Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Atheïsmus“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 1 (1885), Seite 994
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Atheïsmus. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 1, Seite 994. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Athe%C3%AFsmus (Version vom 24.04.2023)

[994] Atheïsmus (griech. athĕos, „ohne Gott“), im Sinn einer dualistischen, d. h. Gott und die Welt als zwei verschiedene Existenzen auffassenden, Weltanschauung (wie es die theologische ist) die metaphysische Lehre, welche die eine derselben, nämlich die Existenz des Göttlichen, leugnet (Welt ohne Gott), während der Akosmismus (griech. kosmos, „Welt“) umgekehrt die andre derselben, nämlich die Existenz der Welt, verneint (Gott ohne Welt), der Theismus oder Deismus aber im Gegensatz zu beiden vorgenannten beide zugleich behauptet (Gott und Welt). Im Sinn einer monistischen, d. h. Gott und Welt als ihrem Wesen nach als eins seiend auffassenden, Weltanschauung dagegen, welche als solche entweder Pantheismus (Gott Eins mit dem All) oder Kosmotheismus (die Welt Eins mit Gott) ist, bedeutet A. als Aufhebung Gottes zugleich die der Welt, also den reinen Nihilismus. Während der Theismus der jüdisch-christlichen Schöpfungslehre den A. bekämpft, weil er sich keine Welt ohne Gott (als Schöpfer derselben) denken kann, thut dasselbe der indische Brahmanismus, weil ihm zufolge nur Gott allein wahres Sein, die Welt, die der A. stehen läßt, dagegen als Werk der Traumgöttin Maja nur eine täuschende Scheinexistenz besitzt. Der Pantheismus aber einesteils der griechischen und der neuern Philosophie verwirft den A., weil dieser als Welt und Gott zugleich aufhebender Nihilismus sich selbst aufhebt. Gleichwohl wird der Pantheismus, obwohl er den A. in seinem Sinn von sich ausschließt, von den theistischen und akosmistischen Theologen des A. in ihrem Sinn angeklagt. Für die dualistische Weltansicht ist die von der Welt abgesonderte Existenz der Gottheit wesentlich; die Aufhebung derselben, wie sie die monistische Weltansicht dadurch vollzieht, daß sie Gott und die Welt als Eins setzt, hebt für die Bekenner der erstern das Göttliche selbst auf. Das ist der Grund, warum diesen (von ihrem Standpunkt aus mit Recht) der Pantheismus und Kosmotheismus für A. gilt, während diese beiden (von ihrem Standpunkt aus gleichfalls mit Recht) sich gegen diese Bezeichnung sträuben. Der Grund, weshalb letztere nicht Atheisten heißen wollen, ist jedoch ein ganz andrer als derjenige, um deswillen der dualistische Theolog sie mit diesem Namen belegt. Letzterer sucht seinen Gegner durch jenen Ausdruck gehässig zu machen; der Pantheist mag nicht Atheist heißen, weil er nicht Nihilist sein mag. Der Pantheismus bekämpft den A. aus einem Gesichtspunkt, welcher jenem, aus welchem die dualistische Theologie (sie sei polytheistisch, monotheistisch oder akosmistisch) dies thut, gerade entgegengesetzt ist: jener, weil der A. die Welt, dieser, weil er die Gottheit zum Nichts mache. Der A. betont die Realität des einen der beiden Gegensätze der dualistischen Weltanschauung, die der Welt, um so stärker, je ausschließlicher er sie als die einzige Realität hinstellt, die es überhaupt gebe. Derselbe verträgt sich daher vorzüglich gut mit der ausschließlich auf die Welt als solche gerichteten Naturforschung, da er dieselbe vor jeder Gefahr des Eingriffs einer außer der Welt gelegenen Macht von vornherein sicherstellt. Durch die Ausschließung derselben schafft er Raum für die ausnahmslose Geltung unwandelbarer Naturgesetze, die darum nicht eben bloß Gesetze für physische Vorgänge sein müssen, sondern dies auch für psychische sein können, so daß der A. nicht eben Materialismus sein muß, sondern auch mit einem psychologischen Mechanismus und Determinismus verbunden sein kann. Durch die Einwendungen gegen den Materialismus ist daher der A. sowenig widerlegt, wie durch die Widerlegung der „einzig möglichen Beweisgründe für das Dasein Gottes“, wie Kant sie gegeben hat, begründet. Solange derselbe als reines Ergebnis metaphysischen Denkens auf streng wissenschaftlichem Feld sich hält, muß es als ein unbilliges Verfahren bezeichnet werden, denselben, statt mit Gründen, dadurch zu bekämpfen, daß seine Folgen als gefährlich für die Religion und Moral hingestellt werden. Allerdings wird durch die Leugnung der Realität der Gottesidee der religiösen Verehrung ein existierendes Objekt und dem menschlichen Handeln das aus der Furcht vor einem rächenden, der Hoffnung auf einen lohnenden Gott entspringende Motiv entzogen. Anzuerkennen ist aber, daß der Würde der Gottesidee dadurch nichts entzogen wird, und daß sie als Inbegriff aller denkbaren Vollkommenheit nach wie vor das nachahmungswürdige Vorbild menschlichen Handelns und das (obgleich selbstgeschaffene) Objekt verehrender Huldigung ausmachen kann. Ebenso läßt sich sagen, daß die Beseitigung des von den Folgen der Handlung entlehnten Motivs der Belohnung und Strafe die Möglichkeit echt sittlichen Thuns nicht mindert, sondern steigert, indem nur dasjenige Thun für wahrhaft sittlich gelten kann, bei dem jeder Verdacht selbstsüchtiger Beweggründe entfernt und der Wille von der Stimme des sittlichen Urteils über Lobens- und Tadelnswürdigkeit der Handlung allein abhängig gemacht wird. In diesem Sinn hat Kant das sittliche Handeln von der Rücksicht auf die Folgen, also auch von dem Glauben an die Existenz des Vergelters, unabhängig erklärt. Daß der A. weder jede Art religiösen Kultes noch moralisches Handeln unmöglich macht, beweist das Beispiel des Buddhismus in Indien und China. Was dem Theismus und Brahmanismus Unglaube heißt, ist dort zum religiösen Glauben geworden. Schließt der A. nicht notwendig nachteilige Folgen für die Sittlichkeit des Handelns, so schließt das Bekenntnis desselben (der religiöse Unglaube) ebensowenig notwendig das Vorhandensein unsittlicher Triebfedern für dasselbe ein. Der religiöse Unglaube ist, wie sein Zwillingsbruder, der religiöse Glaube, ein Gemütszustand, welcher dem einzelnen nur insoweit zur Last fällt, als er auf dem Willen desselben beruht, und nur so weit eine Schuld begründet, als die Motive desselben verwerflich sind. Der unwillkürliche Unglaube (negativer A.; alle Kinder werden als Atheisten geboren; Unwissenheit; Überlieferung) ebensowenig wie der auf (vielleicht unvollkommener und unvollständiger, aber) redlicher Forschung aus wissenschaftlichen Gründen beruhende (theoretischer A.) können keinerlei sittlichen Tadel rechtfertigen und dürfen in den Augen nicht ketzerrichterlicher Gläubigen höchstens als mitleidswerter, aber verzeihlicher, letzterer sogar als achtungswürdiger Irrtum gelten. Dagegen trifft den vorsätzlichen, aus egoistischen Beweggründen (z. B. um sich von der Furcht vor möglicher Vergeltung zu befreien und seinen bösen Gelüsten ungestört nachhängen zu können) handelnden Gottesleugner (praktischer A.) gerechte Verurteilung nicht um seines A., sondern um seines Egoismus willen, der sich zur interesselosen Untersuchung entweder nicht erheben mag, oder, wenn er sich dazu erhoben hat, ein ihm unliebsames Resultat sich geflissentlich ableugnet. Vgl. Noack, Die Freidenker in der Religion (Bern 1853–55, 3 Bde.); Farrar, History of free thought (Lond. 1863); Lange, Geschichte des Materialismus (4. Aufl., Iserl. 1881); Blackie, Natural history of atheism (Edinb. 1877).