Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Aphasīe“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 1 (1885), Seite 677
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Aphasīe. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 1, Seite 677. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Aphas%C4%ABe (Version vom 15.09.2022)

[677] Aphasīe (griech., das „Nichtredenkönnen“), ein krankhafter Zustand, bei welchem der davon Befallene unfähig ist, sich der Sprache zu bedienen, obschon er vollkommen Herr seiner Sprachorgane und auch sonst bei vollem Bewußtsein ist. Leute, welche einen Schlagfluß erlitten haben, verlieren manchmal das Gedächtnis für die Worte, womit sie gewisse Dinge bezeichnen wollen, wobei sie im Besitz aller andern geistigen Fähigkeiten sein können. Von der A. ist die Alalie zu unterscheiden, bei welcher der Sprachverlust die Folge einer Störung in denjenigen Organen ist, welche zur Erzeugung und Artikulation der Laute dienen (also Kehlkopf, Zunge, Lippen, Gaumen etc.). Die A. beruht vielmehr auf einer Erkrankung unsers innern Sprachorgans, welches im Gehirn seinen Sitz hat, die Worte schafft, davon die Erinnerung behält und den zur Artikulation dieser Worte bestimmten Bewegungen vorsteht. Wie es scheint, hat dieses innere Sprachorgan seinen Sitz in der zweiten Stirnwindung des linken vordern Hirnlappens, wenigstens hat man hier am häufigsten die der A. zu Grunde liegende anatomische Störung angetroffen. Erkrankt nun dieses Organ, so verliert der betreffende Mensch die Fähigkeit, sich auf die Worte zu besinnen, durch die er seine Gedanken ausdrücken möchte, oder er ist wenigstens nicht im stande, auf seine sonst gesunden Sprachwerkzeuge so einzuwirken, daß die artikulierten Laute erzeugt werden. Bei der reinen, nicht komplizierten A. ist nur das eben beschriebene Vermögen aufgehoben, während alle willkürlichen Bewegungen und Äußerungen der Intelligenz vorhanden sind. In andern Fällen können die Kranken nicht schreiben (Agraphie) oder nicht lesen (Alexie). Die A. geht manchmal binnen wenigen Stunden oder Tagen vorüber, indem der Kranke das Gedächtnis für die Worte und das Vermögen, sie auszusprechen, vollständig wiedergewinnt. Gewöhnlich aber dauert die Erkrankung wochen- und monatelang oder besteht bis zum Tod in gleicher Weise fort. Der Kranke versteht in diesem Zustand alles, was man ihm sagt, vermag aber seine eignen Gedanken nicht durch Worte, sondern nur durch die Zeichensprache auszudrücken. Gewöhnlich ist dem Kranken die Fähigkeit geblieben, eine geringe Anzahl vereinzelter Silben oder Worte auszusprechen, von welchen er jedoch auch da Gebrauch zu machen pflegt, wo sie nicht am Platze sind, woraus man schließen möchte, daß er diese Worte nicht infolge gewollter Bewegungen, sondern automatisch ausspricht. Die entferntere Ursache der A. ist meist eine Erweichung, ein Bluterguß, eine Hirnhautentzündung oder Neubildung, welche die Thätigkeit des bezeichneten „Sprachzentrums“ aufhebt.