Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Athos“ in Meyers Konversations-Lexikon
Seite mit dem Stichwort „Athos“ in Meyers Konversations-Lexikon
Band 1 (1885), Seite 10141015
Mehr zum Thema bei
Wikisource-Logo
Wikisource: [[{{{Wikisource}}}]]
Wikipedia-Logo
Wikipedia: Athos
Wiktionary-Logo
Wiktionary:
korrigiert
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal Korrektur gelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Indexseite
Empfohlene Zitierweise
Athos. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 1, Seite 1014–1015. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Athos (Version vom 26.03.2023)

[1014] Athos (neugriech. Hagion Oros, ital. Monte santo, „heiliger Berg“), die östliche der drei Landzungen der Chalkidischen Halbinsel im Ägeischen Meer, ein etwa 50 km langes und 5–10 km breites und durch eine schmale, niedere Erdzunge an den Kontinent gebundenes Bergeiland, das, allmählich ansteigend, sich im Berg oder Vorgebirge A. zu 1936 m Höhe erhebt. Ein zusammenhängender, üppiger Laubwald der schönsten und verschiedenartigsten Bäume, vermischt mit Reben-, Öl- und Obstpflanzungen und schön blühenden Sträuchern, bedeckt die Halbinsel, welche von zahlreichen Meereseinschnitten und Felsenvorsprüngen umsäumt und von Schluchten und Thälern durchsetzt ist. In der alten Geschichte ist diese Halbinsel hauptsächlich berühmt durch den Untergang der persischen Flotte unter Mardonios 492 v. Chr., welchen die am A. tobenden Stürme herbeigeführt hatten. Gleiches Mißgeschick zu vermeiden, ließ Xerxes noch vor seinem Zuge gegen Hellas 483 einen Kanal durch die das Gebirge mit dem Festland verbindende Landzunge graben, welchen dann drei Jahre später über 1300 Dreiruderer passierten; Spuren dieses Werks sind noch heute zu sehen. Jetzt ist die Halbinsel merkwürdig als Sitz einer eigentümlichen Mönchsrepublik, welche 20 große Klöster, 10 Dörfer (Sketen), 250 einzelne Zellen und 150 Einsiedeleien umfaßt, und deren Entstehung in das erste Jahrtausend des Christentums zurückreicht (s. unten). Jede der griechischen Kirche angehörende Nation hat unter den Klöstern eins oder mehrere zu eigen, die alljährlich von Pilgern aus Rußland, Serbien, Bulgarien etc. sowie aus Griechenland, Kleinasien und Konstantinopel besucht werden. Die Mönche selbst rekrutieren sich aus allerlei Nationen, besonders aus Russen, und leben nach der Regel des heil. Basilius in völliger Abgeschiedenheit. Die Privilegien, welche sie unter den Türken genießen, verdanken sie Murad II., der ihnen für ihre freiwillige Unterwerfung noch vor der Eroberung Konstantinopels seinen Schutz angedeihen ließ. Noch heute darf sich kein Muselman, den Aga Bostandschi ausgenommen, durch den die Mönche mit dem Sultan verkehren, im heiligen Bezirk niederlassen. Die Regierung der geistlichen Republik, die etwa 6000 Mönche und Einsiedler zählt, führt die heilige Synode von Karyäs, dem reizend gelegenen Hauptort der Halbinsel, wo auch der Aga Bostandschi residiert; sie besteht aus 20 Abgeordneten (einem aus jedem Kloster) und 4 Präsidenten, welche jährlich aus 4 andern der 20 Klöster genommen werden. Dieser Synode, welche wöchentlich eine Versammlung hält, während die vier Präsidenten einen ständigen Ausschuß bilden, liegen die Disziplin sowie die schwierige Vermögensverwaltung, die Beschaffung des jährlichen Tributs für den Sultan ob. Jedes Kloster hat zum Betrieb des Fischfanges und kleiner Handelsfahrten seinen besondern Landungsplatz, der nicht selten noch mit einer Art Citadelle oder einem Arsenal versehen ist. Die berühmtesten, umfangreichsten und prächtigsten sind die Abteien St. Lavra (mit zwei Kirchen), am Fuß des Bergs A., auf dessen höchstem Gipfel die Kapelle der Verklärung steht, welche ein prachtvolles Panorama gewährt, und Vatopädi, nächst ihnen St. Denis, St. Paul, St. Gregorius, Simopetra, Russikon, Kastamonitu, Xeropotamu und das äußerst malerisch gelegene Kloster Zographu. Sämtliche Stiftungen sind der heiligen Jungfrau geweiht. In der innern Regierungs- und Verwaltungsform der Klöster besteht seit uralter Zeit ein merkwürdiger Unterschied. Die einen, die eigentlichen Cönobien, stehen unter einem Abt (Hegumenos), dem die einzelnen Mitglieder unbedingt gehorchen; die andern Klöster, die sogen. Monastira idiorhythma, haben eine republikanische Verfassung, indem sie jährlich ihren Vorstand wählen und über allgemeinere Angelegenheiten in Versammlungen aller stimmberechtigten Mitglieder entscheiden. In jenen führen die Mönche ein Leben der Gemeinsamkeit, in diesen leben sie nach ihrem Belieben und erhalten vom Kloster nur das Brot und den Wein. Die Lebensart auf dem A. ist äußerst mäßig und streng; kein Weib darf das Gebiet betreten, dagegen ist es Erfindung, daß auch kein weibliches Tier (keine Kuh, keine Henne etc.) auf dem A. geduldet werde. Die außer den Klöstern auf dem A. noch befindlichen Sketen oder Dörfer und Cellen sind von jenen abhängig. Erstere sind Gruppen von etwa 60 einzelnen Häusern, in deren jedem 4–5 Mönche zusammenwohnen und zwar hier noch strengerer Zucht und härtern Bußübungen unterworfen als in den Klöstern selbst. Da die Sketen keine Güter besitzen wie die Kloster, so müssen sich die Bewohner ihren Unterhalt durch Handarbeit (Verfertigen von Priestermützen, Kruzifixen, [1015] Rosenkränzen, hölzernen Löffeln etc.) selbst erwerben. Wissenschaftliche Studien treibt man auf dem A. nicht. Im Mittelalter waren zwar die Klöster der Hauptsitz griechischer Gelehrsamkeit und der Mittelpunkt christlich-byzantinischer Kunst, und die Mönche des A. gelten von jener Zeit her noch heute für die gelehrtesten im Orient, allein sie kennen kaum die Titel einiger ihrer Bücher. Die Zahl der Manuskripte der Klosterbibliotheken wird auf 13,000 geschätzt. Die Manuskripte sind meist theologischen Inhalts; für die klassische Philologie ist kaum ein Gewinn zu hoffen. Mehr Ausbeute versprechen die patristischen und kirchlichen Handschriften, die meiste aber die große Anzahl griechischer und slawischer Urkunden. Das Alter und die Schönheit einzelner dieser Schriftstücke, die mit den Bildnissen der Kaiser und Fürsten geschmückt und mit Siegeln in Gold, Blei, Wachs etc. versehen sind, macht sie teilweise zu den kostbarsten Kleinodien der Diplomatik und Paläographie. Auch besitzen die Kirchen einen großen Reichtum an zum Teil trefflichen Malereien, Schnitzereien, Fresken und allerlei Kunstsachen aus Gold, Silber, Elfenbein etc.

Geschichte der Athosklöster. Den Namen A. leiten die Alten gewöhnlich ab von dem Giganten Athos, der im Kampf mit den Göttern den Berg aus Thessalien hierher geschleudert haben soll. Ohne Zweifel war der A. schon in vorchristlicher Zeit ein Heiligtum der umliegenden Völker, dessen Bewohner von Spenden der Pilger lebten. Die Spitze des Bergkegels, wo heute das Kirchlein Mariä Himmelfahrt steht, krönte ein Kolossalbild des thrakischen Zeus, und in einem Tempel am Strand, wo jetzt die Abtei des Philotheos steht, feierte man jährlich ein großes Fest sämtlicher Athoniten, von dem die Lokaltradition bis auf diesen Tag sich erhalten hat. Christliche Eremiten traten auf dem A. zuerst um die Mitte des 9. Jahrh. auf, worauf um 880 Klöster erbaut wurden, welche den A. als ihr ausschließliches Eigentum erhielten, aber von den Einfällen der Araber und Sarazenen viel zu leiden hatten. Der eigentliche Begründer der Klosterkolonie wurde um 968 der Mönch Athanasios, welcher das Musterkloster St. Lavra erbaute. Byzantinische Mönchspraxis mit Handarbeit und Gebet, gemeinschaftlicher Mahlzeit und Unterwerfung aller unter den Willen eines einzigen gab der jungen Kolonie festen Halt. Seitdem erhoben sich unter Konstantin Monomachos (1042–54) neben Lavra andre Klöster im großen Stil, namentlich Xeropotamu und Vatopädi, neben einer Menge steingemauerter Klausen mit Kirche, Garten, Ackerfeld, Obstwald und eingefriedigtem Besitz, im ganzen über 180 selbständige Anlagen mit 700 Mönchen. Aus der Grasdachhütte und dem Zentralkirchlein ward nach und nach ein prachtvoller Tempel nebst Kloster, daneben die fortlaufende Marktgasse mit Kaufläden und Arbeitsschuppen, gepflasterte Nebengassen, Häuser, Kapellen, Gärten, die kleine Hauptstadt des A. Die Erbauung der 21 Großabteien, die man jetzt auf dem A. findet, fällt zwischen 970 und 1385; die jüngste ist St. Dionys. A. ward nach dem Verfall des griechischen Kaiserreichs das neue Jerusalem der Slawen und Rumänen, und alles, was der Klosterbund heute besitzt, stammt aus den Slawenländern an der Donau und aus Rußland. Von den 21 Großabteien sind Chilantari, Zographu, Simopetra, St. Paul, Xenophu und Russikon serbo-bulgarische Stiftungen, acht andre aber: St. Gregorin, Karakalu, Dochiarion, Kutlumusi, Xeropotamu, Pantokratoros, das trapezuntische St. Dionys und selbst das prachtvolle Lavra, Schöpfungen der Fürsten von Jassy und Bukarest. Keinen Anteil, weder an der Gründung noch an der Wiedererneuerung, haben die Slawowalachen nur an Iwiron, Protaton, Esphigmenu, Philotheu, Kastamonitu und Stavronikita. Was die innere Geschichte betrifft, so hießen die Einsiedler vor der Athanasianischen Reform Hesychasten (Ruhende), was das völlige Versunkensein des Geistes in Gott bezeichnen sollte, das man durch unverwandtes Anschauen von Brust und Nabelgegend zu erreichen meinte. Durch Bekämpfung dieser Schwärmerei erregte im 14. Jahrh. der lateinische Mönch Barlam einen heftigen Streit, der dadurch beendigt ward, daß ein Konzil in Konstantinopel das geheimnisvolle Licht, welches die Athosbewohner erblicken wollten, mit dem unerschaffenen Lichte des Bergs Tabor für identisch erklärte. Größere Gefahr drohte später dem Dogma der Athosmönche von innen heraus. Vorstand der Akademie von Vatopädi wurde um 1765 der gelehrte Korfiot Eugenius Bulgari. Er fand nur 7 Schüler vor, bald aber strömten solche aus der Türkei, aus Rußland und Italien herzu, so daß die Akademie bald gegen 200 Zöglinge in 170 Zellen zählte. Der freie philosophische Geist, den Bulgari vertrat, erweckte aber die Besorgnis der Athosmönche, die Bulgari endlich zwangen, seinen Posten zu verlassen. Mit ihm verloren sich auch die Zöglinge, das Institut verkümmerte und ward endlich als „gefährlich für Religion und Sittlichkeit“ durch ein Reskript des ökumenischen Patriarchen völlig aufgelöst. Vgl. Fallmerayer, Fragmente aus dem Orient (2. Aufl., Stuttg. 1877); Pischon, Die Mönchsrepublik auf A. (Raumers „Histor. Taschenbuch“ 1860); Gaß, Zur Geschichte der Athosklöster (Gieß. 1865); Langlois, Le mont A. (Par. 1866); Roßmann, Gastfahrten (Leipz. 1880); Lambros, Ein Besuch auf dem Berge A. (deutsch, Würzb. 1881).