MKL1888:Dampfkesselexplosion
[456] Dampfkesselexplosion, ein fast momentanes Zerreißen oder Zerspringen eines Dampfkessels, welches eintritt, wenn das Material desselben dem inwendigen Dampfdruck nicht mehr genügenden Widerstand leistet, und wobei Teile oder Bruchstücke in der Regel mit geschoßartiger Heftigkeit auf weite Entfernungen fortgeschleudert, mächtige Ergießungen siedenden Wassers erzeugt und oft erschreckende Verheerungen angerichtet werden. Obgleich es nicht bei allen Explosionen möglich ist, die Ursachen genau zu ermitteln, so ist doch festgestellt worden, daß in den meisten Fällen entweder der Erbauer (durch schlechte Konstruktion oder schlechtes Material), der Wärter (durch nachlässige Wartung) oder der Besitzer des Kessels (durch Sorglosigkeit) an der D. schuld hatte. Hervorgerufen kann die D. werden entweder dadurch, daß der Kessel zu schwach ist, um dem normalen Dampfdruck zu widerstehen, oder daß die Kesselwandungen von einem bedeutend über das normale Maß angewachsenen Druck gesprengt werden, oder aber daß beide Umstände zusammentreffen. Daß ein Kessel von vornherein zu schwach gewesen sei, um dem normalen Dampfdruck widerstehen zu können, kann wegen der vor der Benutzung ausgeführten Wasserdruckproben kaum angenommen werden; dagegen kann ein Kessel bei fehlerhafter Konstruktion, Anwendung schlechten Materials oder unverständiger Wartung so geschwächt und abgenutzt werden, daß er schon beim gewöhnlichen Dampfdruck explodiert. Derartige Schwächungen des Kessels sind Risse, die er durch wiederholte Biegungen der Bleche, wie sie mit Temperaturschwankungen verbunden sind, erhalten kann, sowie Zerfressung durch Rosten von innen oder außen. Hat sich erst einmal ein großer Riß gebildet, so kann durch denselben plötzlich eine Menge Dampf austreten, und es entsteht im Kessel eine momentane Druckverminderung, welche bei der verhältnismäßig hohen Wassertemperatur eine kolossale, plötzliche Dampfentwickelung, verbunden mit mächtigem Aufwallen des Wassers, zur Folge hat, so daß der Kessel zerrissen wird.
Durch einfache allmähliche Spannungssteigerung wird ein Kessel nur bei grober Unachtsamkeit des Heizers oder bei einer unglücklicherweise gleichzeitig eintreffenden Unbeweglichkeit der Sicherheitsventile und des Manometers explodieren können. Dagegen sind sehr gefährlich die plötzlichen Spannungssteigerungen, wie sie auf verschiedene Weise herbeigeführt werden können. Vor allem ist hier das Glühendwerden der Kesselwandungen zu erwähnen, welches insofern doppelt gefahrbringend ist, als es einerseits leicht zu einer rapiden Dampfentwickelung Veranlassung geben kann, anderseits aber auch die Festigkeit des Kessels vermindert (da glühendes Eisen viel weniger widerstandsfähig ist als kaltes). Die Kesselwände können nun dadurch stellenweise oder ganz überhitzt oder glühend werden, daß entweder der Wasserstand bis unter die obere Grenze der Heizkanäle sinkt (Wassermangel, tritt am häufigsten durch zu lange verzögerte Speisung, also durch die Schuld des Wärters, aber auch durch unvorhergesehenes Undichtwerden oder Lecken des Kessels ohne Verschulden des Wärters ein), oder dadurch, daß sich auf der Kesselwandung eine dicke, die Wärmeleitung stark hemmende Kesselsteinschicht gebildet hat, oder auch dadurch, daß sich unter einer Schicht von losgelösten Kesselsteinstücken eine Dampfblase entwickelt hat, welche den Wasserzutritt verhindert. Gewöhnlich reicht das bloße Glühen von Teilen der Kesselwände noch nicht aus, um eine Explosion hervorzurufen, oder wenigstens kann eine solche durch rechtzeitiges Eingreifen in der Regel noch vermieden werden. Dagegen ist eine D. unvermeidlich, wenn auf diese entblößten Stellen plötzlich Wasser gelangt, weil dann eine so kolossale und plötzliche Dampfentwickelung eintritt, daß die schon durch das Glühen geschwächten Kesselwände unmöglich widerstehen können. War Wassermangel die Ursache des Erglühens, so bringt daher das Nachspeisen von frischem Wasser unfehlbar eine Explosion hervor. Dieselbe tritt auch ein, wenn der Kesselstein, welcher die Ursache des Erglühens der Kesselwand war, plötzlich Sprünge bekommt, durch welche das Kesselwasser zu dem glühenden Eisen treten kann, oder wenn die erwähnte Dampfblase zufällig einen Abzug erhält und dadurch dem Wasser Platz macht. Die einzige Möglichkeit, einen schon glühenden Kessel zu retten, ist dadurch gegeben, daß man durch Herausreißen des Feuers und Öffnen der Feuerthüren und der Reinigungsthüren der Feuerzüge (wobei kalte Luft unter dem Kessel hinwegstreicht) eine Abkühlung des Kessels herbeiführt, indem man zugleich jede Dampfabführung vermeidet und dem Sicherheitsventil die Abführung des noch entstehenden Dampfes überläßt. Vor allen Dingen darf man, auch wenn das Glühen durch Wassermangel herbeigeführt ist, unter keinen Umständen Wasser einführen, bevor der Kessel gehörig abgekühlt ist. [457] Jedenfalls muß ein solcher Kessel, bevor er wieder in Betrieb gesetzt wird, sorgfältig untersucht und, wenn das Glühen dem Blech geschadet hat, repariert werden.
Nach Boutigny tritt bei der Wasserbenetzung der erglühten Kesselwandungen zunächst der sogen. sphäroidale Zustand (Leidenfrosts Phänomen) ein, d. h. das Wasser bleibt über den glühenden Stellen, ohne diese zu berühren, in Form von kugelförmigen Tropfen stehen, welche zuerst langsam zu verdampfen beginnen und erst dann, wenn die Eisenfläche sich bis auf einen gewissen Grad abgekühlt hat, fast momentan in Dampf verwandelt werden. Die Anschauung, daß durch glühend gewordenes Kesselblech das Wasser in Sauerstoff und Wasserstoff zerlegt und diese Gasmischung (Knallgas) entweder durch die glühenden Wände selbst oder durch zufällig im Kessel durch Reibung des Dampfes entstehende elektrische Funken zur Explosion gebracht werde und dadurch auch die D. herbeiführe, wird vielfach bestritten.
Außer dem Erglühen der Kesselwände wird von vielen (nach Dufour) auch der Siedeverzug als eine Ursache plötzlicher starker Dampfentwickelung angesehen. Es hängt nämlich die Temperatur, bei welcher das Wasser zu sieden beginnt (Siedepunkt), von dem auf seiner Oberfläche lastenden Druck ab. Das Sieden kann frühstens dann eintreten, wenn der aus dem Wasser sich entwickelnde Dampf diesen Druck eben zu überwinden im stande ist. Doch kann das Wasser bedeutend über seinen Siedepunkt erhitzt werden, ohne sich in Dampf zu verwandeln (Siedeverzug, Überhitzung), wenn es völlig luftfrei ist und Erschütterungen fern gehalten werden. Wenn sich aber nach Überschreitung des normalen Siedepunktes infolge einer Erschütterung Dämpfe bilden, so entwickeln sie sich sogleich massenhaft und tumultuarisch. Der Siedeverzug kann auch durch Druckverminderung über dem Wasser herbeigeführt werden. Auf diese Thatsache gestützt, erklärt Dufour die während der Ruhezeit oder unmittelbar darauf folgende D. in nachstehender Weise. Sobald bei einem in Betrieb stehenden Kessel die Feuerung eingestellt wird, tritt im Dampfraum eine Druckverminderung ein, so daß die Verhältnisse gegeben sind, unter welchen das Wasser leicht in den überhitzten Zustand treten kann. Ist das einmal geschehen, so wird durch eine beim Wiederbeginn des Betriebes fast unvermeidliche Erschütterung des Kessels eine rapide Dampfentwickelung entstehen, welcher die Festigkeit der Kesselwände nicht gewachsen ist. Doch hat diese Anschauung auch ihre Gegner, welche meinen, daß die Explosionen nach den Betriebspausen dadurch entstehen, daß durch das von neuem angefachte Feuer die Kesselplatten ziemlich schnell und stark, die darüberliegende Kesselsteinschicht viel langsamer erhitzt wird und so durch die verschiedene Ausdehnung ein Reißen und Abspringen des Kesselsteins herbeigeführt und die glühende Kesselwand der Wasserberührung ausgesetzt wird, wodurch dann eine heftige Dampfentwickelung und die D. verursacht wird.
Die Vorsichtsmaßregeln, welche einem Kesselbesitzer zur Vermeidung von Dampfkesselexplosionen zu empfehlen sind, bestehen vor allem darin, daß er die Dampfkessel nur von den besten und renommiertesten Firmen bauen läßt, von welchen die Wahl einer zweckmäßigen Konstruktion und guten Materials zu gewärtigen ist, daß er schon gebrauchte Kessel nie ohne vorherige Untersuchung durch einen zuverlässigen Sachverständigen kauft und in Betrieb setzt, und daß er seinen Kessel tüchtigen und gewissenhaften Wärtern anvertraut, welche ihrerseits dafür zu sorgen haben, daß die Sicherheitsventile, Wasserstandszeiger, Speiseapparate etc. in gutem Zustand bleiben, daß die Feuerung regelmäßig geschieht, daß alle Stöße und Erschütterungen der Kessel vermieden und die Dampf- und Sicherheitsventile nur langsam geöffnet werden, daß alle schlechten Stellen, Sprünge und Risse rechtzeitig repariert werden, daß stets hinreichender Wasservorrat im Kessel ist, und daß eine oftmalige und sorgfältige Reinigung vom Schlamm und Kesselstein vorgenommen wird.
Die folgende Tabelle gibt einen Überblick über die von 1877 bis 1882 in Deutschland stattgehabten Dampfkesselexplosionen u. die dabei verunglückten Personen:
Jahr | Anzahl der Dampfkesselexplosionen, mutmaßlich verursacht durch | Hierbei verunglückte Personen | ||||
mangelhafte Konstruktion u. schlechtes Material | mangelhafte Wartung | Erglühen infolge von Wassermangel oder Kesselstein | Abnutzung, Beschädigung, Alter | Zusammen | ||
1877 | 6 | 4 | 5 | 5 | 20 | 58 |
1878 | 10 | 1 | 3 | 7 | 21 | 32 |
1879 | 5 | 2 | 6 | 5 | 18 | 78 |
1880 | 3 | 4 | 8 | 5 | 20 | 28 |
1881 | 3 | 1 | 6 | 1 | 11 | 27 |
1882 | 2 | 2 | 2 | 5 | 11 | 48 |
Vgl. Fischer, Zur Geschichte der Dampfkesselexplosionen („Dinglers Journal“ 1874, Bd. 213, S. 296); Flimmer, Dampfkesselzerstörungen und deren Verhütung (Leipz. 1884), und die Litteratur bei Artikel „Dampfkessel“.