Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Erfrierung“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 5 (1886), Seite 774
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Erfrierung. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 5, Seite 774. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Erfrierung (Version vom 11.02.2023)

[774] Erfrierung (Congelatio). Die krankhaften Veränderungen, welche bei der andauernden Einwirkung höherer Kältegrade auf den tierischen und menschlichen Organismus an diesem hervorgerufen werden, sind teils nur örtlicher Natur, teils betreffen sie den Gesamtorganismus. Was die Einwirkung der Kälte auf den Gesamtorganismus anbetrifft, so kann dieselbe in kurzer Zeit den Tod herbeiführen. Völlig gesunde und kräftige Subjekte widerstehen der Kälte länger als schwächliche, noch nicht ausgewachsene, zarte Personen; es influieren hier auch diätetische und moralische Verhältnisse. Nordpolfahrer trotzten monatelang einer Kälte von 40–50° C. ohne großen Nachteil für ihre Mannschaft, während im Winter 1812 eine viel geringere Kälte eine unendlich große Zahl von Soldaten hinwegraffte. Hier wirkten Mutlosigkeit, Mangel an Nahrung, Ermüdung mit der Kälte zusammen. Bei bewegter Luft ist die Kälte viel eindringlicher und empfindlicher, daher schwerer zu ertragen als bei ruhiger. Bei recht nahrhafter, kräftiger Kost und hinreichenden Mengen und Auswahl von Spirituosen sowie bei genügender Bewegung erträgt der Mensch erstaunlich niedrige Temperaturgrade. Die allgemeinen Symptome, welche an Individuen, die einer sehr heftigen Kälte oder überhaupt der Gefahr zu erfrieren ausgesetzt sind, zuerst wahrgenommen werden, betreffen besonders die Sphäre des Nervensystems. Es entstehen Taubheit der Empfindung und alsbald völlige Gefühllosigkeit aller mit der Luft in Berührung stehenden Teile; alle Bewegungen werden mühsam und schwierig, die Augen schließen sich, und ein unwiderstehliches Bedürfnis zu schlafen tritt ein. Dasselbe ist so mächtig, daß sich die Unglücklichen selbst bei vollem Verständnis für die Gefahr, die ihrer wartet, wenn sie nicht durch fleißige Bewegung einen Rest von Wärme zu erhalten suchen, dennoch dem Schlaf überlassen. Sie erwachen dann in der Regel nicht mehr, wenn sie nicht bald und mit großer Vorsicht erweckt und behandelt werden. Die Ursache des Todes ist die Zurückdrängung des Bluts von der Körperoberfläche nach den innern Organen, besonders dem Gehirn, zu, so daß die Gefäße desselben stark mit Blut überfüllt werden und seröse Ausschwitzungen in die Hirnhöhlen und die Gehirnsubstanz eintreten. Die Erscheinungen an der Leiche gleichen sehr denen an Erstickten. Individuen, welche in Gefahr zu erfrieren sind und im Zustand des Scheintodes aufgefunden werden, müssen in kühlen Räumen verhalten und dürfen nur ganz allmählich in den Bereich einer wärmern Temperatur verbracht werden. Man bringe den durch Kälte Erstarrten in ein kaltes Zimmer, reibe ihn mit Schnee und Eis und setze ihn in ein kaltes Bad. Vorsicht ist übrigens nötig, damit die erstarrten Glieder nicht brechen. Fängt das Leben an zurückzukehren, läßt sich der Herzschlag hören, so beginnt man das Wasser allmählich lau zu machen, hält dem Kranken Salmiakgeist unter die Nase, bläst ihm vorsichtig Luft in dieselbe, reibt den Körper mit Terpentinöl oder Spiritus und gibt auch innerlich belebende Mittel, z. B. starken Wein und schwarzen Kaffee oder Hoffmannsche Tropfen, Schwefeläther u. dgl.

Die örtlichen Einwirkungen der Kälte sind je nach dem Temperaturgrad und der Dauer verschieden. Anfänglich erzeugt die Kälte, ehe sie noch Gefrieren, d. h. Erstarrung und Eisbildung, eines Teils hervorruft, Röte und Geschwulst desselben. Die Röte geht bald ins Blaue oder Violette über. Bei plötzlicher Einwirkung werden einzelne hervorragende Teile, z. B. Ohr, Nase, Wange, blaß, starr und steif. Zugleich entsteht ein heftiger Schmerz, obgleich eine Berührung gewöhnlich gar keine Empfindung veranlaßt. Später verschwindet die Schmerzhaftigkeit, es stellt sich vollständige Unempfindlichkeit ein, die Betreffenden ahnen oft gar nicht den Zustand ihrer Körperteile und werden erst durch andre Personen auf die Veränderung an denselben aufmerksam gemacht. Bei solcher heftigern Einwirkung der Kälte entstehen dann Blasen, entweder bald oder nach einiger Zeit, infolge der entzündlichen Reaktion, die sich nachher einstellt, und besonders dann sehr rasch, wenn man den Teil zu früh einer höhern Temperatur aussetzt. Ist die nachfolgende Entzündung nicht sehr heftig, so regeneriert sich die zur Blase emporgehobene Oberhaut ohne weiteres; ist sie aber bedeutender, dann entstehen Geschwüre mit jauchiger Absonderung, durch die an Händen und Füßen sogar die Knochen bloßgelegt werden können. Der höchste Grad der E. ist die entweder sogleich oder nach einer vorausgegangenen Entzündung entstehende Ertötung des Teils, die Verwandlung desselben in eine schwarze, harte, gefühllose Masse (Brand), die durch eine demarkierende Entzündung von dem Gesunden abgetrennt und schließlich vom Körper gänzlich abgestoßen wird. Auch bei der Behandlung örtlich erfrorner und durch Frost stark getroffener Teile ist die Anwendung der Kälte, das Reiben mit (schmelzendem) Schnee etc. das erste, was geschehen darf. Da im zweiten Stadium, dem der Reaktion, sich immer einige Entzündung zeigt, so muß diese nach den Regeln der Kunst behandelt werden; auch diese bekämpft man möglichst durch kalte Umschläge. Die Behandlung nach eingetretenem Absterben s. unter Brand. Die sogen. Frostbeulen (perniones) und die Frostgeschwüre behandelt man ebenfalls anfänglich am besten mit Kälte; für spätere Behandlung aber sind aus der großen Zahl der dagegen empfohlenen Mittel die Bepinselungen mit Jodtinktur und andern Reizmitteln, das Betupfen mit Höllenstein etc. hervorzuheben. Bei oberflächlichen Frostballen ist Bestreichen derselben mit elastischem Kollodium sehr ersprießlich. Vgl. Müller, Die Behandlung Verunglückter bis zur Ankunft des Arztes (Berl. 1877); Esmarch, Erste Hilfe bei plötzlichen Unglücksfällen (Leipz. 1882); Sonnenburg, Verbrennungen und Erfrierungen (Stuttg. 1879).