Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Berlioz“ in Meyers Konversations-Lexikon
Seite mit dem Stichwort „Berlioz“ in Meyers Konversations-Lexikon
Band 2 (1885), Seite 766767
Mehr zum Thema bei
Wikisource-Logo
Wikisource: [[{{{Wikisource}}}]]
Wikipedia-Logo
Wikipedia: Hector Berlioz
Wiktionary-Logo
Wiktionary:
korrigiert
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal Korrektur gelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Indexseite
Empfohlene Zitierweise
Berlioz. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 2, Seite 766–767. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Berlioz (Version vom 17.03.2023)

[766] Berlioz (spr. -ōs), Hector, berühmter franz. Komponist, geb. 11. Dez. 1803 zu La Côte St.-André unweit Grenoble, wurde von seinem Vater, einem dortigen Arzt, zu dem gleichen Beruf bestimmt und erhielt demgemäß eine vorwiegend wissenschaftliche Erziehung. Mit äußerst bescheidenen musikalischen Kenntnissen kam er 1822 nach Paris, um Medizin zu studieren; doch vertauschte er dies Studium bald mit dem der Musik, freilich gegen den Willen seines Vaters, der ihm sogar seine Unterstützung entzog, so daß B. gezwungen war, als Chorist des Theaters Gymnase dramatique seinen Lebensunterhalt zu verdienen. 1826 als Schüler ins Konservatorium aufgenommen, fand er im Direktor der Anstalt, Cherubini, zwar einen Gegner, dafür aber in Le Sueur einen auf sein Wesen liebevoll eingehenden Lehrer, und von diesem gefördert, konnte er 1830 mit einer Kantate: „Sardanapale“, den sogen. römischen Preis gewinnen, infolgedessen er einen 18monatlichen Aufenthalt in Rom und Neapel nehmen durfte. Schon früher war er in Paris als Komponist öffentlich aufgetreten, zuerst 1828 mit den Ouvertüren: „Waverley“ und „Les francs juges“, das Jahr darauf mit der fünfsätzigen Symphonie „Épisode de la vie d’un artiste“, in welcher die charakteristischen Merkmale seines gesamten Schaffens schon deutlich zu Tage traten: das Streben, einen dichterischen Gedanken in Tönen zu versinnlichen, und ein dem entsprechender Aufwand instrumentaler Mittel sowie jene Überschwenglichkeit der Phantasie und Freiheit der formalen Gestaltung, welche die damals in Frankreich zum Durchbruch gekommene Romantik im allgemeinen kennzeichneten. Noch entschiedener zeigten diese Seite der Berliozschen Individualität seine spätern symphonischen Arbeiten: „Le retour à la vie“, eine Art Ergänzung zur oben genannten „Épisode“, die er nebst der Ouvertüre zum „König Lear“ aus Italien zurückgebracht; „Harold en Italie“ (zum erstenmal aufgeführt 1834); die Totenmesse (Requiem) zur Begräbnisfeier des Generals Damrémont (1837); „Romeo et Juliette“ mit Solo- und Chorgesang (1839); die Trauer- und Siegessymphonie für Militärmusik, zur Einweihung der Julisäule (1840), und die Ouvertüre „Le carnaval romain“. Alle diese Werke erregten durch die Originalität der Erfindung und die von den bisherigen Mustern völlig abweichende Form ein ungemeines Aufsehen, wogegen der Versuch des Künstlers, mit der Oper „Benvenuto Cellini“ (1838) auf der Bühne festen Fuß zu fassen, völlig mißlang.

Inzwischen war B. auch als musikalischer Schriftsteller mit Erfolg thätig gewesen, zuerst 1828 als Mitarbeiter des „Correspondant“, dann der 1834 gegründeten „Gazette musicale“, endlich des „Journal des Débats“. Die Vorteile, die ihm aus dieser Stellung erwuchsen, büßte er jedoch zum Teil wieder ein durch die rücksichtslose Schärfe seiner Kritik, welche ihm zahlreiche Feinde zuzog. Von der Haltung des Pariser Publikums im ganzen wenig befriedigt, beschloß er, 1843 eine größere Kunstreise zu unternehmen, die ihn zunächst nach Norddeutschland führte, wo er meist mit Begeisterung aufgenommen wurde und unter andern in Griepenkerl (Braunschweig), Rob. Schumann und Lobe (Leipzig) warme Verehrer seiner Kunst fand. Zwei Jahre später bereiste er Österreich und Ungarn und 1847, nachdem er das Jahr zuvor seine Symphoniekantate „La damnation de Faust“ in Paris zur Aufführung gebracht, Rußland, wo er noch mehr als in Deutschland gefeiert wurde. 1852 besuchte er zum zweitenmal Deutschland und verweilte diesmal längere Zeit in Weimar bei Liszt, der schon seit Jahren für die Verbreitung der Berliozschen Musik thätig gewesen war. Von seinen spätern Kompositionen sind zu erwähnen: das Mysterium „L’enfance de Christ“ (1854), ein doppelchöriges Tedeum (1856), welches ihm die Ehre der Mitgliedschaft der Akademie eintrug, die komische Oper „Béatrice et Bénédict“ (1862 in Baden und später in Weimar aufgeführt) und die große Oper „Les Troyens“ (1866 im lyrischen Theater zu Paris aufgeführt). Mit diesem Werk, welches er als sein bestes bezeichnete, das Publikum jedoch abermals ablehnte, nahm B. Abschied von der Pariser Öffentlichkeit. Er starb 8. März 1869 in Paris, nachdem er noch das [767] Jahr zuvor eine dritte Reise nach Rußland unternommen, die ihm die höchsten Ehren eingebracht hatte. Während seiner letzten Lebensjahre von seinen Landsleuten wenig beachtet, wurde er nach seinem Tod Gegenstand der Aufmerksamkeit des französischen Publikums, und neuerdings sind seine größern Werke in Paris durch wiederholte Aufführungen fast populär geworden.

Selten oder nie sind die Meinungen in künstlerischen Dingen so geteilt gewesen wie in Bezug auf B.’ Musik, und noch jetzt steht der Partei, die ihn als den französischen Beethoven betrachtet, eine andre schroff gegenüber, welche seiner Kunst jeglichen Wert abspricht. Nur über seine Meisterschaft in der Behandlung des Orchesters, dessen Ausdrucksfähigkeit er noch über Beethoven hinaus steigerte, ist man in allen Künstlerkreisen einerlei Meinung, und sein „Traité d’instrumentation“ (Par. 1844; deutsch von A. Dörffel, Leipz. 1864) hat ungeteilten Beifall gefunden. Das Gleiche gilt von seinen übrigen Schriften, welche nicht nur den geistreichen Menschen und Musiker, sondern auch eine edle, ausschließlich dem Ideal zugewandte Künstlernatur in jeder Zeile erkennen lassen. Es sind dies: „Voyage musical en Allemagne, etc.“ (1844); „Les soirées de l’orchestre“ (1853); „Les grotesques de la musique“ (1859) und „A travers chants“ (1862, 2. Aufl. 1872), beide letztere vorwiegend humoristischen Inhalts. Die meisten dieser Schriften erschienen in deutscher Übersetzung von Richard Pohl (Leipz. 1864, 4 Bde.). Nach seinem Tod erschienen die kurz vorher von ihm verfaßten, auch Briefe enthaltenden „Mémoires“ (Par. 1870; 2. Aufl. 1878, 2 Bde.; seine Reisen in Italien, Deutschland, Rußland und England betreffend) und „Correspondance inédite 1819–68“ (das. 1878). Vgl. Jullien, Hector B. (Par. 1882); Hippeau, B., l’homme et l’artiste (das. 1883–85, 3 Bde.); Ernst, L’œuvre dramatique de H. B. (das. 1884); Pohl, H. B., Studien und Erinnerungen (Leipz. 1884).