MKL1888:Deutsches Recht

Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Deutsches Recht“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 4 (1886), Seite 790792
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Deutsches Recht. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 4, Seite 790–792. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Deutsches_Recht (Version vom 14.03.2023)

[790] Deutsches Recht. Der mit diesem Ausdruck verbundene Begriff ist ein verschiedener, je nachdem man dabei das Herrschaftsgebiet oder den Ursprung der Rechtsnormen im Auge hat. In ersterer Beziehung versteht man unter deutschem Rechte das in Deutschland geltende Recht, während man mit Rücksicht auf den Entstehungsgrund damit das aus deutschnationalen Rechtsquellen hervorgegangene Recht bezeichnet. Das in Deutschland geltende Recht ist nämlich keineswegs durchweg nationalen Ursprungs; dasselbe zeigt vielmehr insofern einen Dualismus, als in Deutschland neben den auf deutschen Rechtsquellen beruhenden Rechtssatzungen auch fremde Rechte in bedeutendem Umfang rezipiert worden sind. Allerdings findet sich bei den germanischen Völkerschaften ursprünglich nur nationales Recht, freilich, da die einzelnen deutschen Volksstämme keinen einheitlichen Staat bildeten, auch kein einheitliches Recht. Die Rechte der einzelnen deutschen Stämme waren auch sehr spärlicher Natur, da, wie Tacitus bemerkt, bei ihnen mehr auf gute Sitten als auf gute Gesetze gehalten wurde, und diese geringe Anzahl von Rechtssatzungen wurde lediglich durch ungeschriebenes Gewohnheitsrecht fortgepflanzt. Geschriebenes Recht findet sich zuerst bei den salischen Franken, welchen dann seit dem 5. Jahrh. auch andre Volksstämme mit geschriebenen Gesetzessammlungen in lateinischer Sprache, den sogen. „Leges barbarorum“, folgten. Neben diesen Volksrechten waren später in der fränkischen Monarchie, zu welcher auch Deutschland gehörte, die Verordnungen der Könige, die sogen. Kapitularien, welche vorzugsweise die Gerechtsame der Könige behandelten, von Bedeutung. Von einem eigentlichen deutschen Nationalrecht aber kann erst die Rede sein, nachdem ein selbständiges Deutsches Reich gegründet und nachdem mit der Absetzung Karls des Dicken 887 die politische Trennung Deutschlands und Frankreichs bleibend vollzogen worden war. Indessen war die Reichsgesetzgebung in den zunächst folgenden Jahrhunderten eine nur spärlich fließende Rechtsquelle; die Rechtsentwickelung vollzog sich vielmehr vorzugsweise in dem engern Rahmen der städtischen oder sogen. Weichbildrechte, z. B. von Magdeburg, Lübeck und Köln, und die geltenden Rechtsnormen wurden in Privatsammlungen, den sogen. Rechtsbüchern des Mittelalters, zusammengestellt. Unter diesen letztern nehmen der Sachsenspiegel, der um 1230 entstand, und der wahrscheinlich zu Ausgang des 13. Jahrh. verabfaßte Schwabenspiegel die erste Stelle ein. Ersterer ist das Bild des damaligen norddeutschen Rechtslebens, der letztere vorzugsweise das Produkt der süddeutschen Rechtsentwickelung.

Bevor jedoch das deutsche Recht zu einer konsequenten Aus- und Durchbildung gelangt war, hatten nach und nach auch fremde Rechte, nämlich das römische und kanonische Recht, wie es sich im Corpus juris civilis und im Corpus juris canonici darstellt, sowie das langobardische Lehnrecht, die sogen. Libri feudorum, in Deutschland Eingang gefunden. Es waren verschiedene Umstände, welche diese Rezeption des fremden Rechts in Deutschland herbeiführten und erleichterten; namentlich der Umstand, daß man das sogen. römische Reich deutscher Nation als eine Fortsetzung des alten römischen Kaiserreichs, die deutschen Kaiser als die Nachfolger der römischen Imperatoren und folgeweise auch das römische Recht als das eigentümliche Recht des Deutschen Reichs auffaßte. Dazu kamen die humanistische und romanisierende Richtung des 15. und 16. Jahrh., die Ehrfurcht und Bewunderung, welche dem klassischen Altertum und seinen Überresten gezollt ward, und daneben der Einfluß der Geistlichkeit, welche in den damaligen geistlichen Gerichten nach römischem Recht entschied und zugleich die kanonisch-rechtlichen Satzungen der Päpste verbreitete. Ebenso war hierfür auch das Studium des römischen und kanonischen Rechts von großem Einfluß, welches seit dem 12. Jahrh. zuerst auf den Universitäten Oberitaliens, namentlich in Bologna, aufblühte und nachmals auch auf den deutschen Universitäten und zwar lange Zeit hindurch in ausschließlicher Weise gepflegt ward. Endlich kam noch die Berufung von Doktoren des römischen Rechts in das 1495 errichtete Reichskammergericht hinzu, welch letzteres ebenfalls in erster Linie das römische Recht zur Grundlage seiner Urteilssprüche machte. So kam es, daß jene fremden Rechtsquellen zum gemeinen Recht Deutschlands geworden und namentlich auf dem Gebiet des Privatrechts zum großen Teil an die Stelle des nationalen Rechts getreten sind. Nur diejenigen Rechtsinstitute, welche mit dem deutschen Nationalcharakter und mit dem deutschen Volksleben im innigsten Zusammenhang standen und den eigentlichen Ausdruck deutscher Rechtsanschauung bildeten, behaupteten neben dem fremden Recht ihre Geltung, indem sie durch Gewohnheitsrecht und teilweise auch durch die Gesetzgebung des Deutschen Reichs ihre weitere Ausbildung fanden. Doch war diese Reichsgesetzgebung fast nur auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts, namentlich des Staatsrechts und des Prozesses, thätig, so z. B. durch den Erlaß der verschiedenen Reichskammergerichts- und Reichshofratsordnungen und durch die Bestimmungen im jüngsten Reichsabschied von 1654, sowie auf dem Gebiet des Strafrechts, in welch letzterer Beziehung namentlich die peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karls V. von 1532 (die sogen. Carolina), [791] die Grundlage des gemeinen deutschen Strafrechts, hervorzuheben ist.

Was aber die deutschen Privatrechtsnormen anbelangt, welche neben dem fremden Recht ihre Geltung behauptet haben und welche im Gegensatz zu diesem letztern die Grundlage des gemeinen deutschen Privatrechts bilden, so mag hier insbesondere an die eigentümlichen deutschen Rechtsgrundsätze in Ansehung der Gemeinden und der Genossenschaften, an die besondern Normen in betreff der bäuerlichen Gutsverhältnisse, des Lehnswesens und der bäuerlichen Leihe erinnert werden. Ferner sind hier die deutschrechtlichen Familienfideikommisse, das deutsche Gesamteigentum, die Reallasten, die Regalien und das wichtige Rechtsinstitut der Expropriation oder Zwangsenteignung hervorzuheben. Ebenso gehören hierher die Grundsätze des deutschen Pfandrechts mit dem Prinzip der Publizität und der Spezialität des Pfandes, das deutsche Pfändungsrecht und vor allen Dingen die deutschrechtlichen Bestimmungen über das eheliche Güterrecht mit dem Fundamentalsatz der Gütervereinigung, während dem ehelichen Gütersystem des römischen Rechts gerade umgekehrt das dem Wesen der Ehe viel weniger entsprechende Prinzip der völligen Trennung der Güter der Ehegatten zu Grunde liegt. Endlich mag hier auch noch an das Institut der Einkindschaft, der Leibzucht, an die dem römischen Recht völlig fremden deutschrechtlichen Erbverträge, an die Rechtsgrundsätze über den Rentenkauf, die Inhaberpapiere, das sogen. litterarische Eigentum sowie an die deutschen Rechtsnormen in Ansehung des Wechsel- und Handelsrechts erinnert werden. Für die Erhaltung und Ausbildung der dem deutschen Rechtsbewußtsein entsprungenen Rechtsinstitute und für eine angemessene Verschmelzung des fremden Rechts mit dem einheimischen war noch während des Bestehens des Deutschen Reichs vorzugsweise die Partikulargesetzgebung thätig. Nach der Auflösung des Deutschen Reichs 1806 aber und nach dem Wegfall einer gemeinsamen gesetzgeberischen Autorität für ganz Deutschland war sie es ausschließlich, welcher die Aufgabe zufiel, die deutsche Rechtsentwickelung in einer den sozialen Verhältnissen und den Bedürfnissen des Volkes entsprechenden Weise zu pflegen und zu fördern. Diese Aufgabe ward teils durch den Erlaß einer Menge von Spezialgesetzen, teils durch umfangreiche Kodifikationen in mehr oder weniger glücklicher Weise gelöst. Namentlich sind in dieser Beziehung das allgemeine preußische Landrecht vom 4. Juni 1794, das österreichische allgemeine bürgerliche Gesetzbuch von 1811 und das bürgerliche Gesetzbuch für das Königreich Sachsen vom 2. Jan. 1863 hervorzuheben. Auch muß hier bemerkt werden, daß in den preußischen, bayrischen und hessischen Rheinlanden sowie mit einigen Modifikationen im Großherzogtum Baden das französische Zivilgesetzbuch von 1804 (Code Napoléon) Geltung erlangt und behalten hat (vgl. die Übersicht der dermaligen Rechtsgebiete im Deutschen Reich im Art. Deutschland, S. 840). Außerdem ist besonders an die große Anzahl deutscher Zivil- und Strafprozeßordnungen sowie an die verschiedenen deutschen Strafgesetzbücher, welche im Lauf dieses Jahrhunderts in den einzelnen deutschen Staaten publiziert wurden, zu erinnern.

Entwickelung der neuern Gesetzgebung.

Leider ward aber gerade durch diese verschiedenartige Partikulargesetzgebung, welche eine Folge der politischen Zerrissenheit Deutschlands war, auch eine Zerrissenheit des deutschen Rechts und Rechtslebens herbeigeführt, welche nachgerade fast unerträglich wurde. Als ein großer Fortschritt war es daher schon zu begrüßen, daß wenigstens auf dem Gebiet des Handels- und Wechselrechts durch die deutsche Wechselordnung von 1848 und das allgemeine deutsche Handelsgesetzbuch von 1861 eine Einheit des Rechts hergestellt wurde. Gleichwohl stellten sich diese beiden Gesetze für die Zeit des vormaligen Deutschen Bundes ebenso wie die Beschlüsse dieses Bundes selbst, welche das Rechtsgebiet berührten, lediglich als Partikularrechtsnormen dar, da es zu ihrer Gültigkeit einer Publikation von seiten der einzelnen deutschen Staatsregierungen bedurfte. Auch die von dem Norddeutschen Bund erlassenen Gesetze konnten nur als partikuläres Recht aufgefaßt werden, da sie nicht für ganz Deutschland rechtsverbindliche Kraft hatten. Dagegen wird durch unsre gegenwärtige Reichsgesetzgebung für das nunmehrige Deutsche Reich wirkliches gemeines d. R. geschaffen. Nach Art. 2 der Reichsverfassung übt nämlich das Reich innerhalb des Reichsgebiets das Recht der Gesetzgebung aus mit der Wirkung, daß die Reichsgesetze den Landesgesetzen vorgehen. Auch erhalten die Reichsgesetze ihre rechtsverbindliche Kraft durch ihre Verkündigung von Reichs wegen durch das Oberhaupt des Reichs, nicht etwa erst durch eine Publikation seitens der einzelnen Regierungen. Allerdings war es nach der Reichsverfassung (Art. 4), welche sich hierin an die norddeutsche Bundesverfassung anschloß, zunächst nur eine begrenzte Sphäre des Rechts, welche den Kompetenzkreis der Reichsgesetzgebung bildete, indem der letztern nur bestimmte Teile des öffentlichen und privaten Rechts unterstellt waren. Durch Reichsgesetz vom 20. Dez. 1873 wurden jedoch das gesamte bürgerliche Recht, das Strafrecht und das gerichtliche Verfahren der Gesetzgebung des Reichs unterstellt. Die Gesetze des Norddeutschen Bundes aber sind mit wenigen Ausnahmen zu Reichsgesetzen erhoben worden. Daß diese neue deutsche Gesetzgebung bisher weniger auf dem Gebiet des Privatrechts als auf andern Rechtsgebieten thätig war, hängt mit dem Umstand zusammen, daß die Festigung und Ausbildung der neuen staatlichen Institutionen des Reichs als das Dringlichere erschien, und daß die Aufgabe, eine Kodifikation des bürgerlichen Rechts in Deutschland herbeizuführen, eine ungemein große und umfangreiche ist. Indessen ist die Ausarbeitung eines deutschen Zivilgesetzbuchs schon seit Jahren in Angriff genommen, und das große Werk wird voraussichtlich in nicht allzu ferner Zeit zur Vollendung gelangen.

Zahlreich sind besonders die neuen deutschen Verwaltungsgesetze, wie die Gesetze und Verordnungen über das Post- und Telegraphenwesen, besonders die Postordnung vom 8. März 1879, die auf Handel und Schiffahrt bezüglichen Gesetze, namentlich die Seemannsordnung vom 27. Dez. 1872, Strandungsordnung vom 17. Mai 1874, Gesetz über die Untersuchung von Seeunfällen vom 27. Juli 1877, die Bestimmungen über das Konsulatswesen, dann die zahlreichen Gesetze über die Verbrauchssteuern, die Stempelabgaben und die Zölle (Tarifgesetze vom 15. Juli 1879 und 22. Mai 1885), über das Münz-, Bank-, Maß- und Gewichtswesen. Das Gewerbewesen ist durch die deutsche Gewerbeordnung vom 21. Juni 1869, modifiziert durch eine Reihe von Novellen, normiert. Zahlreiche Gesetze beziehen sich auf das Militärwesen des Reichs, auf die Heeresorganisation, das Pensionswesen und auf die Leistungen für die bewaffnete Macht. Durch den Erlaß eines deutschen Strafgesetzbuches, zu welchem auch ein Militärstrafgesetzbuch (vom 20. Juni 1872) hinzukam, ist auf dem Gebiet des Strafrechts [792] die Rechtseinheit hergestellt. Das Gleiche ist durch eine umfassende Justizgesetzgebung für das Prozeßrecht und für das Gerichtsverfassungswesen geschehen. Die deutsche Zivilprozeßordnung vom 30. Jan. 1877 hat das Verfahren in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten in einheitlicher Weise normiert. Dazu kamen die Strafprozeßordnung vom 1. Febr. und die Konkursordnung vom 10. Febr. 1877. Schon zuvor war durch Bundes- (Reichs-) Gesetz vom 29. Mai 1868 die Schuldhaft als Exekutionsmittel beseitigt und durch Gesetz vom 21. Juni 1869 die Beschlagnahme des Arbeits- und Dienstlohns als Zwangsvollstreckungsmittel wesentlich beschränkt worden. Das Gerichtsverfassungsgesetz vom 27. Jan. 1877 und die Rechtsanwaltsordnung vom 1. Juli 1878 nebst den nötigen Gebührengesetzen schlossen sich an die Justizgesetze an. Das Bundes- (Reichs-) Gesetz vom 1. Juni 1870 über die Erwerbung und den Verlust der Bundes- (Reichs-) und Staatsangehörigkeit hat diesen wichtigen Gegenstand geregelt, nachdem bereits unmittelbar nach der Gründung des Norddeutschen Bundes durch das Bundes- (Reichs-) Gesetz vom 1. Nov. 1867 der Grundsatz der Freizügigkeit für das Bundesgebiet näher ausgeführt worden war. Das Bundesgesetz vom 6. Juni 1870, welches allerdings in Bayern nicht gilt, regelt die Unterstützungswohnsitzfrage. Auch das Zivilstandsgesetz vom 6. Febr. 1875 ist besonders hervorzuheben. Auf dem Gebiet des Privatrechts sind die deutsche Wechselordnung und das Handelsgesetzbuch nunmehr als Reichsgesetze anerkannt. Letzteres ist durch die Aktiengesetze vom 11. Juni 1870 und vom 18. Juli 1884 teilweise abgeändert. Über die Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften ist ein Gesetz vom 4. Juli 1868 erlassen. Wichtig sind ferner die verschiedenen Gesetze über das Urheberrecht und über den Markenschutz sowie das Patentgesetz. Neuerdings sind mit dem Gesetz vom 15. Juni 1883 über die Krankenversicherung der Arbeiter und dem Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884 auch die ersten Versuche auf dem Gebiet einer Sozialgesetzgebung gemacht worden.

Unter den Lehrbüchern des deutschen Privatrechts sind diejenigen von Gerber (14. Aufl., Jena 1882), Beseler (3. Aufl., Berl. 1873), Hillebrand (2. Aufl., Zürich 1864), Stobbe (2. Aufl., Berl. 1882), Roth (Tübing. 1880 ff.) und Franklin (2. Aufl., das. 1882) hervorzuheben. Auch die Werke über deutsche Rechtsgeschichte, namentlich diejenigen von Eichhorn (5. Aufl., Götting. 1843–44, 4 Bde.), Zöpfl (4. Aufl., Braunschw. 1871–72) und Walter (2. Aufl., Bonn 1857), gehören hierher. Vgl. auch Gerber, Das wissenschaftliche Prinzip des deutschen Privatrechts (Jena 1846); Wächter, Gemeines Recht Deutschlands (Leipz. 1844); Dreyer, Das deutsche Reichszivilrecht (das. 1874); Mandry, Zivilrechtlicher Inhalt der Reichsgesetze (Tübing. 1878). Sonstige Litteraturnachweise sind in den Artikeln über die einzelnen Rechtsteile gegeben.