens in Griechenland (800–500 v. Chr.) die reiche Entfaltung des gottesdienstlichen Lebens mit, an dem der heranblühenden Jugend, den Epheben, in den öffentlichen Aufzügen mit Gesang und Tanz ein wesentlicher Anteil zufiel. Die beiden Grundrichtungen der gymnastischen und der musischen E. haben hierin ihre Quelle, wenn sie auch erst unter dem Einfluß des erwachenden staatlichen Bewußtseins zur vollen Ausprägung gelangten. Übrigens blieb die E. der Kinder, auch der Knaben, in ganz Griechenland unmittelbar der Familie überlassen; nur in dem dorischen Sparta, dem hierin die übrigen stammverwandten Staaten nur teilweise folgten, nahm der Staat das Geschäft der E. vom siebenten Lebensjahr an unmittelbar in die Hand und ließ dieselbe durch den Pädonomos in kriegerischer Strenge ausführen. Die einzelnen Züge der spartanischen E., wie man sie gewöhnlich an den Namen des Lykurg knüpft, dürfen als bekannt vorausgesetzt werden. Sie erstreckte sich auch auf die weibliche Jugend, die demgemäß neben dem Rufe fast männlicher Tapferkeit auch den der Derbheit in sittlicher Hinsicht genoß. In Athen und ähnlich in den übrigen ionischen Städten überwog früh schon das musische und geistige Element in der E. Der Wert sorgfältiger E. stand bei den Athenern hoch. Das Gesetz des Solon sprach den Sohn, dessen E. vernachlässigt war, von der Pflicht der Erhaltung der alternden Eltern frei. Früh schon finden wir in Athen Schulen, wie denn alte Sagen Homer und Tyrtäos als attische Schulmeister bezeichnen. Nach den Perserkriegen breiteten sich, wenn auch ohne staatlichen Zwang, öffentliche Palästren (Ringschulen) für die Knaben und Gymnasien (Turnplätze u. Turnhallen) für die Epheben nach spartanischem Muster auch in Athen und den übrigen griechischen Staaten aus, so daß diese Sammelplätze der jungen Welt bald das volkstümliche Merkmal aller unter den Barbaren zerstreuten griechischen Städte wurden. Gleichzeitig erweiterte sich die bis dahin auf die einfachsten Grundlagen beschränkte geistige Ausbildung durch die Bestrebungen der Sophisten, Philosophen, Rhetoren zu dem, was seit Platon, dem Schüler des Sokrates, als allgemeine Bildung (enkyklios paideia) bezeichnet und später in der römischen Welt in die sieben freien Künste gegliedert wurde. Die enge Verbindung und glückliche gegenseitige Ergänzung der geistigen und der leiblichen Ausbildung ist aus den Platonischen Gesprächen zu ersehen, die, wie die gesamte griechische Litteratur, von den glänzenden Ergebnissen der hellenischen, namentlich der attischen, E. rühmlich zeugen. Aber freilich hatten auch schon Sokrates, Platon, Aristoteles vielfach die eingetretene Überfeinerung zu tadeln, und die Klage, daß die neuere Art der E. die Jugend den Göttern des Staats und damit den festen Grundlagen des Volkslebens entfremde, war, wenn sie auch gerade Sokrates mit Unrecht traf, an sich begründet. Die Vernachlässigung der weiblichen Jugend und die unbedingte Ausschließung nicht bloß der zahlreichen Sklaven, sondern auch der ärmern, auf Handwerk und Handarbeit angewiesenen Bevölkerung vom Unterricht bezeichnen bedenkliche Schranken der hellenischen E.; als der häßlichste Fleck derselben muß die widernatürliche Entartung der aus einer schönen Anlage der Griechen für die Freundschaft entsprungenen und von edlern Männern, wie Sokrates, noch immer ideal und rein aufgefaßten Knabenliebe erwähnt werden.

Bei den Römern war von Haus aus das Leben des Hauses weit fester in sich abgeschlossen und daher auch die E. mehr in die Grenzen des Hauses gebannt, wo neben dem streng herrschenden Vater namentlich auch die Mutter maßgebenden Einfluß übte. Sittlicher Ernst, altväterische Zucht und praktische Ausrüstung fürs Leben waren die leitenden Gesichtspunkte der altrömischen E. Daher ward hier neben Lesen und Schreiben Rechnen gelehrt und dies auch früh schon in Schulen. Die weitere Entwickelung des Staatslebens machte ferner kriegerische Vorbildung und demnächst auch eine gewisse Rücksicht auf die öffentlichen Geschäfte des Forums für die höhern Stände erforderlich. An diesem Punkt setzte der griechische Einfluß ein, der allmählich, nicht ohne Widerspruch und Widerstand der altrömischen Familien, in den höhern Ständen die Herrschaft gewann. Doch wurde die herkömmliche griechische Bildung bei ihrer Übertragung [836] nach Rom wesentlich verändert, indem das den Griechen tief eingewurzelte Streben nach schöner Darstellung sowohl in der Gymnastik als in der Musik den Römern meist fremd blieb, wogegen am Tiber Hingebung an den Staat, Wertschätzung geschichtlicher Überlieferungen, kurz die konservative und patriotische Seite, bevorzugte Pflege fanden. Als die Monarchie ihre büreaukratischen Formen zur Durchführung gebracht hatte, entwickelte sich, namentlich seit Hadrian, ein ziemlich ausgebreitetes staatliches Schulwesen, und jener Zeit gehört auch die Erstarrung der alten Schulwissenschaften in der Form der sieben freien Künste, des Triviums: Grammatik, Rhetorik, Dialektik, und des Quadriviums: Arithmetik, Geometrie (einschließlich Geographie), Musik, Astronomie, an, die den Zusammensturz der Alten Welt überdauert hat. Dieser Zusammensturz kündigte sich übrigens auch auf dem Gebiet der E. schon lange zuvor durch eine bedenkliche, von vielen ernstern Männern schwer empfundene Lockerung der Familienbande und Verweichlichung der Jugend an, die im schroffen Gegensatz zu der gerühmten Gravität der alten Römer und der freilich auch sagenhaft übertriebenen Sittenstrenge der alten Catone stand. Nie darf überdies bei der Würdigung dessen, was wir als antike E. kennen, vergessen werden, daß diese Art der E. nur dem kleinsten Teil der Bevölkerung zu teil wurde, indem auch bei den Römern vom Genuß derselben Sklaven und niederes Volk unbedingt und absichtlich ausgeschlossen waren. Nur wenige leise Anklänge an die Idee der allgemeinen menschlichen und Volkserziehung, wie sie der modernen Pädagogik zu Grunde liegt, finden sich im Altertum, namentlich bei den Stoikern und verwandten philosophischen Schulen.

Diese Idee trat als wirksamer Sauerteig durch das Christentum in die Alte Welt ein, war aber seit Jahrhunderten in der Entwickelung des Volkes Israel vorbereitet worden. Der feste Glaube an den einen lebendigen Gott, der Himmel und Erde geschaffen hat, beseelte dies Volk und begründete zugleich die Anschauung von der Einheit des menschlichen Geschlechts und der nur thatsächlich durch das verschiedene Maß der Erkenntnis Gottes beeinträchtigten Gleichberechtigung aller seiner Glieder. Der Vorzug der reinen Gotteserkenntnis, wie sie im mosaischen Gesetz klassischen Ausdruck gefunden hatte, legte freilich auch hier die Gefahr überhebender Abschließung nahe; aber einerseits liegt doch schon in dem reinern Begriff der Volksgemeinde, wie er hier waltete, ein großer Fortschritt, und anderseits fehlte gegenüber der gesetzlichen Engherzigkeit in den guten Tagen der israelitischen Geschichte nie die Gegenwirkung des freiern, weiter blickenden prophetischen Geistes, der sich namentlich in der Vorahnung einer bessern Zukunft äußerte, in der alle Menschen vom Geist Gottes beseelt und zu einem Volk Gottes vereint werden sollten. Zwischen diesen beiden Polen bewegt sich auch die israelitische E. Gerade als die buchstäbische Weisheit der Schriftgelehrten den edlern Geist der Prophetie ganz erdrückt zu haben schien, brach er in Jesus von Nazareth und seinem Jüngerkreis in seiner ganzen göttlichen Kraft hervor und erneuerte das gesamte Leben der Menschheit. Ausgehend vom Glauben an den gnädigen Gott, der will, daß allen Menschen geholfen werde und alle zur Erkenntnis der Wahrheit kommen sollen, erwacht nun die reine Menschenliebe und beweist sich namentlich auch in der Pflege der Kleinen und Unmündigen, deren besonderer Freund der große Meister war. Nun erst konnte die E. eine wahrhaft menschliche, naturgemäße werden. Allerdings prägen sich große Ideen nur langsam in dem zähen irdischen Stoff aus, und wir selbst stehen noch mitten in diesem allmählichen Vorgang. Aber doch ist schon ein großer Schritt auf der richtigen Bahn geschehen. Zunächst galt es nach dem Zusammenbruch der alten Bildung und Weltordnung, die empfänglichen und begabten, aber noch rohen und gewaltthätigen Germanen für die edlere Lebensansicht des Christentums und die höhere Bildung der alten Völker zu gewinnen. Die klösterliche und überhaupt die asketische E. der Mönche und Geistlichen in der katholischen Kirche hat in den Zeiten der Völkerwanderung und des frühern Mittelalters in dieser Richtung verdienstlich gewirkt, wenn auch in ihrer Grundidee schon eine Trübung der urchristlichen Lebensansicht liegt. Die kirchliche E. des Laienstandes in der Kirchenzucht und Beichtpraxis kann als eine weitere Ausstrahlung von demselben Kernpunkt aus betrachtet werden und teilt Vorzüge und Nachteile mit ihr; der wesentlichste Mangel beider ist die Gleichgültigkeit oder in vielen Fällen gar der Gegensatz zu dem vaterländischen Interesse. Dieses kam überhaupt im Mittelalter zu keiner rechten Geltung, indem selbst die weltlichen Formen der E. ihre Ideale mehr aus dem Leben, den Aufgaben, dem Herkommen einzelner Stände (Ritterstand, Zünfte etc.) als aus dem gemeinsamen Leben des Vaterlandes hernahmen. Am reinsten finden wir noch das patriotische Element in den mächtigen Städten entwickelt, die in der zweiten Hälfte dieses Zeitalters emporkamen, während der Ritterstand in dieser Hinsicht merkwürdige Gegensätze aufweist. Gegenüber dem Verfall aller mittelalterlichen Lebensverhältnisse predigte der Humanismus zuerst in Italien im 14. und 15. Jahrh., dann aber auch in Frankreich, Deutschland, England etc. die Rückkehr zu der edlen Menschlichkeit, wie sie im Altertum den Griechen und griechisch gebildeten Römern als Ziel der E. vorgeschwebt hatte. Vielfach unterschätzten seine Anhänger dem gegenüber den Wert des christlichen Erziehungsideals, bis dies in der deutschen Reformation in klassischer Reinheit wieder dargelegt ward. Beide Richtungen, nun miteinander im Bund, haben segensreich gewirkt. Aber die gelehrte E. an der Hand der Alten reichte nicht mehr aus, sobald die wissenschaftliche Erkenntnis über den von jenen erreichten Standpunkt hinauswuchs, und zugleich war durch die Reformation der echt christliche, vereinzelt, wie bei Karl d. Gr., auch im Mittelalter aufgetauchte Gedanke, daß die wesentlichen Grundlagen der E. allen Ständen und Stufen gemeinsam sein müssen, mit treibender Kraft wieder erweckt. So zeigt sich zunächst, schon seit der Reformation, in den evangelischen Staaten Deutschlands, allmählich, von da ausgehend, in allen gebildeten Völkern der Erde das Bestreben nach einer vernünftigen, planmäßigen Einrichtung der E. in ihren verschiedenen, durch die Mannigfaltigkeit des Lebens bedingten Richtungen und das steigende Bewußtsein von der Pflicht des Staats, die Segnungen einer vernünftigen E. dem ganzen Volk zugänglich zu machen. Die in ihren einzelnen Lehren wechselnden, aber doch innerlich zusammenhängenden Theorien, die seit J. A. Comenius (1591–1671), J. J. Rousseau (1712–78) und namentlich seit Joh. H. Pestalozzi (1746–1827) auf diesen Vorgang Einfluß gewonnen haben, berichtet die Geschichte der Pädagogik. Hier kann nur kurz darauf hingewiesen werden, wie in der Begründung einer allgemeinen Volksschule (zuerst in Deutschland und Skandinavien), in der Heranziehung des weiblichen Geschlechts zur öffentlichen E., in den besondern Veranstaltungen für die [837] E. Viersinniger (Blinde, Taubstumme), Schwachsinniger, Verlassener (Waisenhäuser), Verwahrloster (Rettungshäuser) ebenso viele wesentliche Fortschritte der öffentlichen E. liegen, und wie auch inhaltlich durch die sorgfältige Berücksichtigung des wirklichen Lebens, die Fürsorge für die Gesundheit (Schulhygieine) und für die körperliche E. (Turnen, Jugendspiele etc.) und durch verbesserte Methoden der Unterricht erheblich an erziehender Kraft gewonnen hat. Anderseits ist nicht zu verkennen, daß auch in Deutschland, dessen Führerschaft auf diesem Gebiet allgemein anerkannt ist, noch viele Fragen und Aufgaben der rechten Lösung harren.

Daß dem Staate die Leitung der öffentlichen E. gebühre, ist von der modernen Gesetzgebung einstimmig anerkannt. Die Kirchen haben weder die Macht, um die allgemein angenommenen Grundforderungen der öffentlichen E. zur festen Durchführung zu bringen, noch bieten sie hinreichende Bürgschaft einer nationalen E. Anderseits kann ohne die schwerste Schädigung auch des Staats die religiöse E. nicht zurückgesetzt werden. Die Kirchen müssen mitwirken. Aber die Grenze zwischen den beiderseitigen Pflichten und Rechten ist, namentlich gegenüber einer so geschlossenen Macht wie die römisch-katholische Kirche, schwer zu ziehen. – Kaum minder schwierig, wenn auch nicht ganz so tief eingreifend in das gesamte Leben des Volkes, ist die Frage nach dem rechten Verhältnis der höhern realistisch-technischen und humanistischen Bildung. – Wie weit die E. der Töchter mittlerer und höherer Stände sich zur Aufgabe setzen soll, diese ohne Rücksicht auf etwanige spätere Verheiratung erwerbsfähig zu machen, ist ebenfalls ein Gegenstand berechtigter Verhandlung. Daß in dieser Beziehung, namentlich in großen Städten, noch mehr geschehen muß, unterliegt kaum noch Zweifeln; aber anderseits soll auch nicht der nächste und natürlichste Gesichtspunkt der Mädchenerziehung verrückt und die Stellung des Weibes in der Familie verschoben werden. – Die rasch anwachsenden, immer vielseitigern Forderungen der Gegenwart legen auf allen Gebieten öffentlicher E. die Gefahr der Zerstreuung und der Überbürdung nahe. Wer beruflich mit der E. zu thun hat, darf sich dieser Thatsache nicht verschließen; aber die Frage muß auch von der andern Seite ohne Leidenschaft und mit der Anerkennung behandelt werden, daß die Schwierigkeit in der Sachlage und nicht etwa bloß in selbstsüchtigen Liebhabereien des Lehrstandes begründet ist.

Endlich wäre hier auf den Stand auch der häuslichen E. in unsrer Zeit einzugehen. Allein es liegt in der Natur der Sache, daß sich diese der Beobachtung und allgemeinen Beurteilung mehr entzieht als die öffentliche E. Trotz mancher Schäden, die das reich entwickelte, unruhige Leben der Gegenwart mit sich führt, ist doch wohl anzunehmen, daß auch in dies Gebiet der Fortschritt der pädagogischen Erkenntnis seine Segnungen mehr und mehr erstreckt und erstrecken wird. Je weniger genau aber hier der Stand der Sache festgestellt werden kann, desto mehr ist die Mahnung am Platz, daß jeder das Seine thue, damit neben der wehrhaften Kraft der Geist wahrer Frömmigkeit, echter Vaterlandsliebe, reiner, fester Sittlichkeit und tüchtiger Geistesbildung unserm Volk erhalten bleibe. Vgl. Grasberger, E. und Unterricht im klassischen Altertum (Würzb. 1864–81, 3 Bde.); Schmidt, Geschichte der E. (3. Aufl., Köthen 1876, 3 Bde.); Raumer, Geschichte der Pädagogik (4. Aufl., Gütersloh 1872–74, 4 Bde.); Heppe, Schulwesen des Mittelalters (Marb. 1860); Derselbe, Geschichte des deutschen Volksschulwesens (Gotha 1858–60, 5 Bde.); Schmid, Encyklopädie des gesamten Erziehungs- und Unterrichtswesens (2. Aufl., Gotha u. Leipz. 1876 ff.); Sander, Lexikon der Pädagogik (Leipz. 1883).