Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Argos“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 1 (1885), Seite 800802
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Argos. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 1, Seite 800–802. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Argos (Version vom 26.05.2023)

[800] Argos (Argolis, Argeia), Landschaft des Peloponnes, begriff ursprünglich nur das Gebiet der Stadt A., die rings von Bergen umgebene Thalebene des Inachos; später, namentlich unter römischer Herrschaft, verstand man darunter auch die im Vorgebirge Skylläon auslaufende Halbinsel zwischen dem Saronischen und Argolischen Meerbusen. A. ist der am reichsten gegliederte Teil des ganzen Peloponnes mit sehr zerklüfteter Küste und zahlreichen vorgelagerten Inseln. Als die bedeutendsten Berge sind zu nennen: der Kreion (jetzt Ktenia, 1600 m), Artemision (Malevo, 1772 m) und Lyrkeion (1848 m) im W., die Berge gegen Phlius (Megalo Vuno, 1270 m) und Kleonä im N., der Arachnäon (Arna, 1199 m) im O. Küstenebenen finden sich nur bei Trözen und die des Inachos bei Argos. Die Bewässerung des Landes ist eine sehr ungleiche, im ganzen äußerst dürftige; schon Homer redet vom „vieldurstigen“ A. Die zahlreichen in den Bergen entspringenden Bäche führen nur im Winter das Wildwasser ins Meer, im Sommer versiegen sie oder verschwinden bald in Klüften, um erst unweit des Meers wieder hervorzubrechen. So bedeuten die nachwachsenden Häupter der lernäischen Schlange solche wieder hervorbrechende Quellen, welche bei Lerna in der südwestlichen Ecke der Ebene von A. Sümpfe bildeten, die Herakles, der Repräsentant vordringender Kultur, lange vergeblich zu bewältigen strebte. Auch die beiden Hauptflüsse, der Inachos (Panitsa) und sein Zufluß Charadros (Xerias), sind die meiste Zeit des Jahrs trocken. Zisternen mußten schon im Altertum dem Wassermangel steuern. Trotzdem lieferte die Küstenebene von A. Getreide in Überfluß; sie ist auch heute noch, wiewohl teilweise versumpft, fast die einzige für Ackerbau verwendete Gegend in A. In den gebirgigen Teilen wurde starke Viehzucht, auch Bergbau auf Kupfer getrieben. Ausgezeichnet waren die argivischen Pferde, schon von Homer, später von Strabon und noch jetzt von Reisenden gerühmt. Vor allem aber wurden Handel und Schiffahrt durch die zahlreichen Buchten und trefflichen Ankerplätze begünstigt, und sie stehen heute noch wie im Altertum in Blüte. Als älteste Bewohner werden Pelasger und Danaer genannt, Einwanderer aus Syrien und Ägypten, welche später durch Griechen (Achäer von N., dann Dorier von S. her) verdrängt werden. In alter Zeit gab es in A. fast so viele Staaten wie Städte. Von letztern sind [801] zu nennen: die Stadt A. (s. unten) mit der Burg Larisa und dem Hafenort Nauplia; Tiryns, schon früh zerstört; Mykenä mit alter Königsburg, von dem jüngern A. zerstört; ferner die Seestädte Epidauros, Trözen und das durch seine Purpurschneckenfischerei berühmte Hermione. In religiöser Beziehung war A. der Hauptsitz des achäischen Kultus der Hera, den die Dorier fortsetzten. Zwischen Mykenä und A. lag das Heräon, eins der ersten Heiligtümer Griechenlands. Mit der Götterverehrung Hand in Hand gehend, entwickelte sich in A. sehr frühzeitig die bildende Kunst. Geschnitzte Herabilder, durch das nahegelegene Heräon veranlaßt, mochten die ersten Anfänge sein. Aus ihnen erblühte um 500 v. Chr. des Ageladas Schule, welcher die Athener Pheidias und Myron, die Argiver Aristomedon, Phradmon, Naukydes, Perikletos, Polykletos der jüngere, Antiphanes u. a. angehörten. Auch ward in A. die Tonkunst eifrig gepflegt und neben ihr die Dichtkunst, worin Sakadas (um 590) und Telesilla glänzten. Seit der Mitte des 5. Jahrh. sank das künstlerische Leben in A. schnell von seiner Höhe herab, und nur die Gymnastik nahm das Volksinteresse noch in Anspruch. – Die Stadt A. scheint erst aus dem Lager der dorischen Eroberer am Fuß der altpelasgischen Doppelburg Larisa (289 m hoch) entstanden zu sein. Nachdem sie die umliegenden, bis zu den Perserkriegen selbständigen Städte unterworfen, stand sie an Umfang und Volkszahl im Peloponnes nur hinter Korinth zurück. Die Burg Larisa im NW. der Stadt trug den Tempel des Zeus; in ihren östlichen Abhang ist das Theater hineingearbeitet. Östlich davon lag die Agora mit den Tempeln des Apollon Lykios, des Zeus Nemeios, der Tyche, des Asklepios, den Statuen der sieben Heerführer gegen Theben u. a.

Als Erbauer der Stadt A. und erster Herrscher daselbst wird in der Sage Inachos genannt. Die von ihm gegründete Dynastie der Inachiden wurde durch Danaos und die Danaer entthront, welche die pelasgischen Ureinwohner unterjochten und A. zu dem mächtigsten Staat Griechenlands erhoben. Seine Nachkommen Prötos und Akrisios teilten sich in das Reich; letzterer regierte zu A., ersterer in dem von ihm erbauten Tiryns. Perseus, Enkel und Nachfolger des Akrisios, tauschte mit Megapenthes, Prötos’ Sohn, wählte aber Mykenä zu seiner Residenz. Zur Zeit des Trojanischen Kriegs war Diomedes, Schwiegersohn des Adrastos, König von A. Der Atride Orestes vereinigte das schon früher abhängige A. mit Mykenä. Schon unter Tisamenos, des Orestes Sohn, erreichte indessen die achäisch-atridische Dynastie ihr Ende durch die „dorische Wanderung“ (s. d.); A. fiel dem Temenos zu, die Dorier wurden der mächtigste Teil der Bevölkerung und machten A. zu ihrer Hauptstadt. Von jetzt an herrschten hier die temenidischen Herakliden bis in die Mitte des 8. Jahrh. Der berühmteste unter den Herrschern aus diesem Haus ist Pheidon (um 670), unter dem A. seine Glanzperiode erreichte; er unterwarf ganz Argolis und Ägina, besiegte die Spartaner bei Hysiä und entriß ihnen die Ostküste des Peloponnes, in dem er eine herrschende Stellung erlangte; er regierte unbeschränkt, weswegen er auch als Tyrann bezeichnet wird, und durchbrach die enge Abgeschlossenheit der Dorier, indem er das Land dem Handel und Verkehr öffnete und von Ägina Münzen, Maße und Gewichte einführte. Nach seinem Tod (660) sank die Macht von A. bald. Mit seinem Enkel Meltas endete das Geschlecht der Temeniden; darauf standen noch längere Zeit Titularkönige aus einem andern Geschlecht an der Spitze des Staats. Mit Sparta lag A. von alters her in Fehde. Im J. 520 brachte der spartanische König Kleomenes den Argeiern bei Tiryns eine Niederlage bei, in dem von ihm angelegten Feuer kamen 6000 in den heiligen Hain von A. geflüchtete Bürger um. Aus Haß gegen Sparta schloß sich A. in den Perserkriegen den Persern, 461 den Athenern, mit denen es 418 die Niederlage bei Mantineia erlitt, endlich den Thebanern an. Zugleich aber trat infolge jener Grausamkeit der Spartaner in den innern Verhältnissen von A. eine gänzliche Umgestaltung ein. Da durch jene Katastrophe der größte Teil der waffenfähigen Staatsbürger umgekommen war, so setzten sich die Leibeignen (Gymnesier) in den Besitz der Stadt, die zwar später von den inzwischen herangewachsenen Söhnen der Erschlagenen bezwungen wurden, aber von den Altbürgern in ihrer Mitte geduldet werden mußten. Bald darauf zwang man auch die Bewohner der benachbarten unabhängigen Städte Tiryns, Mykenä, Hysiä, Orneä und Midea, nach A. überzusiedeln. Durch diese Neubürger, denen die vollen Rechte der alten eingeräumt wurden, ward das Leben der herabgekommenen Stadt neu gekräftigt, Kunstfleiß und Wohlstand blühten wieder auf. Die wichtigste Folge jener Einbürgerungen war indes das Verschwinden des alten Dorismus und damit das Erlöschen der ohnedies zum Schattenbild gewordenen Königsgewalt, so daß um die Mitte des 5. Jahrh. eine vollständig ausgebildete Demokratie erscheint, die mit einigen oligarchischen Unterbrechungen bis in die spätesten Zeiten fortdauerte. Die gräßlichsten Ausbrüche dieser Volksherrschaft erfolgten in der Schreckenszeit des sogen. Skytalismos (Stockprügelei) 370, wo das Volk mehrere Tausend angeblicher Aristokraten ermordete. Während der Oberherrschaft Makedoniens mußte A. makedonische Besatzung einnehmen und erhielt wiederholt aus der Mitte seiner Bürger Tyrannen. Durch Aratos ward A. 243 dem Achäischen Bund zugeführt und von der Gewaltherrschaft befreit, später jedoch von neuem, zuletzt von Nabis aus Sparta, unterworfen. Mit dem Achäischen Bund kam es 146 unter römische Herrschaft. Im Mittelalter gehörte A. zum Herzogtum Athen; 1383 kam die Stadt durch Kauf an Venedig; 1397 ward sie von den Türken erobert und geplündert, und 1463 fiel sie abermals in deren Hände. Ihre Wiederbesetzung durch den venezianischen General Morosini 1686 war von keiner langen Dauer; die Venezianer mußten sie 1716 für immer räumen. Vgl. Curtius, Peloponnes, Bd. 2 (Gotha 1852); Bursian, Geographie von Griechenland, Bd. 2 (Leipz. 1868).

Im heutigen Königreich Griechenland bildet A. mit Korinth eine der 13 Nomarchien, 4942 qkm (nach Strelbitskys Berechnung 5244 qkm = 95,2 QM.) groß mit (1879) 136,081 (1870: 127,820) Einw. und in 6 Eparchien zerfallend, von denen die der Hauptstadt A., Nauplia, Spetza-Hermionis und Hydra-Trizinia sich mit der alten Landschaft A. decken. Außerdem gehört dazu die Insel Cerigo (s. d.). Die gleichnamige Hauptstadt, ein lebhafter und freundlicher Ort mit (1879) 9861 Einw., füllt trotz ihrer weitläufigen Bauart kaum die Hälfte vom Raum der alten, tief verschütteten Stadt aus. Auf und an dem Kegelberg der Larisa, welcher die Akropolis bildete (s. oben), finden sich noch bedeutende Reste des Altertums erhalten: eine Burg mit zinnengesäumten Mauern, welche neben jüngern auch alte Mauerteile, aus polygonen Werkstücken zusammengesetzt, aufweist, [802] cyklopische Mauern, etwa 20 Sitzreihen des Theaters u. a.

Argos (genannt Panoptes, „der Allsehende“, wegen seiner vielen Augen, von denen ein Teil immer wachte), in der griech. Mythe ein Sohn des Agenor oder ein Erdgeborner von ungeheurer Stärke, machte sich durch mehrere Heldenthaten berühmt, namentlich durch Erlegung eines Stiers, eines räuberischen Satyrs und der Echidna (was, wie oft Drachenerlegung, auf Tilgung von Sümpfen, Urbarmachung des Bodens deutet). Dann wurde er von Hera zum Wächter der in eine Kuh verwandelten Io bestellt und fand als solcher seinen Tod durch Hermes, der ihn, um die Io zu entführen, mit Steinwürfen erlegte, nach andern einschläferte und dann enthauptete. Hera setzte die Augen des A. in ihres Pfaues Schweif, der nach andern erst aus dem Blute des A. entstanden sein soll. A. ist wohl ein Abbild des gestirnten Himmels.