MKL1888:Blütenvariationen

Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Blütenvariationen“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 17 (Supplement, 1890), Seite 146148
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Blütenvariationen. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 17, Seite 146–148. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Bl%C3%BCtenvariationen (Version vom 31.10.2022)

[146]  Blütenvariationen, Abänderungen in der Farbe, der Größe, dem Bau oder dem Geschlecht der Blüten bei Pflanzen der nämlichen Art, ohne daß pathologische Ursachen oder teratologische Umbildungen (Füllung, Vergrünung u. dgl.) dabei ins Spiel kommen. Dieselben stehen häufig mit der Bestäubungsart der Blüten in direkter Beziehung (s. Blütenbestäubung, Bd. 17). Die verschiedenen Fälle der B. (abgesehen von den Abänderungen der Farbe und Größe) nebst deren etwas verwickelten Bezeichnungen lassen sich am kürzesten durch folgende Übersicht erklären.

I. Die verschiedenen Blüten stehen auf demselben Pflanzenexemplar: Pleomorphie der Blüten.

A. Die Blüten sind sämtlich zwitterig, die einen bleiben immer geschlossen, so daß Kreuzung unmöglich ist, die andern öffnen sich: Chasmo-Kleistogamie, z. B. bei Arten von Viola, Oxalis, Helianthemum, Vicia, u. a.
B. Die Blüten desselben Individuums unterscheiden sich durch ihr Geschlecht; einige sind immer eingeschlechtig: Monözie.
1) Die Blüten desselben Stockes sind von doppelter Art:
a) zwitterig und männlich: Andromonözie, z. B. bei vielen Umbelliferen;
b) zwitterig und weiblich: Gynomonözie, z. B. Stellaria media;
c) zwitterig und geschlechtlos: Agamomonözie, z. B. bei Viburnum Opulus;
d) männlich und weiblich: echte Monözie, z. B. bei Cucurbita Pepo.
2) Die Blüten desselben Stockes sind von dreierlei Art, d. h. männlich, weiblich und zwitterig: Trimonözie (monözische Polygamie), z. B. bei Saponaria ocymoides.
C. Die Blüten desselben Individuums unterscheiden sich durch die Reifezeit ihrer Narben und Antheren.
1) Die Blüten sind zweierlei Art, z. B. homogam und proterandrisch bei Cerastium triviale.
2) Die Blüten sind dreierlei Art, d. h. homogam, proterandrisch und proterogyn bei Tormentilla erecta.
D. Die Blüten desselben Individuums variieren in verschiedener Weise in der Griffellänge, z. B. bei Erythraea Centaurium.
E. Einzelne Blüten eines Individuums unterscheiden sich durch teilweise Verkümmerung der Geschlechtsorgane von den übrigen:
1) Die Staubgefäße verkümmern in einzelnen Blüten, z. B. bei Scabiosa suaveolens.
2) Die Narben verkümmern in einzelnen Blüten, z. B. bei Reseda lutea.
3) Sowohl Staubgefäße als Narben verkümmern in einzelnen Blüten, z. B. bei Genista germanica.

[147] II. Die verschiedenen Blüten stehen auf verschiedenen Pflanzenexemplaren: Pleomorphie der Individuen oder Rassen.

A. Die Exemplare unterscheiden sich durch die Befruchtungsart der Blüten: Heteromesogamie.
1) Die eine Gruppe von Exemplaren ist der Selbstbefruchtung, die andre der Kreuzbefruchtung angepast: Auto-Allogamie, z. B. bei Viola tricolor, Lysimachia vulgaris, Euphrasia officinalis, Rhinanthus major.
2) Die eine Gruppe von Exemplaren wird durch eine bestimmte Insektengruppe, die zweite von einer andern Insektenabteilung bestäubt: Dientomophilie, z. B. bei Iris pseudacorus (Hummeln und eine Fliegenart), Primula farinosa (Hummeln und Schmetterlinge).
B. Die Exemplare unterscheiden sich durch die Reifezeit von Antheren und Narben ihrer Blüten, indem die eine Gruppe homogame, die andre dichogame Blüten besitzt: Homo-Dichogamie, z. B. bei Echium vulgare und vielen Labiaten.
C. Die Exemplare unterscheiden sich durch die räumliche Stellung ihrer Geschlechtsorgane, indem außer lang- und kurzgriffeligen Individuen auch solche vorkommen, bei welchen die Staubbeutel mit der Narbe in gleicher Höhe stehen: Homo-Heterostylie, z. B. bei Menyanthes trifoliata (s. unten).
D. Die Exemplare unterscheiden sich durch die verschiedene Reihenfolge in der Entwickelung ihrer Geschlechtsorgane: Heterodichogamie, z. B. bei Juglans regia.
E. Sie unterscheiden sich durch das Geschlecht ihrer Blüten:
1) Die Individuen sind von zweierlei Art, Diözie:
a) männliche Blüten auf dem einen Stock, zwitterige auf einem andern: Androdiözie, z. B. bei Veratrum Lobelianum (mit Zwischenformen);
b) weibliche Blüten auf dem einen Stock, zwitterige auf einem andern: Gynodiözie, z. B. bei Stellaria nemorum;
c) männliche Blüten auf dem einen Stock, weibliche auf dem andern: echte Diözie, z. B. bei Salix-Arten.
2) Die Individuen sind von dreierlei Art, nämlich zwitterig, weiblich und männlich: Triözie (triözische Polygamie), z. B. bei Melandryum rubrum, nach Rathay auch Vitis vinifera (s. unten).

III. Die verschiedenen Blüten stehen teils auf demselben Stock, teils auf verschiedenen Exemplaren derselben Art.

A. Die Blüten unterscheiden sich durch das Geschlecht: Pleogamie, z. B. bei allen gleichzeitig gynomonözischen und gynodiözischen Pflanzen. Hier tritt eine derartige Mannigfaltigkeit der Verteilung ein, daß man von einer weitern Unterteilung am besten absieht und die Fälle nur nach der Zahl der verschiedenen Rassen unterscheidet.
B. Die Blüten unterscheiden sich außer durch verschiedenes Geschlecht auch durch die Reifezeit von Antheren und Narbe: Pleodichogamie, z. B. bei Clinopodium vulgare.

Schon Darwin hat die B. in einem besondern Werk 1877 dargestellt. Seitdem hat sich die Kenntnis solcher Arten bedeutend vermehrt, deren Blüten sowohl für Auto- als für Allogamie eingerichtet erscheinen. Auch ist eine größere Anzahl von Pflanzen bekannt geworden, deren Blüten teils homogam, teils proterandrisch oder proterogyn sind, oder welche alle drei Formen nebeneinander entweder auf verschiedenen Exemplaren oder auf demselben Stock erzeugen; bisweilen kommen die homo- oder dichogamen Rassen, z. B. bei Gentiana germanica, in getrennter geographischer Verbreitung vor. Die Ursache, durch welche ein solches Schwanken in der Blüteneinrichtung bedingt wird, liegt aller Wahrscheinlichkeit nach in den Bestäubungsverhältnissen, unter welchen die betreffende Art lebt. So hat Warming in Grönland und im arktischen Norwegen, also in Gebieten, welche sich durch große Insektenarmut von den mitteleuropäischen Ländern unterscheiden, von Pflanzen, wie Bartsia alpina, Azalea procumbens, Saxifraga oppositifolia, Vaccinium vitis idea, deren Blüten in den Alpen und in Deutschland nur durch Kreuzung befruchtet werden, Exemplare mit autogamer Blüteneinrichtung aufgefunden. Er fand ferner von Menyanthes trifoliata, die bei uns immer heterostyl auftritt, in Grönland eine homostyle Rasse, in deren Blüten die Narbe in der Höhe der Antheren lag, und welche somit für Selbstbestäubung eingerichtet erschien. Auf Spitzbergen, wo die Hummeln fehlen, wachsen trotzdem zwei auf die Bestäubung durch Hummeln angewiesene Pedicularis-Arten, die sich daselbst also seit sehr langer Zeit selbst bestäubt haben müssen. Aber nicht bloß in den hocharktischen Gegenden, sondern auch in Dänemark, Belgien, England und Deutschland sind Blüteneinrichtungen beobachtet worden, die darauf hinzielen, teils im Fall ausbleibenden Insektenbesuchs Autogamie zu ermöglichen, teils auch ausschließlich autogame Rassen entstehen zu lassen. Noch variabler erscheint die Verteilung der Geschlechter in den Blüten, indem viele andro- und gynomonözische Arten auch gleichzeitig andro- oder gynodiözisch auftreten, wobei die zwitterblütigen Formen mehr oder weniger erhalten bleiben; bei manchen Pflanzen, wie Thymus Chamaedrys, Silene inflata u. a., werden 4–5 verschiedene Arten von Individuen beobachtet, welche sich in den sexuellen Merkmalen voneinander unterscheiden. Da sich die Variation des Geschlechts außerdem mit Abänderungen in der Blütengröße und in dem Reifezustand von Narbe und Antheren verbindet, so entwickelt sich schließlich bei einzelnen einheimischen Arten, wie Erodium cicutarium, Salvia pratensis u. a., eine Spaltung in 6–12 verschiedene Rassen, deren Blüten sich nach den angegebenen Merkmalen unterscheiden. Allerdings sind einzelne dieser Formenreihen auffallend selten, so daß ein Streben nach Vereinfachung der B. nicht zu verkennen ist; die Rassenbildung scheint besonders darauf gerichtet zu sein, einerseits erhöhte Sicherung der Fremdbestäubung, z. B. durch Abzweigung vollkommen eingeschlechtiger Formen, zu erreichen, anderseits aber auch rein autogame Individuengruppen besonders unter Verhältnissen zu züchten, welche den Einfluß der blumenbesuchenden Insekten, wie z. B. in arktischen Gegenden, mehr oder weniger ausschließen. Die allmähliche Umbildung von zwitterblütigen Formen zu rein diözischen läßt sich bei einigen Sileneen (Melandryum album, Silene Otites und iflata) sehr deutlich verfolgen, indem bei ihnen zwitterblütige Stöcke in verschiedenem Grade der Häufigkeit neben rein weiblichen und rein männlichen Exemplaren vorkommen und in diesem Fall die Triözie als Durchgangsstadium der reinen Diözie erscheint. Der Anfang der Geschlechterspaltung scheint damit eingeleitet zu werden, daß zunächst in den zwitterigen Blüten entweder die Antheren oder die Narben ihre gewöhnliche Funktion einbüßen; so bleiben z. B. in den sogen. Zwitterblüten von Acer platanoides die Antheren geschlossen, und die Blüten funktionieren daher als weiblich, ein Fall, den man als Heterodynamie zu bezeichnen pflegt. In praktischer Hinsicht wichtig ist es, daß auch der Weinstock zu den heterodynamen Pflanzen gehört, indem manche Rebensorten anscheinend zwitterige Blüten tragen, deren Staubgefäße aber funktionslos geworden sind und welche daher nur als weiblich funktionieren, während andre Sorten zwitterblütige Stöcke und die verwilderten Reben, z. B. in den Donauauen, auch männliche Blüten entwickeln. In der önologischen Praxis hat sich nun herausgestellt, daß die weiblichen Rebsorten (z. B. Damaszener, Malvasier, Muskateller, weißer Torlaner, Zimttraube u. a.) vielfach durch mangelhaften Fruchtansatz (bei den Weinbauern als „Ausreißen“ oder „Ausröhren“ [148] bekannt) gekennzeichnet sind, der sich dadurch verbessern läßt, daß man derartige Reben in gemischtem Satz abwechselnd mit zwitterigen Sorten von gleicher Blütezeit kultiviert, wodurch naturgemäß eine reichlichere Bestäubung der weiblichen Blüten herbeigeführt wird, da nach Rathay die Weinrebe vorwiegend windblütig ist. Genannte Kulturmethode wurde in Ungarn mit bestem Erfolg durchgeführt; am Rhein und in Frankreich, wo vorzugsweise zwitterige Sorten (Burgunder, Gutedel, Honigler, Müllerrebe, Riesling u. a.) gezogen werden, hat sich dagegen seit langer Zeit Kultur der einzelnen Sorte in besondern Weingärten als beste Methode eingebürgert. Vgl. Darwin, Die verschiedenen Blütenformen an Pflanzen der nämlichen Art (deutsch, Stuttg. 1877); Warming, Biologiske Optegnelser om grönlandske Planter („Bot. Tidsskrift“, 15. Bd., 1885); Derselbe, Om Bygningen og den formodede Bestövningsmoode af nogle grönlandske Blomster („K. D. Vidensk. Selsk. Forhandl.“ 1886); Lindmann, Bidrag till kännedomen om Skandinaviska fjellväxternas blomning och befruktning („Bihang till K. Svenska Vet. Akad. Handlingar“, Bd. 12, Stockh. 1887); Mac Leod, Nouvelles recherches sur la fertilisation de quelques plantes phanérogames („Extr. des Arch. de Biologie“, Bd. 7, 1886); Kirchner, Neue Beobachtungen über die Bestäubungseinrichtungen einheimischer Pflanzen (Stuttg. 1886); Aug. Schulz, Beiträge zur Kenntnis der Bestäubungseinrichtungen und der Geschlechtsverteilung bei den Pflanzen („Bibliotheca botanica“, Heft 10, Kassel 1888); Rathay, Die Geschlechtsverhältnisse der Reben und ihre Bedeutung für den Weinbau (Wien 1888); E. Loew, Die Veränderlichkeit der Bestäubungseinrichtung bei Pflanzen derselben Art (in Humboldt“, Bd. 8, 1889).