Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Angoulême“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 1 (1885), Seite 580
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Angoulême. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 1, Seite 580. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Angoul%C3%AAme (Version vom 21.04.2023)

[580] Angoulême (spr. anggulähm), Hauptstadt des franz. Departements Charente, auf einem von der Charente umflossenen Plateau und an der Orléans- und der Charentebahn gelegen, Bischofsitz, hat ein altes Schloß mit mehreren Türmen (jetzt zu einem neuen Rathaus umgebaut), eine romanische Kathedrale (1136), ein Lyceum, ein theologisches Seminar, eine Bibliothek von 16,000 Bänden, ein Naturalienkabinett und (1881) 30,799 Einw., welche die Steinbrüche in der Nähe ausbeuten, bedeutende Papier- und Tapetenfabrikation, Drahtzieherei, Maschinenbau und lebhaften Handel mit Branntwein u. a. treiben. An die Stelle der frühern Bollwerke der Stadt sind schöne Promenaden getreten. – A. ist das alte Iculisma oder Engolisma in Aquitanien, das im 9. Jahrh. von den Normannen zerstört wurde. Die Landschaft hieß früher Angoumois und war in alten Zeiten eine Grafschaft, die 1307 mit der Krone vereinigt wurde. Im J. 1515 erhob sie Franz I. zum Herzogtum zu gunsten seiner Mutter, und Ludwig XIV. machte aus derselben die Apanage des Herzogs von Berry, der 1714 starb. Von dieser Zeit an behielten die Prinzen der ältern bourbonischen Linie den Titel eines „Herzogs von A.“ bei. In A. wurden Margarete von Valois und der Königsmörder Ravaillac geboren.

Angoulême (spr. anggulähm), 1) Charles de Valois, Herzog von, natürlicher Sohn Karls IX. und der Marie Touchet, geb. 28. April 1573, führte zuerst den Titel eines Grafen von Auvergne, ward 1580 Großprior von Frankreich und erhielt 1619 das Herzogtum Angoulême. Anfangs Anhänger Heinrichs IV., wurde er 1604 wegen einer Verschwörung gegen denselben zum Tod verurteilt, aber zu ewigem Gefängnis begnadigt und 1616 wieder in Freiheit gesetzt. Unter Ludwig XIII. belagerte er 1617 Soissons, ging 1620 als Gesandter zu Kaiser Ferdinand II., befehligte 1628 in La Rochelle und kämpfte mit Auszeichnung in Languedoc, Deutschland und Flandern. Er starb 24. Sept. 1650. Die „Mémoires du duc d’A.“ beruhen nur teilweise auf seinen eignen Mitteilungen.

2) Louis Antoine de Bourbon, Herzog von, geb. 6. Aug. 1775 zu Versailles, ältester Sohn des Grafen Artois, nachherigen Königs Karl X., und Maria Theresias von Savoyen, folgte 1789 seinem Vater in das Exil nach Turin, stellte sich 1792 in Deutschland an die Spitze des Emigrantenkorps und begab sich nach dessen Auflösung nach Edinburg, darauf nach Blankenburg am Harz und endlich nach Mitau, wo er sich im Juni 1799 mit der einzigen Tochter Ludwigs XVI. vermählte. Im J. 1806 ging er nach England, wo die meisten der vor Napoleon flüchtigen Bourbonen auf dem Schloß Hartwell ein Asyl gefunden hatten. Als 1814 die Verbündeten in Frankreich einrückten, erschien er 2. Febr. im britisch-spanischen Hauptquartier zu St.-Jean de Luz und sammelte hier viele Anhänger des legitimen Königtums um sich. Unter dem Schutz des englischen Heers zog er 12. März in Bordeaux ein, proklamierte Ludwig XVIII. als König und verkündigte Amnestie, Religionsfreiheit und Abhilfe aller gerechten Beschwerden. Nach der Herstellung der Monarchie der Bourbonen ward er zum Admiral von Frankreich und Generalobersten der Kürassiere und Dragoner und nach Napoleons Rückkehr 1815 zum Generalleutnant von Frankreich ernannt. Er zog mit Linientruppen und Nationalgarden nach dem Süden gegen Napoleon, erkämpfte bei Montélimart und Loriol einige Vorteile über die Bonapartisten, wurde aber 6. April bei St.-Jacques zurückgedrängt, von seinen Truppen verlassen und bei Pont St.-Esprit von Grouchy gefangen. Nach sechs Tagen auf Befehl Napoleons freigelassen, ging er nach Madrid und bereitete an der französischen Grenze einen Einfall in Frankreich vor. Nach der Schlacht von Waterloo zog er in Bordeaux und Toulouse ein. Im J. 1823 erhielt er den Oberbefehl über die zur Unterdrückung der spanischen Revolution bestimmte französische Invasionsarmee, überschritt 6. April die Bidassoa und rückte ohne bedeutenden Widerstand 24. Mai in Madrid ein. Erst vor Cadiz mußte er 30. Aug. den Trocadero mit Gewalt erstürmen, wofür er zum Fürsten von Trocadero ernannt wurde. Vergeblich bemühte er sich, den Gewaltthaten der rachsüchtigen Royalisten zu steuern; selbst seine Proklamation von Andujar (8. Aug.) und sein Wunsch, daß eine allgemeine Amnestie erlassen würde, wurden nicht beachtet. Unter seines Vaters Karl X. Regierung war A., der nun den Titel Dauphin führte, der geheime Protektor ultraroyalistischer Umtriebe. Infolge der Julirevolution entsagte A. mit Karl X. 2. Aug. zu Rambouillet der Krone zu gunsten seines Neffen, des Herzogs von Bordeaux, begleitete Karl X. nach Holyrood, 1832 nach Prag und 1836 nach Görz, wo er unter dem Titel eines Grafen von Marnes in völliger Zurückgezogenheit lebte und 3. Juni 1844 starb. Das Privatleben des Herzogs war rein, seinen Charakter zierten Herzensgüte und Leutseligkeit.

3) Marie Thérèse Charlotte, Herzogin von, Gemahlin des vorigen, Tochter Ludwigs XVI. und der Marie Antoinette, geb. 19. Dez. 1778 zu Versailles, zeigte früh scharfen Verstand und Willenskraft. Im August 1792 mit in den Temple eingekerkert und 1793 von ihrer Mutter getrennt, sah sie die Häupter ihrer Eltern und ihrer Tante Elisabeth fallen und hatte die grausamste und unwürdigste Behandlung zu erdulden. Sie führte im Temple den Titel Madame Royale. Am 19. Dez. 1795 gegen die von Dumouriez an die Österreicher ausgelieferten Deputierten zu Basel ausgewechselt, begab sie sich nach Wien, wo sie von dem Reste des Vermögens ihrer Eltern und dem noch nicht bezahlten Teil der Mitgift ihrer Mutter lebte. Dort verlobte sie Ludwig XVIII., dem sie mit Liebe und Treue anhing, mit dem Herzog von A. Die Vermählung wurde 10. Juni 1799 in Mitau vollzogen. Am 4. Mai 1814 zog sie mit Ludwig XVIII. in Paris ein. Von den Royalisten als Märtyrerin hochgefeiert und durch ihre Leiden herb und streng geworden, bemühte sie sich doch, versöhnlich zu wirken. Bei der Rückkehr Napoleons war sie in Bordeaux und übernahm es, die Stadt in der Treue zu erhalten und Mittel zum Krieg zu schaffen. Ihre Energie erkannte Napoleon an durch die bekannten Worte: „Diese Herzogin ist der einzige Mann der Familie Bourbon“. Während der Hundert Tage lebte sie wieder in England. Während der zweiten Restauration war sie bei aller Versöhnlichkeit und Milde gegen Personen doch die eifrigste Verfechterin streng royalistischer Grundsätze. Beim Ausbruch der Julirevolution befand sich die Herzogin in einem Bad in Bourgogne. Sie ging von da nach England in ihre dritte Verbannung. Die Tugenden, welche diese im Leiden starke Frau seitdem entfaltete, machten sie des Beinamens der „modernen Antigone“ würdig, den Ludwig XVIII. ihr gegeben hatte. An der Seite ihres Gemahls lebte sie später in Görz, zuletzt mit ihrem Neffen, dem Grafen von Chambord, dessen Erziehung sie leitete, auf ihrer Herrschaft Frohsdorf bei Wiener-Neustadt, wo sie 19. Okt. 1851 starb.