MKL1888:Boieldieu
[155] Boieldieu (spr. bŏjelldjöh), François Adrien, Opernkomponist, geb. 15. Dez. 1775 zu Rouen, lernte die Elemente der Musik als Chorknabe in der Metropolitankirche und wurde dann von dem Organisten Broche gründlich unterrichtet. Besondere Neigung zeigte er frühzeitig für dramatische Musik und fühlte sich namentlich von den Werken Grétrys und Méhuls angezogen. Bald unternahm er es, selbst eine Oper zu schreiben, und da dieselbe auf dem Theater seiner Vaterstadt Beifall fand, begab er sich nach Paris, wo er sich anfangs durch Stundengeben und Klavierstimmen die nötigen Subsistenzmittel erwarb, bis er infolge seiner Aufnahme in das Haus des Instrumentenmachers Erard, in dessen Werkstätten stets die angesehensten Pariser Tonkünstler zusammenkamen, bekannt wurde. Bald erregte er durch einige gelungene Romanzen, z. B. „Le ménestrel“, „S’il est vrai que d’être deux“, „O toi que j’aime“ u. a., die durch Garats unnachahmlichen Vortrag eingeführt und bald Lieblingsstücke der Pariser Damen wurden, nicht unbeträchtliches Aufsehen, welches seine darauf folgende anmutige Operette „La dot de Suzette“ (1795) noch vergrößerte. Ihr folgte 1796 „La famille suisse“, welche durch ihre Naivität und Grazie ebenfalls allgemeinen Beifall fand, dann „Mombreuil et Merville“ (1797), die wegen ihres ungünstigen Textes weniger ansprach, „L’heureuse nouvelle“, bei Gelegenheit des Friedens von Campo Formio komponiert, und „Zoraime et Zulnare“ (1798 aufgeführt), worin zuerst die Eigentümlichkeiten seines Talents bestimmter hervortraten. Gleichzeitig hatten auch verschiedene Instrumentalstücke, Sonaten für das Klavier, Duos und Trios etc. seiner Komposition vielen Erfolg, was Veranlassung war, daß man B. 1797 unter die Zahl der Klavierlehrer am Konservatorium aufnahm. Bis 1802 brachte er ferner die Opern: „Les méprises espagnoles“, „Beniowsky“, dann den „Calife de Bagdad“, der allgemeinen Enthusiasmus erregte, und die reizende zweiaktige Oper „Ma tante Aurore“. Seine unglückliche Ehe mit der berühmten Tänzerin Clotilde Mafleuroy bewog ihn, einen Ruf als kaiserlicher Kapellmeister nach Petersburg anzunehmen, wohin er 1803 ohne seine Frau abreiste. Er verweilte daselbst bis 1810 und schrieb während dieser Zeit außer zahlreichen Militärmusiken und wertvollen Chören zu Racines „Athalie“ eine Reihe von Opern, wie: „Rien de trop, ou les deux paravents“, „La jeune femme colère“, „Amour et mystère“, „Abderkan“, „Calypso“, „Aline“, „Les voitures versées“, „Un tour de soubrette“ etc. Nach Paris zurückgekehrt, schrieb B. sein reizendes Werk „Jean de Paris“ (aufgeführt 1812), womit er gegen den inzwischen allgemein beliebt gewordenen Niccolò Isouard in die Schranken trat und aufs neue aller Herzen sich gewann. Darauf folgten: „Le nouveau seigneur de village“ (1813), mehrere Gelegenheitsopern in Gemeinschaft mit andern Komponisten, z. B. die politische, gegen die Allianz gerichtete Oper „Bayard à Mézières“ (1814, mit Catel, Isouard und Cherubini), „Les Béarnais“ (mit Kreutzer, 1814), dann „La fête du village voisin“ (1816) und zwei Jahre später, nachdem er aus Gesundheitsrücksichten eine Reise nach Italien unternommen hatte, die Oper „Le petit chaperon rouge“ (Rotkäppchen), die trotz des Rossini-Fiebers, das damals in Frankreich zu wüten begann, lebhaften Beifall erhielt. B. war inzwischen nach dem Ableben Méhuls 1817 zum Mitglied der Akademie mit 4000 Frank Gehalt ernannt worden; aber sein durch angestrengtes Arbeiten sehr angegriffener Gesundheitszustand machte eine gründliche Erholung zur gebieterischen Notwendigkeit. Mehrere Jahre lebte er in einem vor kurzem erworbenen Landhaus in gänzlicher Zurückgezogenheit, die nur durch die Kompositionsstunden am Konservatorium (er erteilte dieselben in seinem Hause) sowie durch unbedeutendere Gelegenheitsarbeiten, wie z. B. die Beteiligung an der Oper „Blanche de Provence“ (1821), zur Feier der Geburt des Herzogs von Bordeaux, und an der Oper „Pharamond“ (1823), zur Salbung Karls X., unterbrochen wurde. Endlich im Dezember 1825 trat B. wieder mit einer neuen Schöpfung hervor und zwar mit seinem Meisterwerk: „La dame blanche“, das den Erfolg aller seiner frühern Opern noch überbot und den Ruhm des Komponisten über alle Länder der zivilisierten Welt verbreitete. Die letzte Oper Boieldieus, „Les deux nuits“, die 1829 zuerst aufgeführt wurde, hatte besonders des Libretto (von Bouilly) wegen keinen sonderlichen Erfolg. Inzwischen war die Gesundheit des Künstlers mehr und mehr geschwächt; dazu geriet er nach der Julirevolution in pekuniäre Bedrängnisse, da man ihm die von der frühern Dynastie gewährten Pensionen längere Zeit entzog und sie erst wieder bewilligte, als er sie nicht lange mehr genießen konnte. Nach vergeblichem Besuch mehrerer Bäder des südlichen Frankreich starb er 8. Okt. 1834 auf seinem Gut Jarcy bei Grosbois. Nach dem Tod seiner ersten Frau (1826) hatte er sich zum zweitenmal mit einer Sängerin, Phillis, verheiratet. B. war, wie er selbst unbefangen zugab, kein Held im Kontrapunkt und in der Fuge; aber er wird als Opernkomponist zu allen Zeiten unter den ersten genannt werden müssen, welche die Frische und Lebendigkeit der Gesangsmelodie mit einer geschmackvollen, nicht überladenen Instrumentation zu verbinden wußten. Blühende Phantasie, Wahrheit des Ausdrucks, richtige Zeichnung der Charaktere, reine Harmonien und ungezwungene melodische Erfindung sind die hervorstechenden Vorzüge seiner Kunst. Am 100. Jahrestag seiner Geburt wurde Boieldieus Andenken durch Errichtung eines Monuments in seiner Vaterstadt geehrt. Vgl. Pougin, B., sa vie, ses œuvres, etc. (Par. 1875). – Ein Sohn Boieldieus, Adrien, geb. 3. Nov. 1816 zu Paris, gestorben im Juli 1883, ist ebenfalls als Opernkomponist („Marguerite“, „L’aïeule“, „Le bouquet de l’infante“ u. a.) mit gutem Erfolg aufgetreten u. schrieb auch eine Messe.