Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Bylinen“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 17 (Supplement, 1890), Seite 185186
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Bylinen. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 17, Seite 185–186. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Bylinen (Version vom 17.06.2021)

[185]  Bylinen (Byliny), Bezeichnung der Heldenlieder der großrussischen Volkspoesie, welche sich von uralter Zeit her bis auf den heutigen Tag in der Phantasie und im Munde der untern russischen Volksklassen, namentlich in den nördlichen Gouvernements von Olonetz und Archangel, erhalten hat. Die ältesten Aufzeichnungen der außerordentlich zahlreichen Lieder, Rhapsodien, welche teils aus vergangenen Jahrhunderten überliefert, teils in Anlehnung an die Formen und den Ton der ältern Lieder an spätere Ereignisse (z. B. die Thaten und Kämpfe Peters d. Gr.) angeknüpft worden sind, stammen schon aus dem 17. Jahrhundert. Im 18. u. 19. Jahrh. wurden von Kirscha Danilow von Rybnikow (Moskau 1868–74), von Hilferding (Petersb. 1873) u. a. Sammlungen veranstaltet, die gleichwohl den Reichtum der vorhandenen, im Volksmund fortlebenden Rhapsodien noch nicht erschöpfen. Die Bylina, die einzelne Rhapsodie, hat stets eine bestimmte Versform, der Vortragende oder Sänger fügt der Handlung oft neue Züge hinzu oder verändert die Folge derselben, hält sich aber streng an die überlieferte Beschreibung der Helden und gibt die Reden der Bogatyri (so heißen die Helden) getreulich wieder. Man versucht die Masse der epischen Lieder zu bestimmten Cyklen zu gruppieren, unterscheidet einen Cyklus, der die ältesten russischen Nationalhelden, wie Svjatogor, Mikula u. a., feiert, einen „Cyklus von Nowgorod“, einen „Cyklus von Moskau“ etc. Im Mittelpunkt des Ganzen stehen aber die Gesänge, welche die Glanzzeit Wladimirs d. Gr., seines Hofs zu Kiew, zum Hintergrund und den Bauernsohn Ilja von Murom (Ilja Muromec) zum Helden haben, der erst im 30. Lebensjahr seine Kraft kennen lernt und von da an Thaten verrichtet, die alle mehr oder weniger an das Wunder streifen. Daß der Held des russischen Volkssanges ein Bauer oder Bauernsohn ist, entspricht den Überlieferungen (und Idealen) beinahe aller Slawen; der Vergleich mit Przemysl und Piast liegt nahe genug. Daß Ilja mit Wunderkraft und nichts schonender Kühnheit durchs Leben geht, die Heiden in Ost und West bekämpfend, eine gewaltige Rolle am Hof des freigebigen und glänzenden Wladimir spielend, stammt aus [186] den ältesten Vorstellungen des russischen Volkes, die Standesunterschiede, gesellschaftliche Gliederungen nicht kennen. In späterer Zeit mögen dann jene Lieder entstanden sein, in denen der Bauernsohn von dem Großfürsten und seiner Umgebung auch schlecht behandelt, bei der Tafel untenangesetzt, als Lügner angesprochen wird, Lieder, welche die zum Schlimmern gewendete Lage des Volkes widerspiegeln. Die Volksphantasie schwelgte in der ganzen Sage von Ilja wie im Wohlthun, in gewaltiger Thatkraft, so auch in unendlichem Wohlleben (vgl. Stern, Geschichte der Weltlitteratur). Die Helden, welche außer Ilja dem Kiewschen Cyklus angehören: Dobrynja Nikititsch, Aljoscha Popowitsch, bilden eine Art Tafelrunde, die freilich mit jener der Artussage oder mit den Paladinen der karolingischen Sage nicht verglichen werden darf. Vgl. W. Wollner, Untersuchungen über die Volksepik der Großrussen (Leipz. 1879), O. Miller, Die russischen Lieder von Ilja Muromec (in Herrigs „Archiv der neuern Sprachen“, Bd. 23); W. Bistrom, Das russische Volksepos (in der „Zeitschrift für Völkerpsychologie“, Bd. 5).