Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Amphīktyōnen“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 1 (1885), Seite 502
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Amphīktyōnen. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 1, Seite 502. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Amph%C4%ABkty%C5%8Dnen (Version vom 31.10.2021)

[502] Amphīktyōnen (Amphiktionen, griech.), bei den alten Griechen die zu einer Amphiktyonie (Bundesgenossenschaft) zusammengetretenen Umwohner eines Heiligtums, deren Bundesgenossenschaften später auch politische Bedeutung erlangten. Solche Amphiktyonien gab es zu Argos, Kalauria, Onchestos, bei Haliartos, auf Delos etc.; die bedeutendste war aber die von Anthela bei den Thermopylen, deren Entstehung von der Mythe auf Amphiktyon, den Sohn des Deukalion und der Pyrrha, zurückgeführt wird, und deren Sitz durch den Einfluß der Dorier später nach Delphi verlegt wurde. Mitglieder dieses Bundes waren ursprünglich die Doloper, Thessalier, Änianen oder Ötäer, Magneten, Malier, Phthioten und Perrhäber, denen sich später auch die Phoker, Lokrer, Dorier, Böotier und Ionier in Attika und Euböa anschlossen, so daß die Zahl der Teilnehmer die heilige Zwölfzahl erreichte. Jeder der zwölf Stämme war durch zwei Gesandte bei den Versammlungen vertreten; ferner schickte jeder Tempelboten (Hieromnemonen), welche die Opfer darzubringen, und Pfortenredner (Pylagoroi), welche den Landfrieden zu erhalten hatten. Zweck des Bundes war zunächst Schutz der Heiligtümer der Demeter in Anthela und des Apollon zu Delphi, gemeinschaftliche Feier gewisser Feste, namentlich der pythischen zu Delphi, dann aber die Aufrechthaltung völkerrechtlicher Grundsätze, wie: daß keine der amphiktyonischen Städte von Grund aus zerstört, keiner das Wasser abgeschnitten und keine von dem gemeinschaftlichen Opfer und vom Bundesheiligtum ausgeschlossen werden dürfe. Man hielt jährlich zwei feierliche Versammlungen, im Frühjahr zu Delphi, im Herbst zu Anthela bei den Thermopylen; erstere fiel mit den Pythischen Spielen zusammen. Bei diesen Versammlungen wurden Streitigkeiten geschlichtet, bürgerliche und peinliche Verbrechen, besonders Vergehungen gegen das Völkerrecht und gegen den Tempel zu Delphi, bestraft. Wurde die einer Stadt auferlegte Geldbuße nicht bezahlt, so konnte der Bund mit Waffengewalt einschreiten. Dies zeigen die Heiligen Kriege (s. d.). Auch konnte die Versammlung einzelne Städte oder ganze Staaten vom Bund ausschließen. Mit der Zeit wuchs die Anzahl der teilnehmenden Staaten bis auf 30; immer aber wurden die Stimmen auf die ursprünglichen zwölf Stämme reduziert, so daß mehrere zusammen Eine Stimme hatten. Die Amphiktyonie hat von den ersten Anfängen hellenischer Zivilisation bis zum Untergang der griechischen Freiheit bestanden, obwohl unter manchen Veränderungen. Die ursprünglichen zwölf Völker blieben konföderiert bis zum zweiten (oder dritten) Heiligen Krieg, nach dessen Beendigung (346 v. Chr.) die Phoker ausgestoßen wurden; ebenso die Lakedämonier, weil sie die Phoker unterstützt hatten. Dafür traten unter Philipp die Makedonier ein. Später wurden die Phoker wieder aufgenommen, zum Lohn für die gegen die Gallier bewiesene Tapferkeit. Um 221 hatten sich die Ätolier des delphischen Tempels bemächtigt und die Amphiktyonie ganz verdrängt. Noch unter Roms Herrschaft führten die A. den Vorsitz bei den Pythischen Spielen. Zuletzt wird der Bund in der Zeit der Antonine erwähnt. Sein Aufhören fällt wohl mit dem Aufhören des delphischen Orakels zusammen. Der politische Einfluß der Amphiktyonie war in der Blütezeit Griechenlands nicht groß; wohl aber verdankt ihr Hellas mit dem Schutz seines größten und reichsten Orakels auch die Erhaltung der Einheit des religiösen Kultus. Vgl. Bürgel, Die pyläisch-delphische Amphiktyonie (Münch. 1876).